In einer Gesellschaft, in der Literatur nicht selten als ideologisches Instrument galt, spielte der Schriftsteller Karl May – trotz oder gerade wegen der Zensur – eine überraschend ambivalente Rolle. Trotz der ablehnenden Haltungsgrundsätze der DDR gegenüber scheinbar „trivialer“ Unterhaltung blieb der Mythos um Winnetou und Old Shatterhand lebendig, wenn auch im Verborgenen.
Ein ambivalentes Kulturerbe
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann in der sowjetischen Besatzungszone eine Phase, in der Karl May als „Unperson“ galt. Zwar wurden seine Werke nicht explizit verboten, doch passten sie nicht in das streng reglementierte Kulturprogramm einer sozialistischen Gesellschaft. Während sich offizielle Institutionen und Kulturpolitiker vehement gegen die westliche Abenteuerliteratur stellten, fand der Autor auf inoffiziellen Pfaden und im privaten Kreis seinen heimlichen Kreis von Bewunderern.
Das Ringen um Anerkennung
Ein erster Versuch, Karl Mays Erzählungen einem neuen Publikum zugänglich zu machen, gelang 1958. Der Verlag der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft veröffentlichte eine May-Erzählung in der Jugendreihe, die allerdings bald zum isolierten Einzelfall wurde. Die Reaktionen – von scharfem Tadel in Fachkreisen bis zu hitzigen Debatten in der Literaturszene – zeigten, wie gespalten die Meinung über den „Lügenbold aus Erzgebirge“ war.
Obwohl offizielle Zensur und ideologische Bedenken Karl Mays Ruf beeinträchtigten, konnte sich sein Kult fortsetzen. Altbestände, oft aus Radebeul, wurden zu begehrten Sammlerobjekten. Familien hüteten ihre Exemplare in staubigen Regalen, um bei Gelegenheit ein Stück „freiheitlicher“ Literaturgeschichte zu bewahren.
Unerwartete Renaissance: Von Comics bis Rennpferde
Trotz – oder gerade wegen – der offiziellen Skepsis fanden sich immer wieder kreative Umwege, um den Namen Karl May lebendig zu halten. Die Erfolgsgeschichte der DDR-Comicreihe „Mosaik“ beweist, dass sich das Interesse an der Abenteuerwelt von Winnetou und seinen Gefährten nicht unterdrücken ließ. So dienten gezeichnete Adaptionen der May-Welt als ein lockeres Ventil in einer Zeit strenger ideologischer Vorgaben.
Auch in anderen Bereichen kam es zu amüsanten Begebenheiten: So trug ein Rennpferd in den 1970er Jahren den Namen Winnetou, und selbst Hobbygärtner ließen sich vom Kulturphänomen inspirieren und kreierten essbare Varianten unter diesem Namen. Diese Beispiele zeigen eindrücklich, wie tief Karl Mays Faszination in das Alltagsleben der DDR-Einwohner eingedrungen war.
Wissenschaftliche Neubewertung und offizielle Öffnung
Erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte eine schrittweise Wende ein: Offizielle wissenschaftliche Auseinandersetzungen und die erste positive literaturkritische Bewertung durch Experten – exemplarisch zu nennen ist Heiner Plauls Beitrag im Jahre 1979 – legten den Grundstein für eine allmähliche Rehabilitierung des Autors.
Der eigentliche Wendepunkt kam in den frühen 1980er Jahren: Mit verstärkten medientechnischen Aktivitäten im Fernsehen und Hörfunk kam es zu einer heimlichen, aber spürbaren Wiederbelebung der Karl-May-Kultur. Die Öffnung und damit die Liberalisierung der Kulturpolitik gipfelte letztlich in der Wiedererrichtung des Geburtshauses Karl Mays in Hohenstein-Ernstthal, das 1985 als Museum seine Tore öffnete und somit ein dauerhaftes Zeugnis des ambivalenten Erbes des Autors darstellt.
Schatten der Staatssicherheit
Selbst in dieser Phase der Öffnung ließ sich Karl May nicht gänzlich der ideologischen Bevormundung entziehen. Die Stasi, das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit, nahm die Faszination um den Autor zum Anlass, auch die literarische Szene zu überwachen. Spitzel mit Decknamen wie „Karl“, „Harald“ oder „Landgraf“ infiltrierten die Szene, um jeden Hinweis auf unerwünschte Einflüsse im Keim zu ersticken. Diese Überwachung unterstreicht den Grad, in dem selbst die scheinbar unpolitische Literatur der DDR zu einem Spiegelbild der gesellschaftlichen Kontrolle wurde.
Der Weg Karl Mays in der DDR war von Widersprüchen geprägt: Offizieller Verdrängung und ideologischer Ablehnung standen eine tiefe, beinahe subversive Begeisterung und heimliche Verehrung gegenüber. Während die Kulturpolitik der DDR versuchte, den Einfluss westlicher Literatur auf die sozialistische Gesellschaft zu minimieren, bewahrten sich die Bürger – ob durch das Sammeln alter Ausgaben, in Comics oder humorvollen Vergleichen – ein Stück Freiheit und Identität. Heute steht die Geschichte Karl Mays in der DDR als eindrückliches Beispiel für den oft schmalen Grat zwischen staatlicher Ideologie und der unbezähmbaren Kraft der Literatur.