Vertrieben aus der Heimat: Eine Reise in die Vergangenheit mit Margarita Kokos

Ústí nad Labem, das frühere Aussig an der Elbe – für Margarita Kokos ist es der Ort ihrer Kindheit, der Ort, den sie 1946 unfreiwillig verlassen musste. Geboren 1936 in dieser böhmischen Stadt, verbrachte sie dort ihre ersten zehn Lebensjahre, bevor das Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Leben grundlegend veränderte. Was folgte, war die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten, die nun wieder zur Tschechoslowakei gehörten.

Margarita Kokos wuchs in einem Haus in der Maxstraße 159 auf, wo eine friedliche Hausgemeinschaft aus Tschechen, Deutschen und Österreichern lebte – es gab „keine Panik oder sonstiges“. Sie besuchte die Mädchenschule in Aussig. Doch nach dem Krieg, als die Tschechen das Gebiet wieder einnahmen, mussten die Deutschen gehen.

Die Entscheidung zur Vertreibung wurde von brutalen Ereignissen begleitet. Margarita Kokos erinnert sich an einen Vorfall, bei dem aus einer Richtung, wo sich möglicherweise ein Gestapo-Haus befand, in ihre Wohnung geschossen wurde, während sie aus dem Fenster rief. Die Hauswirtin zog sie schnell zur Seite. Auf der Rasenfläche vor dem Haus wurden damals auch Leute zusammengeschlagen. Nach diesem Erlebnis war klar: „hier können wir nicht mehr bleiben“. Da ihr Vater zu der Zeit noch bei der Wehrmacht war, kam die Annahme der tschechischen Staatsbürgerschaft nicht in Frage. So entschloss sich die Familie, mit einem der Transporte Aussig zu verlassen.

Die Vertriebenen wurden nach Lerchenfeld gebracht, einem Ort, der in Aussig „richtig verrufen“ war. Schon das Wort „Lerchenfeld“ auszusprechen konnte dazu führen, dass man selbst inhaftiert wurde. In Lerchenfeld wurden die Menschen registriert. Jeder durfte lediglich 50 Kilo Gepäck mitnehmen. Schmuck und Sparkassenbücher wurden abgenommen. Anschließend wurden sie in sogenannte Viehwagen verladen. Diese Züge fuhren nach ihrem Wissen acht Wochen lang durch Deutschland, da keine Stadt sie aufnehmen wollte.

Die Endstation nach dieser langen und entbehrungsreichen Reise war Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern. Dort kamen sie in einem Lager an, einem „Endlager“. Angesichts der wochenlangen Fahrt in den Waggons war es verständlich, dass Krankheiten auftraten. Vom Lager aus wurden die Menschen dann auf die umliegenden Dörfer verteilt. Margarita Kokos’ Vater, 1943 zur Wehrmacht eingezogen, kehrte aus Polen nicht zurück.
Besondere Schrecken rankten sich um das Lager in Lerchenfeld. Dort brachte man Männer und Frauen unter, von denen man wusste, dass sie sich während der NS-Zeit politisch betätigt oder Funktionen innehatten. Ihnen wurde, so erzählte man, nur Wasser und Brot zur Ernährung gegeben. Es gab Prügel und Tritte. Etliche Tote waren zu beklagen. Sogar ihr Onkel, der in Türnitz bei den Parteifreunden kassiert hatte, wurde dorthin gebracht. Er hatte jedoch Glück, überlebte und wurde entlassen. Die Zustände in Lerchenfeld waren streng geheim, aber Details sickerten durch. Erst als ihr Onkel freikam, erzählte er von den „Gräueltaten“. Wenn ein „Riese“ wie ihr Onkel weint, „weiß man, was hier oben los war“. Es herrschte „nur Trauer“ über das, was Menschen angetan wurde, die eigentlich nichts dafür konnten. Denn viele waren gezwungen, sich im NS-Regime zu betätigen, um nicht selbst ins Gefängnis zu kommen.

Ein besonders erschütterndes Ereignis in Aussig war der Vorfall an der Elbe. In der Nähe der Schichtwerke, die Seife und Waschpulver herstellten, gingen plötzlich die Sirenen. Es wurde behauptet, die Deutschen hätten in den Werken Sabotage verübt. Daraufhin liefen Tschechen, die ohnehin Hass auf Deutsche hatten, bis zur Brücke nahe der Schichtwerke. Dort warfen sie jede deutsche Familie, die über die Brücke ging, mitsamt Kinderwagen und allem in die Elbe. Tschechen durften über die Brücke gehen, Deutsche nicht. Diese Gewalt setzte sich in der Innenstadt von Aussig fort, wo Deutsche in die Löschteiche geworfen wurden, die während des Krieges gebaut worden waren. Einige ertranken, andere konnten sich retten. Man sagte damals, es sei richtig gewesen, weil die Deutschen sabotiert hätten. Später stellte sich heraus, dass dies nicht stimmte – es war wohl eine Behauptung, „damit die bloß glauben konnten, die Deutschen vernichten“. Die Leichen der in die Elbe Geworfenen trieben manchmal bis nach Bad Schandau. Es war eine „hohe Zahl“ der Toten. Margarita Kokos denkt beim Blick von der Brücke immer noch daran. Sie erinnert sich, dass die Deutschen als „Menschen zweiter Klasse erklärt“ wurden und ihnen zum Beispiel nicht gestattet wurde, auf dem Bürgersteig zu gehen. Solche Dinge dürfen nie wieder vorkommen.

Für Margarita Kokos und ihre Familie begann nach der Ankunft in Neustrelitz ein neues Leben. Der Bruder ihrer Mutter, der gesucht wurde, wurde in Schönebeck gefunden. Sie versuchten, ebenfalls nach Schönebeck zu ziehen. Dies war sehr schwierig. Die Züge waren so überfüllt, dass Margarita durchs Fenster in den Zug geschoben wurde, während ihre Mutter es gerade noch schaffte, einzusteigen. In Schönebeck angekommen, wurden sie als Flüchtlinge anerkannt, aber die Einheimischen wollten anfangs nicht viel mit ihnen zu tun haben, da der „ganze Friede in der Stadt gestört“ war durch die vielen Neuankömmlinge und ihre Dialekte.

Ein wichtiger Punkt für Margarita Kokos ist die Unterscheidung zwischen „Flüchtlingen“ und „Vertriebenen“. Sie erklärt, dass Flüchtlinge diejenigen seien, die – nicht ohne Grund, aber – einfach losgehen. Vertriebene hingegen wurden „hier rausgeschmissen“. Für sie ist das der Unterschied. Daher haben sie in der Landsmannschaft, dem Vertriebenenverband, immer darum gekämpft, als Vertriebene anerkannt zu werden. Viele, die das Gleiche erlebt hatten, traten dem Verband bei.

Leider ist die Jugend heute nicht mehr so engagiert. Die Mitglieder werden älter, versterben, und der Nachwuchs fehlt. Margarita Kokos sieht, dass solche Organisationen in zehn Jahren möglicherweise nicht mehr existieren werden. Dennoch ist sie froh, noch Teil dieser Gemeinschaft zu sein, sich mit anderen Sudetendeutschen und zehn Frauen, mit denen sie sich trifft, austauschen zu können. Diese Treffen sind wichtig, um die Erinnerung wachzuhalten und über das Erlebte zu sprechen.

Die Geschichte der Vertreibung wird ihrer Meinung nach „sehr vieles totgeschrieben“. Wenn nicht die Zeitzeugen oder „die Alten“ da wären, würde sich niemand mehr damit befassen. Es sei schade, dass das, was aufgebaut wurde, „den Bach runtergeht“, weil sich niemand mehr findet. Es darf „nie in Vergessenheit geraten, was der Krieg gemacht hat mit uns, was die Vertreibung mit uns gemacht hat“.

Um diese Erinnerung zu bewahren, gibt es Projekte, die sich mit Flucht und Vertreibung befassen. Ein solches Projekt hat vor drei Jahren begonnen. In diesem Zusammenhang entstand die Idee, mit Frau Kokos nach Aussig zu fahren, um ihre Geburtsstadt und die Orte ihrer Geschichte zu besuchen. Ziel ist es, ihr Leben und insbesondere ihren Fluchtweg besser nachvollziehen zu können und zu verstehen, wie die Deutschen dort gelebt und behandelt wurden. Die Planung für diese Reise läuft, um die beschriebenen Orte zu finden und in die Reiseplanung einzubeziehen. Es ist ein Versuch, die Vergangenheit lebendig zu halten und sicherzustellen, dass die Ereignisse von Flucht und Vertreibung nicht vergessen werden.

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