Mitteldeutschlands Chemiewerke kämpfen mit der Last der Geschichte

In Mitteldeutschland, wo heute moderne Chemieparks florieren und Arbeitsplätze sichern, liegt eine düstere Vergangenheit begraben. Die Region um Leuna, Böhlen, Zeitz und Schkopau war im Zweiten Weltkrieg eine strategisch entscheidende Hochburg der Kriegsindustrie. Doch die massiven Bombenangriffe der Alliierten hinterließen nicht nur Zerstörung, sondern auch ein Erbe, das die Menschen bis heute beschäftigt: unzählige Blindgänger und massive Bunkeranlagen, deren Geschichten und Gefahren über 75 Jahre nach Kriegsende weiterhin präsent sind.

Das Fundament des Krieges: Treibstoff und Kautschuk aus Mitteldeutschland
Lange vor dem eigentlichen Kriegsbeginn, wurden in Mitteldeutschland ab 1935 die Grundsteine für eine Chemieindustrie gelegt, die das Dritte Reich unabhängiger von kritischen Importen machen sollte. Nirgendwo sonst in Deutschland produzierte man zu dieser Zeit so viel Treibstoff und Kautschuk. Die Werke in Leuna, die bereits seit dem Ersten Weltkrieg Sprengstoff herstellten, waren entscheidend für die Gewinnung von synthetischem Benzin aus Kohle – eine kostspielige, aber kriegswichtige Produktion, die von den Nazis mit Millionen Reichsmark subventioniert wurde.

Ein Jahr nach der Grundsteinlegung für das Treibstoffwerk in Böhlen-Lippendorf im März 1935, begannen im April 1936 die Bauarbeiten für die Buna-Werke in Schkopau. Hier entstand eine großtechnische Versuchsanlage, die durch ein weltweit neues Verfahren die Massenherstellung von Synthese-Kautschuk für die Reifen von Kriegsfahrzeugen ermöglichte. Weitere kriegswichtige Betriebe, darunter ein Treibstoffwerk in Lützkendorf bei Krumpa (ab Oktober 1936) und ein weiteres in der Nähe von Zeitz (ab Mai 1937), folgten. Hermann Göring persönlich war für die Planung und den Bau dieser neuen Chemiefabriken verantwortlich, deren Hauptgebäude in rotem, hart gebrannten Klinker errichtet wurden, um ewig zu halten. Diese Chemiebetriebe wurden bis Kriegsende die größten Verbraucher der mitteldeutschen Braunkohle und waren ein entscheidender Baustein für die Kriegsambitionen der Nationalsozialisten. Schon im August 1939 flogen deutsche Bomber mit Kerosin aus Leuna über Warschau.

Die „Flakhölle Leuna“: Ziel der alliierten Bomben
Die strategische Bedeutung der mitteldeutschen Chemieindustrie machte sie ab 1944 zur Achillesferse der Wehrmacht und zu primären Zielen der alliierten Bomberflotten. Obwohl die Werke aufgrund ihrer Lage in Mitteldeutschland und ihrer Entfernung zu westeuropäischen Kriegsgegnern zunächst als sicher galten, begannen am 12. Mai 1944 mit der sogenannten Treibstoffoffensive massive Luftangriffe. Über 900 Bomber teilten sich die Ziele auf Leuna, Krumpa, Böhlen und Zeitz auf, wobei auch umliegende Dörfer in den Fokus gerieten. Während Großstädte wie Dresden oder Chemnitz rund 7.000 Tonnen Bombenlast und Magdeburg oder Leipzig etwa 10.000 Tonnen abbekamen, lagen die Werke bei Zeitz, Krumpa und Böhlen mit rund 5.000 Tonnen nur wenig dahinter. Leuna und Merseburg wurden mit insgesamt 18.000 Tonnen sogar weit übertroffen. Nirgendwo sonst in Mitteldeutschland liegt so viel Munition im Boden wie hier.

Zum Schutz der kriegswichtigen Industrie und deren Führungspersonal wurde ab 1940 das größte zweckgebundene Bauprogramm der Menschheitsgeschichte im Reich umgesetzt: der Bau von Bunkern. In Leuna waren sieben Hochbunker geplant, einer davon sollte Platz für 800 Menschen bieten. Diese massiven Stahlbetonkonstruktionen, oft mit Wänden von über zwei Metern Dicke, sollten die Werksführung bei Luftangriffen schützen, damit die Produktion weiterlaufen konnte. Andreas Bock, ein erfahrener Feuerwehrmann in Böhlen-Lippendorf, forscht seit Jahrzehnten an diesen Bunkern, die er als „Zeugnis einer Zeit, als hier Weltgeschichte entschieden wurde“, bezeichnet. Er bewundert die Belüftungsanlagen, die sowohl elektrisch als auch über Muskelkraft betrieben werden konnten, sowie die massiven Türen und Schleusen, die für die Sicherheit der Kommandozentrale bei Luftangriffen entscheidend waren.

Doch nicht alle fanden Schutz in diesen massiven Bauwerken. Tausende Zwangsarbeiter schufteten, um die Riesen aus Beton zu bauen, mussten aber während der Bombardements draußen bleiben. Für die Zivilbevölkerung, wie die Großmutter von Matthias Koch aus Mücheln, gab es keine solchen Hochbunker; sie mussten sich in Eigeninitiative Luftschutzstollen graben. Dafür waren pro Platz etwa 75 Stunden Arbeit nötig; eine vierköpfige Familie brauchte so rund 300 Stunden, um sich das Recht auf einen Platz zu sichern.

Zusätzlich zu den Bunkern entstand der „Mitteldeutsche Flakgürtel“ – eine riesige Zone überwachten Flugraums mit über 1.000 schweren und hunderten kleineren Flugabwehrgeschützen, die sich von Halle über Merseburg bis nach Zeitz zog. Die Bomberpiloten nannten die Region aufgrund der enormen Dichte der Flugabwehr „Flakhölle Leuna“. Doch trotz der 1.100 Geschütze und der Überlappung der Schussfelder waren die Abwehrmaßnahmen am Ende wirkungslos, als die Flotten der Alliierten mit bis zu 1.000 Flugzeugen gleichzeitig einflogen. Die Flieger drangen immer weiter nach Osten vor, und am 8. auf den 9. April 1945 wurde das letzte produzierende Treibstoffwerk außer Gefecht gesetzt.

Das bleibende Erbe: Blindgänger und Altlasten
Die Bombardierungen, die vor über 75 Jahren stattfanden, beschäftigen die Region bis heute. Besonders in Leuna, wo der Chemiestandort per se kampfmittelbelastet ist. Schätzungen zufolge sind bis zu 20% der auf Leuna abgeworfenen Bomben Blindgänger – das wären 3.600 Tonnen. Bei sämtlichen Erdarbeiten in den wachsenden Chemieparks muss der Kampfmittelräumdienst hinzugezogen werden. Andrea Spitzer, Leiterin des Katastrophenschutzes im Saalekreis, muss regelmäßig Evakuierungen anordnen, wenn Munition beseitigt werden muss. Zehn-Zentner-Bomben, Luftminen, sogar alte Flakgeschütze – es gibt fast nichts, was nicht schon aus dem Boden geholt wurde. Die Entschärfung ist ein enormes Wagnis, besonders angesichts der vielen Rohrleitungen mit brennbaren Materialien in einem aktiven Chemiepark. Selbst eine kontrollierte Sprengung, wie sie Andreas Bock erlebte, kann noch in 800 Metern Entfernung Fenster zerbersten lassen.

Ein Ingenieur in Zeitz, Christian Schulz-Giesdorf, wird sich nach eigener Aussage noch sein ganzes Leben mit den Altlasten auf dem ehemaligen Rangierbahnhof des Hydrierwerks beschäftigen müssen. Dort sind erhebliche Mengen Öl und Benzin in den Boden gesickert – ein Erbe des Transports von Treibstoff an die Front. Diese Altlasten müssen über ein kilometerlanges Drainagenetz gesammelt und gereinigt werden, ein Prozess, dessen Ende nicht absehbar ist und vielleicht noch Generationen beschäftigen wird. Karl Mück, ebenfalls ein Ingenieur aus Zeitz, erinnert sich an die mühevolle Arbeit, die massiven Bunker nach dem Krieg abzureißen; sie waren so stabil gebaut, dass sie nur durch spektakuläre Abkipp-Verfahren entfernt werden konnten. Einige Bunker waren so massiv, dass die Versuche der DDR, sie zu entfernen, aufgegeben wurden, weil der Aufwand zu immens war.

Erinnerung und Zukunft
Trotz der Kriegslasten wurde die Region nach dem Krieg wiederaufgebaut. Unter sowjetischer Besatzung und später in der DDR wurden die Werke schnell wieder hochgefahren, um dem „Klassenfeind Paroli zu bieten“. Heinz Remann, ein „Buna-Urgestein“ und Archivar, der 46 Jahre lang im Werk tätig war, erlebte diesen Wiederaufbau mit und war stolz auf das, was aus dem Werk gemacht wurde. Heute sind es moderne Industriegebiete, die auf der gewachsenen Infrastruktur aufbauen.

Doch das Thema Blindgänger wird nach Schätzungen noch 150 Jahre eine Rolle spielen. Menschen wie Matthias Koch, dessen Familiengeschichte eng mit dem Krieg um Leuna verbunden ist, und Andreas Bock sehen es als ihre Aufgabe, die Spuren zu suchen und die Erinnerungen an den Krieg und seine Ursachen zu bewahren. Sie appellieren an junge Menschen, die Geschichte zu hinterfragen, die Großeltern zu fragen und Zusammenhänge zu erkennen. Denn nur so kann verstanden werden, dass der Zweite Weltkrieg in Mitteldeutschland nicht nur zu Ende ging, weil Hitler der Treibstoff ausging, sondern hier auch die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass er ihn wagen konnte. Die Schatten der Vergangenheit sind lang, und ihre Aufarbeitung ist eine fortwährende Aufgabe für die gesamte Region.