Leipzig, Mai 1990 – Die Stadt trägt die Spuren von 40 Jahren Sozialismus. Die Fassaden sind grau, viele Häuser verfallen, Straßen und Plätze wirken marode. Es sind Bilder, die heute kaum noch vorstellbar erscheinen. Doch genau so sah Leipzig aus, bevor die Einheit kam. Ein bisher unveröffentlichtes Video aus einem Privatarchiv zeigt diese Zeit in schonungsloser Authentizität.
Der Film wurde von einem Bekannten des Archivbesitzers mit einer VHS-Kamera aufgenommen – ein Luxus, den sich die Menschen in der DDR damals kaum leisten konnten. Die Aufnahmen dokumentieren das Stadtbild vor allem in den östlichen Stadtteilen Anger-Crottendorf, Reudnitz und Stötteritz. „Ich habe damals selbst in der Mölkauer Straße gewohnt. Das war unser Alltag“, erzählt der Zeitzeuge, der das Material nun veröffentlicht hat.
Besonders eindrücklich sind die Bilder der Autoschlange vor einer Tankstelle in der Eilenburger Straße. Tanken bedeutete in der DDR oft langes Warten. Ebenso eindrucksvoll sind die Ruinen und Trümmerhaufen, die überall das Stadtbild prägten. Viele Gebäude waren in einem desolaten Zustand – eine Folge jahrzehntelanger Vernachlässigung durch das sozialistische Regime.
Die Aufnahmen enden in der Nikolaikirche, einem symbolträchtigen Ort der friedlichen Revolution. Hier begannen die Montagsdemonstrationen, hier riefen die Menschen „Wir sind das Volk“. Auch der Besitzer des Archivmaterials war von Anfang an dabei. „Unsere Motivation war eine ganz andere als die derer, die diesen Spruch heute für sich beanspruchen“, betont er. Damals ging es um Freiheit, um Demokratie – Dinge, die heute selbstverständlich scheinen, es aber nicht waren.
Dieses Zeitdokument soll die Erinnerung wachhalten. Es zeigt, woher die Menschen in Leipzig kommen, was sie ertragen mussten – und warum sie den Mut hatten, sich gegen das Regime aufzulehnen. Und es zeigt, wie sehr sich die Stadt seitdem verändert hat. „Wer Leipzig heute sieht, kann kaum glauben, dass wir hier gelebt haben“, sagt der Zeitzeuge.
35 Jahre nach der Aufnahme sollen die Bilder nun öffentlich zugänglich sein. Für viele jüngere Generationen ist es eine Reise in eine unbekannte Vergangenheit – eine Mahnung, die Errungenschaften der Freiheit nicht als selbstverständlich zu betrachten. Denn erst der Blick zurück macht deutlich, was wirklich erreicht wurde.