Für Kinder in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war der erste Schultag weit mehr als nur der Beginn des Lernens – er war ein tiefgreifendes gesellschaftliches Ereignis, ein festlicher Übergang in einen neuen Lebensabschnitt, geprägt von Stolz, Ritualen und einer klaren ideologischen Ausrichtung. Von der Zuckertüte bis zur Pionieruniform war die Einschulung ein sorgfältig inszeniertes Puzzle aus Bildung, Erziehung und Weltanschauung.
Der Zuckertütenbaum und das Abschiedsfest im Kindergarten
Schon Wochen vor dem eigentlichen Schulstart begann die Vorfreude. Im Kindergarten wurde das „Zuckertütenfest“ zelebriert, ein liebevoller Übergang vom Spielen zum Ernst des Lebens. Die Kinder bastelten, probten Lieder und Theaterstücke und lauschten den Erzählungen ihrer Erzieherinnen vom mystischen Zuckertütenbaum, an dem die süßen Tüten reifen sollten. Am Festtag selbst versammelten sich Familien, um die Darbietungen der Vorschulkinder zu sehen, bevor die Erzieherinnen sie zu einem mit kleinen, bunten Zuckertüten geschmückten Baum führten. Die Augen der Kinder leuchteten, als sie ihre ersten, meist noch kleinen, Zuckertüten pflückten – gefüllt mit Süßigkeiten und kleinen Überraschungen. Dieser Vorgeschmack auf das Kommende sollte den Abschied vom Kindergarten versüßen.
Der große Tag: Ein gesellschaftliches Ereignis
Der eigentliche Einschulungstag fiel traditionell auf den Samstag vor dem offiziellen Schulbeginn, um den Familien die gemeinsame Feier zu ermöglichen. Früh am Morgen, oft noch im warmen Spätsommer, klackerten frisch geputzte Schuhe auf dem Schulhof der Polytechnischen Oberschule (POS), die Kinder, oft noch kleiner als ihre prall gefüllten Zuckertüten, an der Hand ihrer Eltern, Großeltern und Geschwister.
Die POS war für den Anlass festlich geschmückt. In der Turnhalle versammelten sich die neuen Schulkinder in der ersten Reihe auf harten Bänken, dahinter die Familien. Die Feier begann mit einer Begrüßung durch den Schulleiter oder die Schulleiterin, gefolgt von Auftritten älterer Schüler mit Liedern, Gedichten und kleinen Theaterstücken, die den Neulingen Mut machen und sie willkommen heißen sollten.
Anschließend wurden die Kinder klassenweise ihren neuen Lehrerinnen und Lehrern vorgestellt und betraten zum ersten Mal ihren Klassenraum, wo sie auch ihre neuen Mitschüler kennenlernten.
Nach dem offiziellen Teil setzte sich die Feier oft privat fort, sei es zu Hause bei Oma und Opa oder in einem Restaurant. Dann kam der Moment, auf den die Kinder wochenlang hingefiebert hatten: Die Zuckertüte wurde endlich geöffnet. Jede Tüte war ein streng gehütetes Geheimnis und ihr Inhalt einzigartig – gefüllt mit Süßigkeiten, Brausepulver, einem kleinen Spielzeug und mit etwas Glück sogar einem Büchlein mit Abenteuern von Pity Platsch oder Moosmutzel. Die Zuckertüte war dabei mehr als nur ein Geschenk; sie symbolisierte den Übergang in eine neue Welt von Schule, Struktur und Verantwortung. Diese Tradition wird in vielen ostdeutschen Regionen bis heute gepflegt und unterstreicht den hohen Stellenwert von Bildung und Gemeinschaft.
Der erste richtige Schultag: Bildung im Geiste des Sozialismus
Am ersten offiziellen Schultag, der direkt in der POS stattfand – eine separate Grundschule gab es nicht, die POS begleitete die Schüler von Klasse 1 bis 10 – wurde schnell deutlich: Schule war in der DDR nicht nur ein Ort des Wissenserwerbs, sondern auch ein Mittel zur Erziehung im Geiste des Sozialismus. Schon beim Empfang wurden Worte über Fleiß, Disziplin und Kameradschaft vermittelt.
Die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer stand bereit, oft eine Bezugsperson, die die Kinder über viele Jahre begleitete, fast wie eine zweite Familie. Beim Betreten des Klassenzimmers, einem Zeichen des Respekts vor der Lehrerfigur, erhoben sich alle Kinder. Am ersten Tag standen das Kennenlernen, das Besprechen von Regeln und das Üben des richtigen Meldens im Vordergrund. Jedes Kind erhielt eine neue Mappe aus Kunstleder, gefüllt mit linierten Heften, Füller, Holzlineal und Löschpapier.
Lehrer waren in der DDR nicht nur Wissensvermittler, sondern Erzieher, Vorbilder und oft auch Repräsentanten des Staates. Sie waren meist streng, aber auch herzlich, überzeugt von ihrer Aufgabe, die Kinder „stark zu machen für das Leben, für die Gemeinschaft und im Sinne der sozialistischen Gesellschaft“. Obwohl der Schulalltag stark strukturiert und ritualisiert war – mit Stundenplan, Pausenzeiten und Fahnenappellen – gab es neben dem Ideologischen auch viel Menschliches. Lehrkräfte wie „Frau Mertens“ schüttelten jedem Kind die Hand und „Herr Berger“ zeigte nicht nur, wie man den Füller hält, sondern auch, dass man sich nicht über Schwächere lustig macht. Sie lebten Werte vor, die oft über Parteivorgaben hinausgingen und echten pädagogischen Wert hatten. Das Klassenzimmer war trotz aller Struktur auch ein Raum für Flüstern, Lachen und neugierige Fragen.
Der nächste Schritt: Aufnahme in die Pionierorganisation
Kaum war der erste Schultag vorbei, folgte oft schon der nächste wichtige Schritt: die Aufnahme in die Pionierorganisation. In der ersten Klasse wurden die Kinder zu Jungpionieren. Das feierliche Umlegen des blauen Halstuchs war für viele ein Moment des Kribbelns im Bauch und des Stolzes. Bei Schulfesten oder Appellen standen sie gemeinsam und sagten im Chor: „Ich will ein guter Jungpionier sein – lernen, arbeiten und helfen wie unsere Vorbilder“. Später, als Thälmannpioniere, tauschten sie das blaue gegen ein rotes Halstuch – ein kleiner Übergangsritus, der sie ein Stück erwachsener wirken ließ. Diese Mitgliedschaft wurde oft als Gefühl der Zugehörigkeit wahrgenommen, auch wenn die Politik immer präsent war.
Eine bleibende Erinnerung
Wer heute ehemalige DDR-Bürger nach ihrem ersten Schultag fragt, sieht oft ein Lächeln und einen weichen Blick. Erinnerungen an die schwere Zuckertüte, die Mama oder Papa tragen mussten, an stolze Gefühle, Zahnlücken und Tränen in den Augen der Eltern bleiben lebendig. Es war ein Tag zwischen Veränderung und Neugier, Aufregung und Erwartung, der Kopf, Herz und Leben in Bewegung setzte. Die Schule in der DDR verknüpfte Bildung, Erziehung und Weltanschauung eng miteinander, aber sie nahm diese Aufgabe auch sehr ernst. Rückblickend entdecken viele nicht nur Indoktrination, sondern auch Struktur, Gemeinschaft, kindliche Neugier und einen Zusammenhalt, der heute oft vermisst wird.
Die Geschichte der Einschulung in der DDR zeigt, wie kraftvoll Rituale sein können, wie Symbole prägen und wie wertvoll es ist, wenn ein neuer Lebensabschnitt mit Würde beginnt. Der erste Schultag ist für viele eine lebenslange Erinnerung.