Spektakuläre Flucht vor 60 Jahren: Elektromonteur fliegt mit Agrarflugzeug in die Freiheit

Ilsen/Mecklenburg, 17. September 1964 – Es war ein Tag, der den kleinen Ort Ilsen bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Genau vor 60 Jahren, am 17. September 1964, wagte der damals erst 23-jährige Manfred Lorenz eine atemberaubende Flucht aus der DDR. Sein Mittel zur Freiheit: Ein Agrarflugzeug der staatlichen Fluggesellschaft Interflug.

Lorenz, von Beruf Elektromonteur und Pilot, nutzte an jenem Donnerstagmorgen die Chance seines Lebens. Er entführte eine Antonov AN-2 mit der Kennung DMSKH, ein ziviles Flugzeug sowjetischer Bauart, das eigentlich zur Schädlingsbekämpfung aus der Luft eingesetzt wurde.

Der Flug begann in Jabel bei Waren in Mecklenburg. An diesem Tag fiel ein solcher Einsatz witterungsbedingt aus. Als der erste Pilot und ein Techniker nach Anklam fuhren, um Ersatzteile zu holen, ergriff Manfred Lorenz gegen 9 Uhr die Gelegenheit.

Seine Flucht führte ihn in Richtung BRD. Um der Radarüberwachung zu entgehen, flog Lorenz streckenweise nur zwei Meter über den Baumwipfeln. Bei Dannenberg überflog er erstmals die Zonengrenze und stieß einen Jubelschrei aus. Doch aus Unsicherheit landete er nicht sofort, sondern erst etwas später bei Ilsen.

Gegen kurz nach 10 Uhr setzte er die kleine Maschine auf einem aufgeweichten Acker an der Bundesstraße 71 zwischen den Gemeinden Hanstedt und Großliedern im Kreis Ilsen auf. Trotz heftiger Windböen gelang ihm eine glatte Landung.

Die Nachricht von der geglückten Flucht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Stadt und Kreis. Ein Ilsener rief bereits um 10:25 Uhr in der Redaktion der AAZ an und meldete die spektakuläre Landung. Mitarbeiter der AAZ eilten sofort zum Landeort. Bei ihrer Ankunft waren bereits Polizisten und Bundesgrenzschützer vom Heinberg vor Ort. Die Fluchtmaschine mit Bundesgrenzschutzbeamten und auch der junge Pilot selbst wurden von Wilhelm Franz in Schwarzweiß-Fotos festgehalten. Die Maschine flimmerte sogar über die Bildschirme der ARD Tagesschau.

Auf der Titelseite der AAZ-Ausgabe vom 18. September 1964 stand: „Tollkühne Tiefflüge von Waren in Mecklenburg in den Kreis Ilsen“. Auf zwei Seiten weiter hieß es: „Tollkühner Flug unter dem Radarschirm in die Freiheit“.

Manfred Lorenz selbst wurde zitiert mit den Worten: „Ich habe schon lange auf eine Gelegenheit zur Flucht in die Bundesrepublik gewartet“. Dem Reporter der AAZ sagte der ehemalige Copilot: „Ich bin geflohen, weil ich mit Leib und Seele [bin] und drüben kein rechtes Fortkommen sehe“. Ursprünglich sei er vom System überzeugt gewesen und habe dafür gestanden, dass alle Menschen gleich behandelt werden und es allen gleich gut gehen sollte. Doch die Praxis und Wirklichkeit hätten dort ganz anders ausgesehen.

Als Reisegepäck hatte Lorenz nur eine Handtasche mit seinen Papieren bei sich. Den Boden der Bundesrepublik betrat der Mann aus der DDR in Hausschuhen.

Die Flucht hatte auch Folgen für seine Familie in der DDR. Er hatte seine Frau und seinen gerade einmal eineinhalbjährigen Sohn bei Berlin zurückgelassen, aus Angst, das Flugzeug könne von sowjetischen Jägern abgeschossen werden. Seine Ehefrau wurde wiederholt verhört. Sie berichtete von einem Telegramm ihres Mannes aus Ilsen, in dem er schrieb, sie solle nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen und sich scheiden lassen.

Der Fluchtpilot selbst wurde ins Flüchtlingsaufnahmelager Gießen überstellt. Später soll er für Airbus gearbeitet haben. Einzelheiten zu seinem weiteren Leben seien jedoch nicht zu ermitteln gewesen, schreibt Autor Uwe Hanak im Heimatkalender für Stadt und Landkreis Ilsen 2024, der die Flucht über den Eisernen Vorhang zusammengefasst hat.

Die spektakuläre Landung bei Ilsen bleibt ein markantes Ereignis in der Geschichte der Fluchten aus der DDR, die in einer Doku-Serienreihe mit dem Namen „Spektakuläre Fluchten aus der DDR“ beleuchtet werden.