Der Tag nach der Maueröffnung – Als Deutschland die Richtung wechselte

Es war, als hätte jemand den Stecker aus einem ganzen System gezogen. Zwei Tage nach der Maueröffnung, am 11. November 1989, war das Land noch im Ausnahmezustand – zwischen Tränen, Trabbis und Taumel. Aber unter der Euphorie lag schon etwas anderes: das Erwachen der Politik. Der Moment, in dem klar wurde, dass sich Geschichte nicht einfach feiern lässt. Sie will gestaltet werden – und zwar sofort.

Die Mauer stand noch, doch niemand nahm sie mehr ernst. Die Angst war weg. Nach 28 Jahren war das Undenkbare greifbar geworden – und die Menschen verloren keine Sekunde. Sie fuhren, liefen, flogen in den Westen, als müssten sie all die verlorenen Jahre an einem Wochenende nachholen. Während die Schlagbäume hochgingen, liefen in Bonn die Telefone heiß. Helmut Kohl berief eine Sondersitzung ein, ließ Hilfsprogramme prüfen, sondierte Wege, sprach mit Egon Krenz am Telefon. Noch am selben Tag war klar: Hier passiert kein symbolischer Akt – das ist der Beginn einer tektonischen Verschiebung.

Und doch: Während die Menschen längst auf der Straße Geschichte schrieben, redeten die Regierenden noch in Formeln. Krenz sprach von „Souveränität“, nicht von Einheit. Die SPD forderte runde Tische, während draußen schon das Land im Quadrat lief. Die einen suchten nach Protokollen, die anderen nach Freiheit. Es war dieser Riss zwischen Bewegung und Verwaltung, zwischen Herz und Papier, der den November 1989 so elektrisierte.

Ich erinnere mich oft an diesen Moment, wenn Politik auch heute wieder überrascht tut von den Bewegungen auf der Straße. Geschichte kündigt sich nie höflich an. Sie steht plötzlich vor der Tür, ungeduldig, mit offenem Mantel und kaltem Wind im Gepäck. Der 11. November 1989 war genau so ein Tag: Das Volk war schon auf dem Weg – die Politik musste hinterherlaufen.