Erfurt-Süd zwischen Toren, Flutgraben und Plattenbau

Ein Viertel mit Geschichte: Die Löberstraße in Erfurt-Süd erzählt auf kaum einem anderen Areal so eindrücklich vom stetigen Wandel der Stadt. Im Rahmen des Projekts „Erfurt Süd – heute und damals“ luden das Stadtarchiv Erfurt und der Historiker Lothar Semlin jüngst zu einem virtuellen Spaziergang ein. Anlass war die Vorstellung zahlreicher Amateurdias und historischer Karten, die weit mehr verraten als nur verblasste Ansichten: Sie offenbaren über 950 Jahre Kulturgeschichte, Wirtschaftskraft und Infrastrukturentwicklung in einem einzigen Straßenzug.

Vom inneren zum äußeren Tor
Bereits 1066 markierte hier die erste Stadtbefestigung Erfurts die Grenze zwischen städtischem Leben und freiem Land. Das sogenannte innere Löbertor, über Jahrhunderte das Tor zur Wildengäre, lag an der Stelle des heutigen Juri-Gagarin-Rings: eine Funktion, die es erst um 1373 durch das äußere Löbertor ergänzte, um den zunehmenden Verkehr nach Arnstadt und Nürnberg zu kontrollieren. Noch bis 1480 blieben die beiden Tore durch keine äußere Mauer verbunden – die eigentliche Stadtbefestigung wanderte somit von der ersten zur zweiten Ringlinie.

Häuser der „Löber“ und die Thomaskirche
Zurückzuführen ist der Straßenname auf die Lohgerber, die sogenannten „Löber“, die sich schon im Spätmittelalter südlich des inneren Tores niederließen. Ihre kleinen Fachwerkhäuser zeigten sich auf Aquarellen aus dem Jahr 1804 – Zeitzeugen eines Handwerks, das heute längst verschwunden ist. Die Thomaskirche, erstmals 1291 urkundlich genannt, stand ursprünglich außerhalb der Mauer, wurde im 14. Jahrhundert im gotischen Stil neu errichtet und prägte die Löbervorstadt über Jahrhunderte hinweg als religiöses und soziales Zentrum.

Wasser in der Stadt: Wilde Gera und Flutgraben
Bis in die 1890er-Jahre war die „wilde Gera“ ein offenes Gewässer, das sich in mäandrierenden Armen durch das Viertel schlängelte. Mit Eröffnung des Flutgrabens 1898 wurde ihr Bett zugeschüttet, die frühere Löberbrücke über die Gera ist seither verschwunden. Eine neue Löbertorbrücke, fertiggestellt 1892, spannt sich noch heute über den künstlich angelegten Graben. Eine spektakuläre Szenerie bot sich am Morgen des 18. Juli 1897, als eine Lokomotive mit voller Wucht einen Prellbock rammte und in die Tiefe stürzte – ein Unglück, das bis heute Stoff für lokale Legenden liefert.

Vom Schützenhaus zur Plattenbausiedlung
An derselben Stelle versammelten sich einst Schützenvereine: Bereits im frühen 16. Jahrhundert erzielten sie erste Treffer, bis 1813 feierten sie hier ihren Abschied vom historischen Schießsport. Der heutige Bürgerschützenchor Erfurt 1463–1990 e. V. führt die Tradition fort, nur wenige Schritte westlich am Steiger. Doch das 20. Jahrhundert brachte weit gravierendere Umbrüche: Im Dezember 1944 wurde das Eckhaus Löberstraße – Gerdösering durch Bomben beschädigt, in den 1970er-Jahren schließlich weichen die letzten Altbauten der ambitionierten Plattenbauplanungen der DDR. Nur ein einziges Eckhaus an der Kreuzung Juri-Gagarin-Ring/Ostseite blieb erhalten – ein stummer Zeuge vergangener Bebauungslinien.

Quellen und Ausblick
Was als virtuelle Dia-Reihe begann, wird begleitet von einer Fülle historischer Karten: Tetekinds Plan aus dem Jahr 1620 zeigt noch die ursprüngliche Trasse der Löberstraße bis zum Bahndamm, Samuel Fritz’ Karte von 1678 dokumentiert Schützenhaus und Schießplatz, Friedrich Bernhard Werners Zeichnung von 1730 das Siechenhaus („Leprosorium“) vor den Toren der Stadt. Dr. Ange Bauer, Direktorin des Stadtarchivs, und ihre Kollegin Anne Palmowski ergänzen die Fotos mit fundierten Erläuterungen im Buch Erfurt in historischen Gärten 1493 bis 1993.

Wer die Geschichten von Mauern und Toren, von Handwerk und Infrastruktur, von Naturgewalten und Neubauvorhaben noch vertiefen möchte, ist eingeladen, auf Facebook oder per E-Mail über neue Beiträge der Reihe informiert zu werden. Denn Erfurt-Süd bleibt ein lebendiges Archiv – und jeder Stein, jedes Fachwerk und jede Brücke erzählen weiter von Menschen, die hier gelebt, gearbeitet und gebaut haben.



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