Eliteaustausch nach der Wende: Wie 35.000 Beamte aus dem Westen den Osten prägten

Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall sind die Wunden der deutschen Wiedervereinigung in Ostdeutschland noch lange nicht verheilt. Ein Gefühl der Ungerechtigkeit hält sich hartnäckig, befeuert durch eine Realität, in der Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft, Justiz und Verwaltung überproportional von Westdeutschen besetzt sind. Dieses Ungleichgewicht ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine reale Schieflage, die zu gesellschaftlichen Konflikten führt. Der Literaturprofessor Dirk Oschmann, selbst ein „Ossi“, hat dieses Thema in seinem erfolgreichen Sachbuch aufgegriffen und damit vielen Ostdeutschen aus der Seele gesprochen. Seine zentrale These: Westdeutsche Eliten bestimmen im Osten noch immer den Ton.

Blickt man auf die Zahlen, so wird Oschmanns Beobachtung untermauert: In der Bundeswehr etwa gibt es unter 200 Generälen keinen einzigen aus Ostdeutschland. Bei den über 300 Bundesrichtern, die die wichtigsten Urteile des Landes sprechen, stammen gerade einmal etwa 15 aus dem Osten. Selbst in Ostdeutschland selbst sieht es an der Spitze oft nicht anders aus: An den obersten Landesgerichten ist zwar fast jeder vierte Richter ostdeutsch, bei den Vorsitzenden Richtern aber nur jeder zwanzigste. Das bedeutet: Auch im Namen des ostdeutschen Volkes spricht in letzter Instanz vor allem westdeutsches Recht.

Doch die Dominanz beschränkt sich nicht auf die Justiz. Im wichtigsten deutschen Aktienindex DAX ist kein einziges ostdeutsches Unternehmen vertreten. In den Vorständen der 40 DAX-Unternehmen sitzen 253 Chefs, nur eine einzige von ihnen ist ostdeutsch. Bei den 100 größten Unternehmen im Osten sind in zwei von drei Fällen Westdeutsche in den Chefsesseln. Auch an Universitäten, in Behörden und im Militär ist der Anteil westdeutscher Führungskräfte hoch und hat sich über die Jahrzehnte kaum verändert, teilweise sogar reduziert.

Der „Eliteaustausch“ nach der Wende
Wie kam es zu dieser Situation? Direkt nach dem Mauerfall fehlten in Ostdeutschland Fachkräfte in vielen Bereichen. Insbesondere im Justizwesen gab es pro Kopf viel weniger Juristen als in der BRD, und ein Großteil der DDR-Richter musste gehen, da ihnen vorgeworfen wurde, politische Urteile gesprochen zu haben. Beamte aus Westdeutschland wurden dringend gebraucht, um tausende DDR-Gerichtsakten zu prüfen. Viele Ostdeutsche, selbst in Führungspositionen, hatten Misstrauen gegenüber Richtern mit DDR-Ausbildung. Die Universitäten in der Bundesrepublik waren in den 1980er Jahren überfüllt mit Absolventen, die nun Jobs suchten und zu Tausenden in den Osten kamen. Dieser massiver Zustrom westdeutscher Beamter und Angestellter war auch ein Weg, das eigene Problem der Bundesrepublik mit der Bildungsexpansion zu lösen.

Die DDR-Eliten wurden hingegen vom Hof gejagt und vielfach ersetzt. Bereits 1990 stammten die 62 obersten Beamten in den ostdeutschen Ministerien alle aus dem Westen. Bis 1994 kamen rund 35.000 Beamte aus den alten Bundesländern in den Osten. Dieser Prozess wird von einigen Experten als ein nie dagewesener Wechsel der Eliten beschrieben.

Eine besonders prägende Rolle spielte dabei die Treuhandanstalt, die die volkseigenen Betriebe der DDR abwickeln sollte. Ludwig Köhne, ein Westdeutscher, der 1989 nach Ost-Berlin kam und den Aufbruch faszinierend fand, arbeitete selbst kurzzeitig bei der Treuhand. Er erlebte, wie über die Köpfe der Ostdeutschen hinweg entschieden wurde. Während er und viele ostdeutsche Kollegen ganz unten in der Hierarchie standen, kamen die Anzugträger in den obersten Etagen fast alle aus dem Westen. Ende 1992 hatte die Treuhand 49 Direktoren, nur zwei von ihnen stammten aus dem Osten.

Fremdbestimmung und Verarmungserfahrung
Das Volkseigentum der Ostdeutschen wurde verkauft und abgewickelt – größtenteils durch Westdeutsche. Man kann durchaus sagen, man habe eine Form der Kolonialisierung Ostdeutschlands vorangetrieben. Zwar sahen sich die Westdeutschen, die kamen, nicht als Kolonialisten, sondern als Menschen, die eine interessante Karriereoption nutzten. Die Juristin Iris Görke Berzau, die 1991 nach Sachsen-Anhalt kam, berichtet von der dringenden Notwendigkeit von Juristen aus dem Westen, um das Justizsystem aufzubauen. Viele von ihnen arbeiteten extrem hart und brachten große persönliche Opfer. Sie verwehrt sich gegen das Klischee, Westdeutsche seien nur zum „Abkassieren“ gekommen.

Doch ungeachtet der individuellen Motivationen vieler Westdeutscher, die im Osten halfen und sich engagierten, entstand bei vielen Ostdeutschen ein Gefühl der Fremdbestimmung. 85 % aller mittleren bis großen volkseigenen Betriebe wurden an Westdeutsche verkauft, nur 5 % an Ostdeutsche. Ostdeutsche Manager hatten historisch bedingt weniger Kapital und unternehmerische Erfahrung. Experten bemängeln, dass diese nicht aktiv gefördert wurden. Stattdessen wirkten „West-Seilschaften“, die dafür sorgten, dass der „andere Kulturkreis Ostdeutschland“ nicht zum Zuge kam. Man traf sich in Lounges auf Flughäfen, wo der „normale Ostdeutsche“ nicht hinkam.

Die Grunderfahrung der Demokratie im Osten war laut Manja Kliese, einer Ostdeutschen in Führungsposition im Auswärtigen Amt, eine des entmächtigt Werdens und Verarmens – ökonomisch, kulturell, sozial und symbolisch. Die 1990er Jahre brachten für viele Ostdeutsche massive berufliche Brüche; aus Werftarbeitern wurden Lageristen, aus Lehrerinnen Putzkräfte. Diese enttäuschende Erfahrung machte viele Ostdeutsche risikoaversiv. Die Sicherheit stand oft über dem Aufstieg.

Die Folgen: Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein und Populismus
Das Ergebnis ist, dass viele Ostdeutsche sich nicht als mitgestaltende Kraft in der Demokratie begreifen können und sich nicht angemessen repräsentiert sehen – nicht in den Medien, nicht in der Wirtschaft, nicht in der Politik. Es ist nicht nur ein Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, sondern sie fühlen sich als Menschen zweiter Klasse, weil sie so behandelt werden. Dieses Gefühl der Benachteiligung scheint ein dauerhaftes Problem zu bleiben.

Dieser Unmut über „die da oben“, die so häufig westdeutsch sind, zeigt sich auch in Wahlergebnissen im Osten. Populistische Parteien, insbesondere die AfD und das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), feiern hier große Erfolge. Experten sehen einen Zusammenhang: Eine systematische Unterrepräsentation kann dazu führen, dass Menschen populistisch offener sind. Die Kernthese vieler Populisten von fernen, korrupten Eliten, die nicht zuhören, trifft in Ostdeutschland auf einen Nährboden, da viele Menschen sich mit den dominanten Eliten aufgrund ihrer Herkunft nicht identifizieren können. Sarah Wagenknecht, selbst in der DDR geboren, sieht ihre Kritik an den westdeutschen Eliten nicht als Populismus, sondern als Hinweis auf einen ernsten Missstand.

Wege aus der Schieflage?
Wie kann das Ungleichgewicht behoben werden? Die Debatte über eine Quote für Ostdeutsche, wie vom BSW gefordert, ist umstritten. Einige halten sie für unausweichlich, um eine Veränderung zu erreichen, andere für rechtlich schwer umsetzbar und wenig zielführend.

Viele Stimmen betonen, dass es auch an den Ostdeutschen selbst liegt. Dirk Oschmann meint, der Osten müsse den Mut haben, die Chancen zu ergreifen und den „Marsch durch die Institutionen“ anzutreten, sich zu bewerben, anstatt vorher zu resignieren. Manja Kliese berichtet, dass sich viele junge Ostdeutsche Bewerbungen für Top-Positionen oft gar nicht zutrauen. Ludwig Köhne stellt fest, dass es schwierig ist, Ostdeutsche zu finden, die Geschäftsführer werden wollen, weil sie nach den Verlusten der 90er Jahre das Erreichte nicht riskieren wollen.Einige fordern, dass sich die Ostdeutschen kritisch mit ihrer eigenen Rolle auseinandersetzen und die Schuld nicht nur bei den Westdeutschen suchen sollten. Ludwig Köhne warnt vor einem „Ossi-Exzeptionalismus“, dem Gedanken, etwas Besonderes zu sein, was in die falsche Richtung führe.

Gleichzeitig gibt es Bemühungen, die nächste Generation Ostdeutscher zu fördern. Kliniken und Universitäten versuchen, junge Menschen aus der Region stärker zu unterstützen, etwa durch Stipendien, die nicht nur finanziell helfen, sondern auch den Zugang zu wichtigen Netzwerken ermöglichen. Es fehlt jedoch an ostdeutschen Studierenden, die sich um solche Stipendien bewerben.

Experten betonen die Notwendigkeit struktureller Gründe für die anhaltende Benachteiligung und fordern gesellschaftspolitische Anstrengungen. Es gehe darum, einer relevanten Bevölkerungsgruppe eine faire Chance zu geben und sie zu unterstützen, damit sie ihre Interessen und Ideen einbringen können und eine gerechte Chance haben, auch ganz nach oben zu kommen.

35 Jahre nach dem Mauerfall herrscht im Osten noch immer eine Schieflage. Was ein Übergang sein sollte, scheint zu einem Dauerzustand geworden zu sein, der für viele Ostdeutsche mit dem Gefühl verbunden ist, nicht vollständig gleichberechtigt teilzuhaben und mitzubestimmen. Es bleibt eine Herausforderung für die deutsche Demokratie, diese tiefe Spaltung zu überwinden und mehr ostdeutsche Gesichter an der Spitze des Landes zu sehen.



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