Carmen Niebergall, geboren am 29. Oktober 1955 in Schlagenthin, hat ihr Leben stets in der Region verbracht, die heute zu Sachsen-Anhalt gehört – aufgewachsen im ländlichen Raum des ehemaligen Bezirks Magdeburg, Landkreis Genthin, dem heutigen Jerichower Land. Ihre Kindheit beschreibt sie als behütet und von der Offenheit des Landlebens geprägt, das Kuhmelken und ein hohes Maß an Selbstständigkeit durch die Schichtarbeit der Eltern umfasste. Doch schon als Jugendliche spürte sie, dass das DDR-System sie einschränkte, sie einengte und ihr „Ketten“ anlegte, die sie daran hinderten, das zu werden, was sie sich eigentlich vorgenommen hatte.
Dieses Gefühl der Einschränkung und der Wunsch nach Veränderung führten zu einem frühen politischen Engagement. Carmen Niebergall trat bereits 1978 in die CDU ein. Dieser Schritt, der nach eigenen Worten quasi „über Nacht“ geschah, nachdem die SED Interesse an ihr gezeigt hatte, war für sie die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas zu verändern – auch zu DDR-Zeiten. Sie engagierte sich, prüfte Finanzen und nutzte die Partei, auch wenn sie eine Blockpartei war, um den Kontakt zu Gleichgesinnten zu suchen. Diese Gespräche und der Austausch waren für sie essenziell, um zu wissen, ob andere ähnlich dachten, und erwiesen sich als immens wichtig für die Vernetzung in der späteren Wendezeit.
Der 9. November 1989 fand Carmen Niebergall beim Fasching in Genthin. Die Nachricht von der Grenzöffnung, die über Radio verbreitet wurde, führte dazu, dass der Saal sich leerte. Für sie persönlich war dieser Moment zunächst von Verwirrung geprägt, da das innere Ziel, das sie und Gleichgesinnte in ihren Gesprächen immer verfolgt hatten – die Einheit Deutschlands – nun plötzlich greifbar schien. Nach dieser Nacht des Nachdenkens steht für sie fest: Der 9. November ist der Tag der Freiheit, an dem „das Volk“, die Menschen, es durch friedliche Demonstrationen geschafft haben und „die Kraft hatten, ein System zu kippen“. Trotz der historischen Verknüpfung des Datums mit der Pogromnacht ist der 9. November für sie ganz persönlich „ein guter Tag“ und der wichtigste.
Für Carmen Niebergall war die Vereinigung Deutschlands unausweichlich. Aus ihrer wirtschaftlichen Perspektive war klar, dass die DDR in einer anderen Form nicht hätte existieren können, weil sie „pleite“ war. Rückblickend empfindet sie jedoch Traurigkeit und Ärger über den Verlauf des Transformationsprozesses. Während in den neuen Bundesländern eine hochgradige Veränderung in allen Lebensbereichen stattfand – von Gesetzen über Lebens-, Schul- und Arbeitsbedingungen bis hin zu den Einkaufsbedingungen – sei es in den alten Bundesländern nur ein „klitzeklitzekleiner Transformationsprozess“ gewesen. Diese Ungleichheit habe die innere Einheit erschwert. Für ein besseres Zusammenkommen der Menschen sei weiterhin mehr Zeit, vor allem aber gegenseitiges Verständnis von beiden Seiten nötig – nicht nur von einer. Sie betont zudem die Wichtigkeit, dass mehr Menschen aus den neuen Bundesländern Führungspositionen übernehmen, und ermutigt insbesondere junge Menschen dazu.
Heute engagiert sich Carmen Niebergall in einem Zeitzeugenprojekt, um ihre Erfahrungen und Perspektiven weiterzugeben. Sie möchte in Schulen gehen und über diese Zeit sprechen, auch im Verbund mit anderen. Ihr ist es wichtig, deutlich zu machen („Kundtun“), was damals passiert ist und dass auch junge Frauen in diesen Prozess involviert waren und diese Veränderung „mit aller Kraft wollten“. Das Projekt bietet ihr die Möglichkeit, jungen Menschen Mut zu machen und die Botschaft zu vermitteln: Wenn man etwas will, auch wenn es viele Rückschläge gibt, kann man es gemeinsam erreichen, indem man miteinander redet und in der Gemeinsamkeit handelt. Sie lädt junge Menschen ein, mit den Zeitzeugen über die Vergangenheit zu sprechen, aber vor allem gemeinsam in die Zukunft zu schauen und diese zu gestalten. Auch als „kleiner Mosaikstein“ ist sie überzeugt, dass gemeinsam viel bewegt werden kann, was ihre Motivation für die Teilnahme am Zeitzeugenprojekt ist.