Der Kuss, der Geschichte schrieb – Vom Ritual der Macht zum Pop-Symbol der Freiheit

Es war kein Kuss aus Liebe. Als sich Leonid Breschnew und Erich Honecker am 5. Oktober 1979 auf dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld auf den Mund küssten, war das weniger Zuneigung als politisches Ritual. Es war der symbolische Höhepunkt eines Staatsbesuchs – ein Moment, in dem Macht, Abhängigkeit und Loyalität sich in einer einzigen, körpernahen Geste verdichteten. Der sogenannte „sozialistische Bruderkuss“ war längst zu einer Chiffre geworden: Er sollte den Zusammenhalt der sozialistischen Welt verkörpern, die angebliche Brüderlichkeit zwischen den Völkern und ihren Führern. Doch wer genauer hinsah, erkannte darin die Inszenierung eines Systems, das Nähe predigte und Distanz praktizierte.

Der Ursprung dieses Rituals lag weit zurück – in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts und in der orthodoxen Tradition des Osterkusses, einem Zeichen der Vergebung und Gleichheit. In der kommunistischen Symbolik wurde daraus eine weltliche Geste des „revolutionären Grußes“. Nach dem Tod Stalins erlebte der Kuss eine politische Wiedergeburt: Er wurde zum festen Bestandteil diplomatischer Treffen, ein Ritual, das die Machtverhältnisse im sozialistischen Block sichtbar machte. Wer wen küsste, wie fest, wie lange – all das war Teil der politischen Semiotik jener Ära.

Als sich Honecker und Breschnew 1979 küssten, war das mehr als Folklore. Es war eine Inszenierung der gegenseitigen Verpflichtung. Die DDR erhielt sowjetisches Öl und Uran, die Sowjetunion Maschinen und Schiffe – und beide bekamen das, was in einer zunehmend kriselnden Zeit am dringendsten gebraucht wurde: das Bild von Einigkeit. Der Pressefotograf Régis Bossu hielt den Moment fest. Sein Foto, veröffentlicht unter dem Titel Le Baiser („Der Kuss“), ging um die Welt. Es zeigte zwei alternde Männer, Lippen aufeinandergepresst, die Augen geschlossen – ein Akt von solcher Nähe, dass er zugleich Zärtlichkeit und Zwang ausstrahlte.

Elf Jahre später, im Frühjahr 1990, malte der russische Künstler Dmitri Wrubel das Motiv auf die Berliner Mauer. „Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben“, schrieb er darunter. Der Satz, ursprünglich eine persönliche Anspielung auf ein eigenes Beziehungsdrama, bekam plötzlich eine politische Tiefe. Der Kuss, der einst Bündnistreue besiegelte, war nun ein Sinnbild des Überdrusses, der Erstickung im Umarmungsgriff der Geschichte. Das Werk wurde zum bekanntesten Graffiti der East Side Gallery, zu einem Bild, das ironisch und ikonisch zugleich war. Wrubel kolorierte die Szene grell: Breschnews Haut in zartem Rosa, Honeckers Gesicht grünlich – eine groteske Wiederauferstehung der alten Männer, deren Liebe das Leben gekostet hatte, das sie bewahren wollten.

Heute ist der Bruderkuss längst entpolitisiert, aber nicht vergessen. Touristen posieren lachend davor, Nachahmungen fluten soziale Netzwerke. Der Kuss, der einst Zwangsritual war, wurde zum Selfie-Motiv einer freien Stadt. Wo früher Staatsmänner ihre Loyalität demonstrierten, küssen sich heute Fremde für Likes und Erinnerungen. Berlin hat die Geste verwandelt – von der Inszenierung der Macht zur ironischen Feier der Offenheit.

Und doch bleibt etwas Ambivalentes in diesem Bild. Es erinnert an eine Zeit, in der Rituale die Wirklichkeit überdecken sollten, in der Nähe zur Pflicht und Gehorsam zur Tugend erklärt wurden. Der Bruderkuss war ein Ritual der Kontrolle – eine politische Umarmung, die keine Distanz zuließ. Seine moderne Rezeption zeigt, dass Bilder ihre Bedeutung nicht verlieren, sondern wandern. Sie erzählen weiter, manchmal gegen ihren ursprünglichen Sinn.

Vielleicht ist das die eigentliche Ironie der Geschichte: dass eine Geste, die einst als Zeichen des Zusammenhalts gedacht war, heute als Symbol der Befreiung gilt. Der Bruderkuss lebt fort – als Popikone, als Mahnung, als Spiegel der Macht. Und er zeigt, dass selbst in der erstarrten Rhetorik der Politik ein Funke Menschlichkeit liegen kann – wenn auch einer, den die Geschichte erst freilegen musste.