In einem exklusiven Gespräch berichtet Gregor Gysi über die ungewöhnliche Zusammensetzung und Dynamik der Volkskammer in den letzten Tagen der DDR. Der ehemalige Politiker erinnert sich an ein Parlament, das – entgegen westlicher Vorurteilen – keineswegs ein starrer Machtapparat war, sondern vielmehr ein „Laienparlament“, in dem der Austausch und das Hinterfragen an oberster Stelle standen.
Ein Parlament der Vielfalt und des Austauschs
„Die Volkskammer war, das stimmt, was da im Westen immer gesagt wurde, ja tatsächlich ein Laienparlament“, erinnert sich Gysi. In diesem Gremium, in dem fast keine Berufspolitiker zu finden waren, herrschte ein Klima, in dem sich die Mitglieder gegenseitig Fragen stellten und kritisch austauschten. Dieser lockere, fast experimentelle Umgang miteinander ist laut Gysi heute kaum mehr vorstellbar.
Anekdoten aus der parlamentarischen Praxis
Ein besonders lebhaftes Beispiel für den damaligen politischen Diskurs liefert Gysi:
„Die FDP kam zu mir mit ihren Anträgen und fragte, ob die so zulässig seien. Da habe ich gesagt, ich will aber den Antrag nicht. Und die sagt, ist ja egal – darum geht es ja nicht. Sie sollten bloß dafür sorgen, dass wir den Antrag richtig formulieren. Das habe ich dann auch gemacht.“
Dieses Erlebnis zeigt nicht nur den informellen Charakter der Zusammenarbeit, sondern auch, wie Fachwissen und die Bereitschaft zum Dialog eine zentrale Rolle spielten. Gysi betont, dass solch offene Gespräche damals alltäglich waren – eine Dynamik, die in der heutigen politischen Landschaft kaum mehr vorzufinden sei.
Die Rolle der „Eliten“ – Pfarrer und Rechtsanwälte
Trotz der ursprünglich angestrebten Erneuerung der Eliten in der Volkskammer war der Austausch von erfahrenen Persönlichkeiten unerlässlich. Gysi erläutert, dass man trotz des Wunsches, alte Eliten auszutauschen, auf eine bestimmte Art von Fachkompetenz angewiesen war. „Welche waren es? Zwei Gruppen. Pfarrer und Rechtsanwälte. Weil die nicht unmittelbar im Machtapparat waren“, erklärt er.
Diese beiden Gruppen brachten unterschiedliche Perspektiven ein: Die Rechtsanwälte sorgten für eine juristisch fundierte Herangehensweise, während die Pfarrer – als Vertreter theologischer und philosophischer Überlegungen – eine ebenso wichtige, wenn auch andere Sichtweise beisteuerten. Für Gysi war es essenziell, dass man zwar auf Eliten nicht verzichten kann, diese jedoch nicht direkt aus dem Machtzentrum stammen sollten, um eine ausgewogene Debatte zu gewährleisten.
Ein Blick in die Vergangenheit – Lehren für heute
Die Erinnerungen an die Volkskammer zeichnen das Bild eines Parlaments, das durch Vielfalt und den offenen Austausch geprägt war. Neben hitzigen Diskussionen wurden auch ungewöhnliche Arbeitszeiten in Kauf genommen – Gysi erinnert: „Wir tagten ja auch nachts und alles Mögliche.“ Diese Erfahrungen zeigen, wie sehr die damaligen parlamentarischen Prozesse von einer anderen politischen Kultur geprägt waren als heute.
Gregor Gysis Schilderungen laden dazu ein, über die Bedeutung von fachlicher Vielfalt und authentischem Dialog in der Politik nachzudenken. Das Interview bietet nicht nur einen historischen Rückblick, sondern regt auch dazu an, die heutigen politischen Strukturen kritisch zu hinterfragen und mögliche Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.