Ein bewegendes Interview mit dem 96-jährigen Pastor Uwe Holmer auf dem YouTube-Kanal „Markus Ermert“ gewährt tiefe Einblicke in das Leben eines Pfarrers in der DDR, den Kampf um Glaubensfreiheit und die außergewöhnliche Entscheidung, Erich und Margot Honecker nach der Wende Obdach zu gewähren. Holmer, der seine Arbeit trotz staatlicher Repressionen als frei empfand, teilt seine Perspektive auf Freiheit, Vergebung und die befreiende Wirkung christlicher Werte.
Markus Ermert, der Interviewer, betont zu Beginn, dass Uwe Holmer mit 96 Jahren fast doppelt so alt ist wie er selbst und erinnert an die lange Zeit Holmers als Pastor in der DDR. Die Kirchenarbeit unter dem SED-Staat war bekanntermaßen nicht einfach, doch Holmer erzählt von einer besonderen Situation: Die Kirche erhielt aufgrund ihrer Geschichte als „Bekennende Kirche“ das Recht, in allen vier Sektoren zu arbeiten und ihr Eigentum zu behalten.
Der Kampf um den öffentlichen Raum und freie Glaubensausübung
Dennoch gab es ständige Auseinandersetzungen mit den Behörden, die der Kirche vorschrieben, ihre Arbeit auf den Kirchenraum zu beschränken. Holmer und seine Gemeinden ließen sich davon nicht beirren: „Wir wollten natürlich gerade raus“, erinnert er sich. So stellten sie missionarische Schaukästen an Bushaltestellen auf, verteilten Autogramme in Gärten und führten Hausbesuche sowie Bibelwochen durch. Als die Räumlichkeiten für Bibelwochen zu klein wurden und der Konsum die Nutzung verweigerte, weil „Kirche nicht rein darf“, nutzten sie einfach Scheunen von Bauern.
Holmer betont, dass sie ihre Arbeit als Pfarrer im Großen und Ganzen frei ausüben konnten, da ihr Fokus nicht auf Politik, sondern auf der Verkündigung des Evangeliums lag. Dieses Evangelium, so seine Überzeugung, verändere Menschen zum Guten und sei somit eine Form von „Politik“, die dem Staat dienlich war, indem sie „Ordnung schaffte“. Gleichzeitig gab es Spannungen, wo der Staat „atheistische Dinge“ verhängte, etwa bei der Jugendweihe, einem atheistisch geprägten Übergangsritus für Jugendliche.
Persönliche Opfer und Bildungshürden
Diese Spannungen hatten auch konkrete Auswirkungen auf Holmers zehn Kinder. Trotz guter und sehr guter Schulleistungen wurde keinem seiner Kinder der Besuch der oberen Schulstufe (Abitur) gestattet, weil sie nicht an der Jugendweihe teilgenommen hatten. „Das wollte die SED und zur Jugendweihe nicht zur Kooperation“, erklärt Holmer. Dies schränkte die freie Berufswahl erheblich ein. Holmers Kinder besuchten stattdessen eine Bibelschule, wo sie Sprachen wie Griechisch und Hebräisch lernen konnten. Zwei Jahre dieser Bibelschule wurden später von der Kirchlichen Hochschule in Leipzig für das Theologiestudium anerkannt.
Holmer beschreibt die Atmosphäre in der DDR als eine Mischung aus Vorsicht – man legte zum Beispiel Telefone in den Schrank, um Gespräche nicht abhören zu lassen – und der normalen Ausführung der eigenen Arbeit. Reisebeschränkungen waren eine Realität, doch Holmer und seine Familie blieben oft zu Hause und lernten, „dass man auch in der eigenen Schönheit leben kann“.
Die Aufnahme der Honeckers: Ein Akt der Vergebung
Nach dem Fall der Mauer leitete Holmer die Bodelschwinghschen Anstalten in Lobetal, eine Einrichtung für Obdachlose und Menschen in Not. Eine Anfrage aus Berlin im Januar 1990 sollte sein Leben und das seiner Einrichtung auf eine außergewöhnliche Probe stellen: Die Kirchenleitung fragte, ob er Erich und Margot Honecker aufnehmen könne.
Die Anfrage war eine Überraschung, zumal die Honeckers nach der Auflösung ihrer Funktionärssiedlung in Wandlitz keine andere Unterkunft fanden, da Erich Honecker fürchtete, seine Wohnung könnte von „aufgebrachten Bürgern gestürmt“ werden. Die Idee, die Honeckers in einer christlichen Siedlung mit Altenheimen unterzubringen, schien als Schutz vor dem öffentlichen Hass sinnvoll.
Holmer diskutierte drei Stunden lang mit seinen Mitarbeitern. Es gab Bedenken wegen der fragilen Bewohner (Kranke, geistig Behinderte, psychisch Schwache) und der erwarteten Proteste. Doch dann erinnerte sich das Team an das sonntägliche Gebet: „Vergeben uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“. Diese Frage – können wir das weiterhin beten, wenn wir es nicht tun? – überzeugte schließlich alle neun Direktionsmitglieder. Trotz Raummangels – es gab 60 Vorausanmeldungen für Altenheimplätze – fand Holmers Frau eine Lösung, indem sie zwei Zimmer im eigenen Haus freimachten.
Die Kinder Holmers, die selbst unter dem Regime gelitten hatten, reagierten erstaunlich. Statt Rebellion herrschte in der Familie eine „Grundstimmung der Dankbarkeit“ und Freude über die Wende und den Mauerfall, was die Vergebung erleichterte. Holmer selbst empfand keinen inneren Groll.
Die befreiende Kraft der Vergebung
Holmer erläutert seine Motivation zur Vergebung: „Wer selbst aus Gottes Vergebung gelebt hat, der kann vergeben und der muss vergeben“. Diese Überzeugung teilte er auch einem Fernsehteam mit. Daraufhin stürmte ein Mann voller Wut auf ihn zu und behauptete, Holmer habe kein Recht zur Vergebung, da er selbst nichts durchgemacht habe. Der Mann, der in Bautzen, einem der schlimmsten DDR-Gefängnisse, inhaftiert gewesen war, war zutiefst verbittert.
Holmer konfrontierte ihn mit seinen eigenen Erfahrungen: die verwehrte Oberschulausbildung seiner Kinder, Behinderungen im Kirchendienst und sogar Gefängnisandrohungen. Doch seine wichtigste Botschaft war: „Wenn Sie nicht vergeben, frisst Ihre Bitterkeit Sie auf“. Die Verbitterung würde ihn innerlich zerstören und ihm den Schlaf rauben. Diese Worte ließen den Mann nachdenken, bis er schließlich sagte: „Sie haben Recht, ich muss vergeben und ich will vergeben“.
Für Holmer ist dies der Kern der „Freiheit eines Christenmenschen“: die eigene Schuld zu erkennen und zu vergeben sowie anderen zu vergeben. Er praktiziert dies auch in seiner Ehe, indem er Ärger nicht über Nacht stehen lässt, sondern Konflikte „gleich vor der Sonne“ klärt, um das Herz nicht zu verhärten.
Erich Honecker selbst zeigte keine Dankbarkeit oder eine innere Wandlung. Er blieb ein überzeugter Marxist. Margot Honecker hingegen war überrascht und vielleicht auch nachdenklich, als Holmers Frau erwähnte, dass ihre Kinder wegen der Jugendweihe nicht auf die Oberschule durften – eine Anordnung, die Margot Honecker selbst zu verantworten hatte. Holmer betont, dass sie ihre Entscheidung zur Aufnahme der Honeckers nicht aus politischer oder geistlicher Übereinstimmung, sondern aus dem Willen zur Vergebung trafen.
Die bewusste Entscheidung „Ich vergebe“ ist laut Holmer eine Tat, die befreit. Vergebung ist nicht nur ein Wunsch, sondern ein aktiver Akt des Loslassens, der das eigene Herz von Bitterkeit befreit und zu wahrer Freiheit führt.