Das falsche Leben leben: Wie gesellschaftliche Erwartungen unsere Identität formen

In einem tiefgehenden Gespräch beleuchtet der Psychotherapeut und Bestsellerautor Dr. Hans-Joachim Maaz das Phänomen der Normopathie und des „falschen Lebens“, das viele Menschen dazu bringt, im Alltag zu funktionieren, sich aber innerlich leer zu fühlen. Er argumentiert, dass gesellschaftliche Erwartungen unsere Identität von Kindheit an prägen und emotionale Entfremdung zu einer weit verbreiteten Normalität geworden ist.

Die Wurzeln des „falschen Lebens“ und emotionale Entfremdung
Laut Dr. Maaz beginnt das „falsche Leben“ schon in der Kindheit. Kinder lernen sehr früh, wie sie sich verhalten müssen, um Zuwendung und Bestätigung von ihren Eltern und der Gesellschaft zu erhalten. Dies geschieht oft unkritisch und mündet in eine Selbstentfremdung, bei der das Kind nicht dazu ermutigt wird, herauszufinden, „wer bin ich denn wirklich“, sondern lernt, so zu sein, wie es gewünscht wird. Eltern handeln dabei oft nicht aus böser Absicht, sondern weil sie wissen, dass Anpassung dem Kind Schwierigkeiten in der Schule oder im Kindergarten erspart.

Diese frühkindliche Prägung führt dazu, dass viele Menschen später ein Leben führen, das sich nicht authentisch anfühlt – ein „falsches Leben“, das Dr. Maaz als ständigen, permanenten Stressfaktor identifiziert, der krank machen kann. Erkrankungen werden so zu einem „Feedbacksystem“, das auf das falsche Leben hinweist und ein „Fenster der möglichen Erkenntnis“ öffnet, was uns wirklich krank gemacht hat.

Normopathie: Wenn die Gesellschaft sich selbst täuscht
Der Begriff der Normopathie beschreibt einen angepassten Menschen, dessen Leben davon abhängt, Erwartungen zu erfüllen. Überträgt man dies auf die Gesellschaft, spricht Maaz von einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung, die nicht mehr als problematisch erkannt wird, weil die Mehrheit sich so verhält. Das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und Anerkennung übt einen starken Verführungsdruck aus, „hochabnorme Dinge mitzumachen“.

Dr. Maaz sieht Normopathie in der Geschichte wiederkehren: vom Nationalsozialismus über den DDR-Sozialismus bis hin zur heutigen finanzkapitalistischen Normopathie, in der menschliche Konkurrenz über Verbundenheit dominiert. Symptome dieser Normopathie sind Narzissmus, übermäßiges Leistungsstreben und Profitgier, die als Kompensation für ein tief sitzendes narzisstisches Defizit – eine Unsicherheit des Selbstwertes – dienen. Während gesunder Egoismus wichtig ist, um für sich selbst zu sorgen, treibt der Narzissmus zu einem Suchtverhalten nach immer mehr Geltung, Geld und äußerem Erfolg an, da diese keinen echten Ersatz für Liebe bieten.

Die Bedeutung der „Omegas“ und der echten Kommunikation
In jeder Gruppe gibt es nach Maaz „Omegas“ – Außenseiter, die kritisch sind und oft Wahrheiten vertreten, die die Mehrheit nicht sehen will. Er betont, wie wichtig es ist, diesen Stimmen zuzuhören, da sie Aufschluss darüber geben können, worin eine Gesellschaft normopathisch geworden ist. Als Beispiel nennt er die kritischen Fragen während der Corona-Pandemie, die oft ausgegrenzt wurden, anstatt als gesunder Teil eines gesellschaftlichen Diskurses akzeptiert zu werden.

Die gesündeste Form sozialer Kommunikation erfordert laut Dr. Maaz, dass man anfängt, von sich selbst zu sprechen – von persönlichen Erfahrungen, Ängsten und Unsicherheiten, statt nur über politische oder ideologische Argumente. Wenn Menschen ihre persönlichen Beweggründe offenlegen, können sie trotz unterschiedlicher Meinungen Verständnis füreinander entwickeln und Freundschaften oder Kooperationen aufrechterhalten.

Wege zur Heilung und Selbstfindung

Für die Heilung vom „falschen Leben“ und die Entwicklung eines authentischen Selbst schlägt Dr. Maaz mehrere Schritte vor:

• Akzeptanz des kritischen Gefühls: Zuerst muss man zulassen, dass man sich möglicherweise auf dem falschen Weg befindet.

• Selbsterfahrung: Dies beinhaltet das Sammeln vielseitiger Informationen aus unterschiedlichen Quellen, um eine selbstkritische Haltung zu dem zu entwickeln, was als richtig angesehen wird. Er warnt vor einseitiger Information und betont die Notwendigkeit eines gesunden Misstrauens gegenüber politisch oder medial verbreiteten Aussagen.

• Kommunikativer Austausch: Die Beziehungskultur zu pflegen, indem man Gelegenheiten schafft, sich mit anderen Menschen auszutauschen, die bereit sind zuzuhören und zu verstehen, anstatt zu belehren oder zu kritisieren. Auch im Freundeskreis kann man sich bewusst mit anderen Meinungen auseinandersetzen, um die eigene Perspektive zu erweitern.

• Bewusstes Handeln: Es geht darum, herauszufinden, was man leisten will und leisten kann, anstatt nur leisten zu müssen. Sich durch Arbeit oder Tätigkeit selbst zu verwirklichen, kann eine Lebensfreude sein. Methoden wie Meditation können dabei helfen, nach innen zu gehen und zu spüren, was wirklich zu einem passt.

• Elternschaft: Eltern können ihren Kindern helfen, indem sie zuerst sich selbst verstehen und ihre eigenen Defizite und Prägungen reflektieren, anstatt diese unbewusst auf die Kinder zu übertragen. Es geht darum, dem Kind ein Gefühl für die eigenen Grenzen zu vermitteln, anstatt das Kind für übertriebene Forderungen verantwortlich zu machen.

Dr. Maaz betont, dass die Reise zur Selbsterkenntnis ein niemals endender lebenslanger Prozess ist. Wichtig ist das Bemühen, sich selbst und andere immer besser zu verstehen, auch wenn man nicht immer einer Meinung ist. Dies ist die Grundlage für eine gesunde Gesellschaft und persönliche Erfüllung.

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