Am 1. Mai 1978, dem offiziellen „Tag der Werktätigen“, zieht ARD-Reporter Lutz Lehmann mit seinem Mikrofon über den Marktplatz von Jena, um Passantinnen und Passanten nach den „Errungenschaften des Sozialismus“ zu befragen. Was in westdeutschen Fernsehstudios immer nur als plakatives Schlagwort lief, soll hier in O-Tönen Gestalt annehmen: ein direkter Dialog mit den Menschen, die tagtäglich unter dem System leben.
Schon die ersten Antworten zeichnen das gewohnte Bild: Frieden und Sicherheit zählen zu den Spitzenleistungen der DDR, heißt es fast synchron im Chor. „Wir tragen dazu bei, den Frieden zu sichern“, erklärt ein Mann, während eine andere Stimme lobt: „Niedrige Mieten, Urlaubsanspruch, Krankenhausversorgung – das soziale Netz funktioniert.“ Es klingt routiniert, eingeübt, als wolle man die kenntlichen Parolen des SED-Apparats im Wortlaut abarbeiten, ohne dabei etwas preiszugeben, was nicht in offizielle Narrative passt.
Doch kaum richtet Lehmann seine Frage auf mögliche Verbesserungen, bröckelt die Fassade: „Wohnungen“, lautet fast unisono die Antwort. Die allgegenwärtige Wohnungsnot, die in offiziellen Statistiken bestenfalls als temporäres Problem verharmlost wird, manifestiert sich hier im persönlichen Wunsch nach vier Wänden, die nicht nur existieren, sondern auch mit etwas Komfort und Privatsphäre punkten. Nur wenig später schält sich ein weiterer Mangel heraus: „Klamotten und Kultur“, nennt eine Frau, erinnert damit an die stete Knappheit an Mode und Konsumgütern, die das Alltagsbild in den 1970er-Jahren prägte.
Dann aber stößt ein junger Doktorand ins selbe Horn und verleiht dem öffentlichen Lob eine private Bedeutung: Er, Sohn einfacher Arbeiter, dürfe dank des empathisch propagierten „sozialistischen Versprechens“ studieren und stehe kurz vor dem Abschluss seiner Dissertation – ein Privileg, das seinem Großvater versagt blieb. In diesem Moment wird greifbar, dass Bildungschancen tatsächlich soziale Schranken überwinden können und eben jene Slogans Leben verändern.
Zwischen den Zeilen aber klingt ein anderer Wunsch mit: Mehr Eigenverantwortung. Bürger sollten sich nicht nur beglückwünschen lassen, sondern jene Mängel, die sie erkennen, aktiv anpacken. Ein Gedanke, so harmlos er wirken mag, ist in einem Überwachungsstaat dennoch unbequem, weil er zur Mitgestaltung einlädt statt zur reinen Konsumation staatlicher Wohltaten.
Das kurze, nur zweieinhalbminütige Filmmaterial der ARD-Reportage wirkt heute wie ein Mikrokosmos der DDR: ein Wechselspiel aus Pflichtfloskeln, anerzogenen Lobpreisungen und leisen, teils vorsichtigen Appellen. Es dokumentiert nicht nur, welche Ideale das Regime auf den Straßen verkaufen wollte, sondern auch, welche Wünsche und Sorgen dahinter schlummerten. Fast zehn Jahre vor dem Mauerfall zeigen diese Straßengespräche, wie sehr die Menschen hin- und hergerissen waren zwischen Stolz auf das Erreichte und der Sehnsucht nach echten Veränderungen.