Schwerin, 1990. Während vor 40 Jahren – also 1949 – noch Lieder der Freien Deutschen Jugend von einem „Aufbruch in ein neues Leben“ und dem Wunsch nach Einheit der Millionen erklangen, offenbart sich heute, nach der Grenzöffnung, eine ernüchternde Realität, die viele Bürger in tiefes Nachdenken und Erschütterung versetzt. Die Stadt, einst Schauplatz von Liedern über den Aufbruch, kämpft nun mit massiven Alltagsproblemen, die überhandgenommen haben und den Verdruss der Bürger stetig vergrößern.
Ein Atemzug voller Rauch und Asche: Umwelt und Infrastruktur am Limit
Offiziell mag es in Schwerin keinen Smog geben, wie der zuständige Stadtrat erklärt. Doch der tägliche Blick aus dem Hotelfenster während der Dreharbeiten zeichnet ein anderes Bild: Die Schweriner klagen häufig über schlechte Luft, eine drückende Atmosphäre und zu wenig Sauerstoff. Rauch, Auspuffgase, Kohlenstaub und Asche schlagen sich täglich in der Stadt nieder, besonders im Winter, und die Bewohner haben sich an diesen Schmutz gewöhnt.
Die Ursachen sind oft hausgemacht und in der maroden Infrastruktur verwurzelt. Ein Besuch auf dem Hof der Stadtwirtschaft enthüllt das Ausmaß des Verfalls: Müllfahrzeuge sind bis zu 17 Jahre alt und längst abgeschrieben, obwohl sie spätestens nach fünf Jahren ausgemustert werden müssten – aus verkehrstechnischen Gründen und zur Sicherheit. Ironisch bemerken die Arbeiter, sie hätten dieser alten Technik ein „zweites und drittes Leben eingehaucht“, weil „es die Partei so wollte“. Von sieben Müllfahrzeugen ist aktuell nur eines einsatzbereit. Der Grund? Defekte wie eine Kopfdichtung, für die ein Wagen bereits zwei Wochen in der Werkstatt steht, da Ersatzteile fehlen. Ein erst ein Jahr alter Wagen wartete wegen einer Kopfdichtung sogar drei Jahre auf Reparatur. Diese Zustände führen dazu, dass Müll nicht abgeholt werden kann und Bürger zunehmend schimpfen, woraufhin die Mitarbeiter nur vertrösten können. Auch bei der Arbeitskleidung hapert es: Produktionsarbeiter erhalten nur einmal im Jahr einen Anzug, der oft nur ein halbes Jahr hält; Winterhandschuhe gibt es im Sommer und umgekehrt.
Wohnungsnot und undurchsichtige Vergabe: Ein Kampf um die eigenen vier Wände
Die Wohnungssituation in Schwerin ist katastrophal. Während das SED-Wohnungsbauprogramm seit 1972 „sicher, trocken und warm“ als Devise ausgab und offiziell für jeden zweiten Schweriner erfüllt wurde, kämpfen unzählige Menschen weiterhin um eine angemessene Bleibe. Ein 22-Jähriger lebt mit seinem 25-jährigen Bruder und den Eltern in einem halben Zimmer, da es „aussichtslos“ ist, eine eigene Wohnung zu finden – man müsse angeblich mindestens 27 Jahre alt sein, um eine Chance zu haben.
Die Probleme sind vielschichtig: Neben einem absoluten Mangel an Wohnraum beklagen Bürger „Schiebereien“ und Vetternwirtschaft bei der Wohnungsvergabe. Es wird berichtet, dass ehemalige Arbeitskollegen innerhalb weniger Wochen Wohnungen erhielten, während andere jahrelang warten. Viele Wohnungen in Schwerin stehen leer, werden aber angeblich als „vergeben“ deklariert, obwohl sie unbewohnt bleiben. Eine Soldatin äußert ihre Frustration über die Inkompetenz der Verantwortlichen, die einfache Lösungen blockieren, obwohl mit nur einer frei gewordenen Wohnung (z.B. durch Ausreise) gleich drei Wohnungsprobleme gelöst werden könnten. Eigeninitiative ist oft der einzige Weg, doch auch hier stoßen Bauherren auf unüberwindbare Hindernisse: Es fehlen Nägel, Mauersteine, Dachziegel, Zement und vor allem Holz. Beziehungen über Bekannte sind entscheidend, um überhaupt Fortschritte zu erzielen. Der Staat stellt zwar großzügig Geld für Material und Arbeitszeit zur Verfügung, doch wenn die Materialien nicht lieferbar sind, hilft das wenig. Städtische Bauprojekte sind oft von langen Verzögerungen betroffen, da zum Beispiel Dachziegel wochenlang auf dem Bürgersteig lagern, weil das Holz für den Dachstuhl fehlt. Die Planwirtschaft der DDR konzentrierte sich auf Neubauten, während die Renovierung alter Bausubstanz als „zu teuer, zu aufwendig und langwierig“ galt.
Gesundheitswesen in Not: Unvollendete Bauten und fehlende Grundversorgung
Auch das Gesundheitswesen ist schwer angeschlagen. Versprechungen, die in anderen Bereichen nur zu Vertröstungen führten, bedeuten hier für Patienten monate- bis jahrelange Wartezeiten bei notwendigen Operationen. In der Klinik für Orthopädie wird seit Jahren an einem neuen Operationstrakt gebaut, doch seit zwei Jahren fehlen drei Fenster, die eigentlich geliefert werden sollten. Ein Handwerker, der seit 28 Jahren in der Klinik arbeitet, berichtet von extremen Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Medikamenten, selbst gewöhnliche Präparate sind oft nicht erhältlich.
Auf einer weiteren Baustelle im Krankenhaus, die seit sechs Jahren ruht und ein „gut gehütetes Geheimnis“ war, sollten Patientenzimmer entstehen, die bis heute dringend benötigt werden. Die Zustände sind teils prekär: Patienten müssen für Röntgenaufnahmen oder Spezialuntersuchungen bei Wind und Wetter über das freie Gelände transportiert werden, da seit 21 Jahren ein dringend benötigter Fahrstuhl fehlt. Es mangelt an grundlegenden Dingen wie Tellern, Töpfen und Warmhaltegeschirr. Der Personalmangel zwingt dazu, ungelernte Hilfskräfte aus der Armee einzusetzen.
Die „Gängelei“ der Planwirtschaft und eine neue Transparenz
Die tiefgreifenden Probleme der Stadt spiegeln die Dysfunktion der zentralen Planwirtschaft wider. Waren des täglichen Bedarfs, wie frischer Käse aus Holland, kommen unangekündigt an und stehen stunden- oder tagelang im Regen, da Lagerräume fehlen oder überfüllt sind. Der Transportweg von Lebensmitteln ist absurd: Der Käse wird zunächst in ein Außenlager transportiert, dann wird entschieden, welcher Laden wie viel Käse erhält, und erst dann kommt er zurück zur Einlagerung und schließlich in die Geschäfte. Produkte, die kaum nachgefragt werden, wie bestimmte Spirituosen und Süßigkeiten, werden weiterhin in unverminderter Menge produziert, da es kaum Bedarfsforschung gibt.
Ein Lagerleiter beklagt seit Jahren Desorganisation, Fehlplanungen und mangelnde Sauberkeit und Hygiene. Vorschläge zur Verbesserung werden aus „Kapazitätsgründen“ abgelehnt. Er berichtet, dass das Gesundheitsamt unregelmäßig kontrolliert und dass neu eingestellte Mitarbeiter oft keinen Gesundheitspass vorlegen müssen. Der Fachdirektor für Warenbewegung bezeichnet die Lebens- und Arbeitsbedingungen für seine Mitarbeiter als „katastrophal“. Er hofft auf Veränderungen, aber nur, wenn Betriebe eigenverantwortlich wirtschaften und von jeder „Gängelei“ abgehalten werden. Die starren Pläne und Verträge der Planwirtschaft hätten zu dieser Situation geführt; das Wort „Gängelei“ sei neu im Sprachgebrauch, aber die Realität habe gezeigt, wohin es führt.
Die Medien, die jahrelang „nur die guten Seiten dieser Gesellschaft“ zeigten und sich hinter einer Medienpolitik versteckten, die das Positive hervorhob, sehen sich nun einer Flut von Problemen gegenüber. Nachrichten, die früher unterdrückt wurden, wie die der Behindertenbewegung, kommen jetzt ans Licht. Journalisten, die die Schere zwischen Realität und Darstellung wahrnahmen, beginnen nun, die Dinge „mit anderen Augen zu sehen“, was eine „Erschütterung“ auslöst.
Die Schweriner sind geplagt von „Versprechungen, Versprechungen, immer nur Versprechungen“, die zu nichts führten. Viele Menschen, wie ein Busfahrer, der 30 Jahre in Schwerin gelebt hat, ziehen nun die Konsequenzen und verlassen die Stadt für Arbeit und Wohnraum in Westdeutschland, etwa in Kassel oder Lübeck. Doch inmitten dieser schwierigen Realität bleibt die Hoffnung bestehen, die man „nicht aufgeben darf“. Das Leben muss anders werden – ohne Hunger, ohne das, was diese Zeit prägt. Es kommt auf jeden Einzelnen an, um in ein neues Leben aufzubrechen.