Was am 28. Dezember 1978 als winterlicher Wetterumschwung begann, entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zur größten Naturkatastrophe in der Geschichte der DDR. Ein 72-stündiger Schneesturm fegte über den Norden der Republik hinweg. Infolge dieses gewaltigen Sturms wurde die Insel Rügen komplett von der Außenwelt abgeschnitten – keine Züge, keine Straßen, kein Funkkontakt. Die Schneefront wanderte weiter südwärts, brachte den Verkehr zum Erliegen und sorgte für Chaos im ganzen Land. Binnen weniger Stunden versanken die Nordbezirke der DDR unter einem mehrere Zentimeter dicken Eispanzer. Was folgte, war ein Ausnahmezustand, der die Republik an ihre Grenzen brachte.
Von der Feierlaune in die Schneehölle
Die Menschen waren nicht vorbereitet. Weihnachten war ungewöhnlich mild gewesen, viele reisten sorglos in die Ferien – so auch Sabine Kökritz mit ihren Kindern. Ihr Trip von Demmin nach Binz wurde zur fast sechstägigen Odyssee. Eingeschlossen in einem Zug, der in einer meterhohen Schneewehe feststeckte, ohne Licht, Heizung oder Verpflegung, kämpfte sie mit ihren Kindern gegen die Kälte und die Verzweiflung. Ihre Geschichte steht exemplarisch für das, was viele in diesen Tagen erlebten.
Die Armee marschiert – spät, aber mit aller Macht
Während in Berlin noch frühlingshafte Temperaturen herrschten und Erich Honecker in Mosambik residierte, rief man in der Bezirksleitung Rostock erst Tage nach dem ersten Schneefall den Katastrophenfall aus. Es dauerte zu lange, bis Schwertechnik und Armee mobilisiert wurden. Erst als das ganze Land im Schnee versank und selbst die Kohleversorgung – Rückgrat der DDR-Energieversorgung – zusammenbrach, griff die Staatsmacht ernsthaft ein. Ein groß angelegter „Marschbefehl zur Braunkohle“ wurde ausgerufen, 15.000 Helfer mobilisiert.
Die Kraft der Solidarität
Was staatlicherseits verschlafen wurde, machten vielerorts Soldaten, Nachbarn und Freiwillige wett. Sie backten Brot, verteilten Fleisch, zogen Kinder auf Schlitten durch Schneemassen, holten Gebärende mit Hubschraubern ab – notfalls unter Lebensgefahr. Auf Rügen wurden in der Not 13 Kinder zu Hause geboren, Vieh musste roh gefüttert werden, weil Strom und Technik versagten. In vielen Haushalten war Bier und Stollen das letzte, was noch essbar war.
Die Propaganda und die Realität
Offiziell sprach das DDR-Fernsehen erst fünf Tage nach Beginn der Katastrophe über die Lage. Dann jedoch wurde die Eigeninitiative der Bürger zur sozialistischen Heldentat verklärt, Erfolge betont und Tote verschwiegen. Dabei waren die Folgen dramatisch: Über 100.000 Ferkel und Küken verendeten in den landwirtschaftlichen Anlagen, ganze Ernten fielen dem Schnee zum Opfer. Die wirtschaftlichen Schäden zwangen die Planwirtschaft auf Jahre hinaus zu Anpassungen.
Ein Land im Stillstand – und in Bewegung
Der Katastrophenwinter 1978/79 offenbarte die Schwächen eines zentralistischen Systems, das auf Eigeninitiative nur schlecht vorbereitet war – und doch überlebte die Bevölkerung dank eben jener. Die Bilder aus dieser Zeit – eingefrorene Züge, Stromausfall im ganzen Land, Panzer auf dem Weg nach Rügen – haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.
Mehr als nur ein Wetterereignis
Der Jahrhundertwinter war mehr als eine meteorologische Ausnahmeerscheinung – er war ein Härtetest für ein politisches System und ein Beweis für den Überlebenswillen der Menschen. Während die DDR-Führung versagte, wuchs in der Kälte der Zusammenhalt. Eine Lehre, die bis heute nachwirkt.