Riesa, eine Stadt im Osten Deutschlands, steht exemplarisch für die tiefgreifenden Umbrüche der Wendezeit. Das Projekt „Riesaer*innen auf dem Weg in die deutsche Einheit“, eine Kooperation des Stadtmuseums Riesa, der Stadt Riesa und des Sprungbrett e.V., hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger in dieser Zeit nachzuhalten und zu beleuchten, was diese Wende mit ihnen gemacht hat und welche Spuren sie bis heute hinterlassen hat. Das Projekt entstand aus der Feststellung, dass viele Berichte über die Wende zwar existieren, aber die Perspektive der Menschen vor Ort fehlte.
Von der Hoffnung auf eine bessere DDR zur radikalen Einheit
Im Frühjahr 1989 spitzte sich die Lage zu, und viele hofften, dass sich etwas ändern würde. Das anfängliche Ziel im Neuen Forum Riesa war nicht die Wiedervereinigung, sondern „eine andere, eine bessere DDR“. Man wollte, dass die Versprechen des Sozialismus, wie ein gleiches Miteinander und ein Leben ohne Ausbeutung, tatsächlich umgesetzt werden. Doch diese Ideen eines Reformsozialismus waren schnell vom Tisch, da sie als „anstrengend“ empfunden wurden. Stattdessen dominierte bald der Ruf „Wir sind ein Volk“, der die schnelle deutsche Einheit forcierte.
Dies überraschte viele Menschen, die eigentlich mit kleineren Veränderungen wie Pressefreiheit oder Teilliberalisierungen gerechnet hatten. Ein Zeitzeuge beschreibt, wie ihn die Grenzöffnung regelrecht überrannte, da er noch in den Diskussionen um innere Reformen gefangen war. Die Realitäten wurden schnell von den Wünschen der Menschen überholt, die in Schlangen vor Banken standen, um ihr Umtauschgeld zu bekommen, während Demonstrationszüge kürzer wurden als die Warteschlangen.
Der Preis des Wandels: Arbeitslosigkeit und Vertrauensverlust
Die Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 wird im Projekt als „radikalste Schocktherapie“ beschrieben, die die DDR-Wirtschaft über Nacht zu Boden warf. Betriebe mussten plötzlich auf dem Weltmarkt bestehen, ihre Produkte wurden durch den Wegfall der eigenen Währung drei- bis vierfach teurer, und die internen sowie osteuropäischen Absatzmärkte brachen zusammen. Das Riesaer Stahlwerk, das einst 12.000 Beschäftigte hatte und die Stadt prägte, ist ein markantes Beispiel für diesen Zusammenbruch. Viele Mitarbeiter erlebten den Abbau ihrer Arbeitsstätten unter Tränen. Riesa, einst eine Stadt mit 53.000 Einwohnern durch Zuzug von Arbeitskräften, ist heute wieder bei knapp 30.000 Einwohnern angelangt, dem Niveau vor der Nachkriegsindustrialisierung.
Die Wende brachte viel Frustration, viel Arbeitslosigkeit und viel Wegzug mit sich. Zahlreiche Menschen, die im Sozialismus ihre Karriere begonnen hatten und Wertschätzung durch ihre Arbeit erfuhren, konnten den Verlust ihres Arbeitsplatzes nicht überwinden. Viele Qualifikationen wurden nicht anerkannt; so wurde einem Diplomingenieurökonom konkret gesagt: „Wir brauchen sie nie, ihr rotes Sockenstudium wird bei uns nie anerkannt“. Die Menschen mussten alles neu lernen, waren überfordert und fühlten sich oft „auf gut Deutsch verarscht“, beispielsweise beim Abschluss neuer Versicherungen. Diese Erfahrungen des Überfordertseins und der Ungerechtigkeit hatten oft keinen Raum zur Verarbeitung.
Unverarbeitete Wunden und das „Ostbewusstsein“
Ein zentrales Ergebnis des Projekts ist, dass die Wendezeit tiefe Wunden bei den Menschen hinterlassen hat und viele dieser Erfahrungen „nicht verarbeitet sind“. Diese Frustration sitzt tief und blockiert oft den Blick nach vorne. Das Misstrauen gegenüber Institutionen heute kann oft auf diese Wendeeffahrungen zurückgeführt werden. Der Unterschied zwischen Ost und West wird als massiv beschrieben: In Westdeutschland änderten sich lediglich Postleitzahlen, während in Ostdeutschland „einfach alles“ von heute auf morgen anders wurde.
Auch die „Nachwendekinder“ sind von strukturellen Unterschieden betroffen, wie weniger Großunternehmen, geringeres Erbe und eine andere Sozialisation, beispielsweise durch selbstverständlich arbeitende Mütter. Diese unterschiedlichen Lebensrealitäten führen dazu, dass sich viele ältere Ostdeutsche mit zunehmendem Alter „desto ostdeutscher“ fühlen. Es besteht ein Nachholbedarf im Gespräch über Ostdeutschland, um zu verstehen, was es bedeutet, ostsozialisiert zu sein und wie die Wende Beziehungen erschwerte.
Kulturarbeit und das Jolio Curie Haus: Geschichten bewahren
Um diesen Frust und die unverarbeiteten Geschichten aufzufangen, wurde im Rahmen des Projekts eine Sonderausstellung im Stadtmuseum Riesa konzipiert, die sich mit der Geschichte des Jolio Curie Hauses (eines ehemaligen Clubhauses) befasst. Dieses Haus war einst ein zentraler Ort der Kulturarbeit in Riesa mit bis zu 300 Veranstaltungen jährlich und einem eigenen Volkskunstansemble. Die Ausstellung beruht maßgeblich auf Objekten und Geschichten, die von Riesaer Bürgerinnen und Bürgern beigesteuert wurden. Die Resonanz bei der Eröffnung war überwältigend, was zeigt, wie sehr den Menschen, die dieses Haus aktiv erlebt haben, dessen Geschichte am Herzen liegt.
Die Ausstellung verfolgt nicht nur eine „reine Lobhudelei“, sondern beleuchtet auch, dass Kunst und Kultur in der DDR-Zeit nicht frei waren und immer in einem Kontext standen. Die Zeitzeugeninterviews, in denen oft auch kontroverse Themen angesprochen wurden, tragen wesentlich zu diesem vielfältigen Bild bei.
Die Bedeutung der Wende für die Zukunft
Trotz der negativen Erfahrungen ist es entscheidend, den „emanzipatorischen Aspekt“ des Herbstes 1989 hervorzuheben, der den Menschen Mut zur Selbstbestimmung gab und einen „Widerstand von unten“ gegen bestimmte politische Entwicklungen darstellte. Dieses Wissen ist insbesondere bei der jüngeren Generation oft kaum bekannt.
Es gibt nach wie vor signifikante Unterschiede zwischen Ost und West, wie geringere Löhne und Gehälter bei längerer Arbeitszeit im Osten. Auch die Besetzung von Führungspositionen spiegelt noch immer keine proportionale Vertretung von Ostdeutschen wider. Das Projekt betont die Notwendigkeit, dass Ostdeutsche, besonders in Zukunftsprojekten wie in der Lausitz oder Riesa, „wirklich eine Rolle spielen“.
Das Verständnis dieser unterschiedlichen Perspektiven und die Fähigkeit, darüber zu reden, ohne sofort von Spaltung zu sprechen, ist entscheidend für ein „wiedervereinigtes happy Land“. Die Erfahrungen der Wendezeit können als „krasser Erfahrungsschatz“ dienen, aus dem Deutschland insgesamt lernen kann, beispielsweise in der Familienpolitik oder beim Hinterfragen des Wirtschaftssystems. Es geht darum, nicht alles Gute aus der DDR wegzuwischen, sondern genauer hinzuschauen und zu prüfen, inwiefern diese Erfahrungen „wertvoll“ sein können, ohne das geschehene Unrecht zu negieren. Letztlich soll der Raum für diese Geschichten dazu dienen, „Frieden mit dieser Wendeeffahrung“ zu finden und Schlussfolgerungen für das heutige politische und gesellschaftliche Leben zu ziehen.