Die vertuschte Tötung des 15-jährigen Heiko Runge an der innerdeutschen Grenze

Halle/Benckenstein – Es war ein trüber, nieseliger Tag am 8. Dezember 1979, als Heiko Runge, ein 15-jähriger Junge aus Halle-Neustadt, sein Elternhaus verließ. Knapp zehn Stunden später war er tot, erschossen an der deutsch-deutschen Grenze. Sein Tod war kein Unfall, wie die DDR-Behörden es darstellten, sondern das Ergebnis eines skrupellosen Versuchs der Staatssicherheit, die „Republikflucht eines Kindes“ zu vertuschen – ein Fall, der bis heute schmerzlich nachwirkt.

Heiko Runge, dessen Vater früh verstarb und dessen Mutter zwölf Stunden täglich in den Buna-Werken arbeitete, war zusammen mit seinem Freund Uwe aufgewachsen. Beide galten nicht als besonders gute Schüler. Ihr Traum war es, die Welt zu sehen, weit weg von der DDR. Heiko hatte ursprünglich davon geträumt, zur Handelsflotte zu gehen. Am Morgen des 8. Dezember stiegen die beiden um 6:47 Uhr in Halle in den Zug und erreichten kurz vor 15:00 Uhr den Grenzort Benckenstein.

Die tödlichen Schüsse
Um 15:03 Uhr registrierte das örtliche Grenzregiment im Sicherungsabschnitt Buchenwaldschlucht zwei Grenzverletzer. Heiko und Uwe hatten Drähte auseinandergebogen und so den Signalzaun durchbrochen. Alarm wurde ausgelöst, und die 7. Kompanie bezog vorschriftsmäßig Stellung. Die Jungen, die glaubten, alle Grenzposten nach Überwindung des Signalzauns hinter sich gelassen zu haben, bewegten sich weiter gen Westen. Plötzlich hörten sie ein Geräusch: das Durchladen einer Waffe.

„Dann ging das alles sehr schnell. Bruchteile von Sekunden“, erinnert sich Uwe. Beide warfen sich hin. Dann knallte es. Laut späteren Aussagen waren es wohl drei kurze Feuerstöße, aber für Uwe fühlte es sich an, als sei ein ganzes Magazin leergeschossen worden. Es gab keinen Warnschuss, auch keinen Ruf wie „Halt, stehen bleiben“. Während des Schießens rief Heiko seinem Freund noch zu: „Los, Fleischi, weg!“. Doch anstatt zu fliehen, rannte Heiko zurück in Richtung DDR, als wollte er aufgeben. Die Grenzer zielten auf den fliehenden Jungen, so wie sie es gelernt hatten: „Konsequente Anwendung der Schusswaffe verhindert in diesem Fall den Grenzdurchbruch“. Heiko Runge starb an einem Brustdurchschuss, erschossen von hinten, das Einschussloch befand sich am Rücken oben rechts, wie der Obduktionsbericht später vermerkte.

Die beiden Schützen, damals 20 und 23 Jahre alt und somit kaum älter als ihr Opfer, feuerten insgesamt 51 Schüsse ab – 26 aus der einen Waffe, 25 aus der anderen. Nur ein einziger Schuss traf Heiko. Einer der Schützen, der heute in der Nähe von Dresden lebt, erklärte, er hätte daneben schießen können, aber der Vorgesetzte hätte ihn sonst erschossen. Er beschreibt die damaligen Gesetze: „Entweder du trittst die schieß den ab oder die schießen dich ab“. Ein anderer Schütze, der heute noch grenznah in Wernigerode lebt und bei der Bahn arbeitet, leidet bis heute unter den Erinnerungen: „Ich teilwe noch davon träume und das werde ich wohl me lebt doch nicht wi los“.

Die perfide Vertuschung
Der Fall Runge beschäftigte eine ganze Stasi-Abteilung. 16 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes konnte Ingerunge erstmals die Stasi-Akten einsehen: zwei Bände mit dem Titel „Leichensache Heiko R.“, gefüllt mit den „perfiden Versuchen der Staatssicherheit“, die Wahrheit zu verbergen. Man hatte sogar das Begräbnis fotografiert und die Anwesenden kontrolliert.

Die offizielle Version gegenüber der Mutter lautete, ihr Sohn sei „in die Nähe von einer militärischen Anlage gekommen ist und dabe ein Unfall erlitten hat“. Die Staatsanwältin verweigerte weitere Details und beschied die trauernde Mutter unverschämt: „Hören Sie auf zu heulen, Sie haben vielleicht ein Vaterlandsverräter geboren“. Die Stasi war sich offenbar der Peinlichkeit bewusst, ein Kind auf dem Gewissen zu haben. Familie, Freunde und Klassenkameraden wurden zum Stillschweigen verdonnert. Alle schriftlichen Meldungen sollten vernichtet und Tonbandaufzeichnungen gelöscht werden, um den „Informationsabfluss abzusichern“. Oberstleutnant Lubers, damals verantwortlich, bestreitet heute, der Einzelfall sei ihm geläufig.

Die Abteilung Neun der Stasi in Halle entwickelte einen umfangreichen „Maßnahmeplan“, um das „Grenzgauens“ zu vertuschen. Heikos Mutter wurde angewiesen, keine Todesanzeige aufzugeben, und eine schnelle Bestattung sollte den Kreis der Trauernden so klein wie möglich halten. Selbst der letzte Besuch in der Leichenhalle war unter höchster Alarmstufe. Heikos Mutter wurde festgehalten, ihre Blumen wurden ihr entrissen und zu Boden geworfen, sie durfte ihren Sohn nur kurz ansehen und musste bestätigen, dass es ihr Kind war. Beschattungen und Personenkontrollen wurden von Oberstleutnant Schwengner angeordnet, der heute Gedächtnisschwund für den Fall Heiko Runge angibt.

Befehl ist Befehl?
Der Chef der 7. Grenzkompanie, Major Piotrowski, galt als „berüchtigter Scharfmacher“. Sein Fahrer gab 1992 zu Protokoll, Piotrowskis Lieblingssatz sei gewesen: „Der Warnschuss trifft mindestens die Kopfbedeckung“, was bedeutete: „erst schießen dann fragen“. Piotrowski selbst gab an, stolz darauf gewesen zu sein, seinen Dienst exakt versehen zu haben und sah die „Erfüllung des Klassenauftrages“ als „pflichtgemäß ausgeführt“ und im „Völkerrecht“ entsprechend an. Die DDR belohnte solches „vorbildliches Grenzverhalten“ mit Medaillen, Belobigungen und Geldprämien.

Die Trauer und die Fragen bleiben für Heikos Mutter bis heute bestehen: „Nee nee undter fehlt uns beiden meiner Tochter und mir heute genau noch so als wie vor 16 Jahren warum weshalb weswegen“.

Heiko Runges Fall ist kein Einzelfall. In 15 weiteren Fällen hat die Berliner Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Tötung Minderjähriger an der innerdeutschen Grenze aufgenommen. Die damaligen Anweisungen der Grenztruppen lauteten: „Zuverlässig gesicherte Grenzen bleiben Gewehr dafür, dass die Menschenrechte in unserem Staat verwirklicht werden können“ – eine zynische Aussage angesichts des Schicksals von Heiko Runge und vielen anderen.