Vom Handelnden zum Vollziehenden – Der Verlust des Spielraums in unserer modernen Welt

Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa stellt in seinen Beobachtungen und in seiner Arbeit fest, dass der Handlungsspielraum von Menschen im Alltag immer mehr verschwindet. Er hat das Gefühl, dass Menschen immer mehr von Handelnden zu Vollziehenden werden – und das ist ein großes Problem!

In Zeiten, in denen Digitalisierung und Automatisierung immer weiter voranschreiten, scheint es, als würden wir Menschen zunehmend unsere Rolle als aktive Gestalter unserer Umwelt verlieren – wir werden zu reinen Vollziehenden, zu ausführenden Agenten einer von Maschinen und Algorithmen dominierten Ordnung. Prof. Dr. Hartmut Rosa bringt es in seinen Überlegungen auf den Punkt: „Der Handlungsspielraum verschwindet: Von Handelnden zu Vollziehenden!“ Diese Aussage regt nicht nur zum Nachdenken an, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf die fundamentalen Veränderungen in unseren Lebens- und Arbeitswelten.

Ein eindrückliches Beispiel aus dem Sport illustriert diesen Wandel: Einst stand der Fußballschiedsrichter als eigenständiger, situationsabhängiger Entscheidungsträger im Mittelpunkt eines Spiels – er agierte mit einem gewissen Spielraum, der es ihm ermöglichte, menschliche Nuancen und komplexe Zusammenhänge zu berücksichtigen. Doch mit dem Einzug des Videobeweises verschwindet diese Diskretion fast gänzlich. Ein minimaler Berührungsvorgang, eine winzige Unregelmäßigkeit, kann dazu führen, dass ein Tor aberkannt wird – und damit nicht nur die Emotionen der Spieler, sondern auch die des Publikums auf den Kopf gestellt werden. Der Schiedsrichter, der einst in einer facettenreichen und dynamischen Situation eigenständig handelte, ist nun zum Vollzieher einer maschinell vorgegebenen Logik verkommen. Diese Tendenz, das Individuum aus dem Entscheidungsprozess zu verdrängen, spiegelt sich auch in vielen anderen Lebensbereichen wider.

Betrachten wir beispielsweise den Alltag in der Arbeitswelt: Mitarbeiter in Unternehmen sehen sich oftmals einer Flut an Vorschriften, standardisierten Abläufen und strikten Kontrollen gegenüber, die ihnen kaum Raum für Kreativität oder individuelle Entscheidungsfindung lassen. Die einst geschätzte Fähigkeit, in komplexen Situationen flexibel und situationsgerecht zu handeln – wie etwa ein Schaffner, der im Zug auf die unterschiedlichen Umstände der Fahrsituationen reagiert – wird zunehmend durch starre Regelwerke ersetzt. Die Folge ist ein Gefühl der Ohnmacht und Entfremdung: Der Mensch wird zum ausführenden Zahnrad in einem gigantischen Getriebe, dessen Funktionieren zwar für Effizienz und Sicherheit sorgt, jedoch zugleich den Verlust an Selbstwirksamkeit und persönlichen Freiräumen mit sich bringt.

Ein weiteres prägnantes Beispiel liefert der Alltag bei McDonald’s: Hier existieren Regeln, die strikt einzuhalten sind – sei es bei der Zubereitung eines Burgers oder im Umgang mit kleinen Missgeschicken, wie wenn einem Kind der Burger in die Hände fällt. Für den Mitarbeiter bedeutet genau diese Regelkonformität oft, dass ihm der Moment der zwischenmenschlichen Wärme und spontanen Flexibilität verwehrt bleibt, der ihm normalerweise ein Gefühl von Zufriedenheit und Zugehörigkeit vermitteln würde. Diese kleinen Freiräume – das freiwillige Entgegenkommen, das über den starren Rahmen hinausgeht – sind es, die den Menschen das Gefühl geben, als handelndes Subjekt anerkannt zu werden. Wird dieser Freiraum jedoch immer weiter beschnitten, so führt dies nicht nur zu Frustration und innerer Leere, sondern auch zu einer systematischen Entmündigung.

Der Versuch, überaus präzise Regeln einzuführen, verfolgt selbstverständlich edle Ziele. Unternehmen und Institutionen argumentieren, dass eine hohe Standardisierung für Gleichbehandlung, Transparenz und Vorhersehbarkeit sorgt. Jeder, ob Mitarbeiter, Kunde oder auch Zuschauer, kann sich darauf verlassen, dass alle Beteiligten den gleichen Regeln folgen. Doch was kostet uns diese Sicherheit? Ein hoher Grad an technischer Kontrolle und die ständige Überwachung entziehen uns den Spielraum, in dem Kreativität und individuelle Lösungen entstehen können. Letztlich führt dies zu einem Zustand, in dem Menschen sich selbst als austauschbare Teile eines mechanischen Systems wahrnehmen – ein Zustand, der sowohl in der Wirtschaft als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu einer massiven Entfremdung führt.

Die Erkenntnisse von Prof. Dr. Rosa treffen zudem einen Nerv, der weit über den Sport und den Arbeitsalltag hinausreicht. Wenn Menschen das Gefühl haben, in ihrem Handeln stets kontrolliert und an Vorgaben gebunden zu sein, schwindet nicht nur die Freude an der Arbeit, sondern auch das Bewusstsein, selbst einen Unterschied machen zu können. Studien zeigen, dass in Deutschland fast 75 Prozent der Mitarbeiter sich nicht ausreichend mit ihrem Unternehmen verbunden fühlen – ein Phänomen, das unweigerlich auch mit dem Verlust an Handlungsspielräumen zusammenhängt. Menschen streben danach, als aktive Gestalter ihrer Umwelt wahrgenommen zu werden. Sie möchten nicht länger bloß Anweisungen abarbeiten, sondern eigenverantwortlich handeln, Entscheidungen treffen und im Prozess auch Fehler machen dürfen, um daraus zu lernen.

Doch wie könnte eine alternative Organisation aussehen, in der der Mensch wieder mehr Handlungsspielraum genießt? Ein Ansatz liegt in der bewussten Zulassung von sogenannten „brauchbaren Illegalitäten“ – Freiräumen, in denen von starren Regeln abgewichen werden kann, um Raum für individuelle Kreativität zu schaffen. Das bedeutet nicht, dass Regeln grundsätzlich ignoriert oder gebrochen werden sollen, sondern vielmehr, dass es in ausgewählten Fällen einen gewissen Ermessensspielraum geben muss, der auch mal unkonventionelle Lösungen erlaubt. Dies könnte in Unternehmen bedeuten, dass Führungskräfte den Mitarbeitern gezielt Freiräume geben, in denen sie eigenverantwortlich Entscheidungen treffen dürfen – auch wenn das ein gewisses Risiko birgt, dass die Einhaltung der Normen nicht immer in jeder Situation gewährleistet werden kann.

Natürlich ist dieser Schritt mit Herausforderungen verbunden. Eine größere Flexibilität in Entscheidungsprozessen kann dazu führen, dass manche den Spielraum systematisch ausnutzen. Doch gerade in einer dynamischen und sich stetig wandelnden Welt sollte das Risiko in Kauf genommen werden, um die Innovationskraft und die individuelle Kreativität nicht zu ersticken. Wie im Fußball, wo ein Schiedsrichter, der sich zu sehr auf technische Hilfsmittel verlässt, den emotionalen und dynamischen Kern des Spiels verliert, so droht auch in der Arbeitswelt das Abbild des Menschen, wenn er zu einem bloßen Vollzieher verkommt.

Ein weiteres Beispiel aus dem Alltag illustriert diese Problematik: Stellen Sie sich vor, ein Schaffner in einem Zug, der früher noch flexibel auf unterschiedliche Fahrsituationen reagieren konnte, sei heute gezwungen, starr nach Vorschrift zu handeln – egal, ob ein Schüler seine Fahrkarte vergessen hat oder ein älterer Mensch aus Versehen ein abgelaufenes Ticket zeigt. Die technische Vollzugsmacht nimmt dem Menschen die Möglichkeit, situationsgerecht zu entscheiden und damit eine individuelle, menschliche Note in den Alltag einzubringen.

Am Ende stehen wir vor der Herausforderung, die Balance zwischen Sicherheit, Gleichbehandlung und individueller Freiheit zu finden. Unternehmen, Bildungseinrichtungen und öffentliche Institutionen sollten den Mut aufbringen, wieder Räume zu schaffen, in denen der Mensch als handelndes Subjekt anerkannt wird. Es gilt, neue Kennzahlen zu etablieren – Kennzahlen, die nicht nur den wirtschaftlichen Erfolg messen, sondern auch die Zufriedenheit und Kreativität der Menschen berücksichtigen. Wachstum und Effizienz sind wichtige Ziele, doch dürfen sie niemals den Preis für den Verlust der menschlichen Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit darstellen.

Wir müssen wieder Räume schaffen, in denen der Mensch nicht nur ein Vollzieher, sondern ein aktiver Gestalter seiner Umwelt ist – in dem er Fehler machen, kreativ sein und Verantwortung übernehmen darf. Nur so können wir verhindern, dass der Mensch zum austauschbaren Zahnrad in einem gigantischen System wird, das zwar reibungslos funktioniert, aber letztlich den Funken der Selbstbestimmung erstickt. Die Erkenntnisse von Prof. Dr. Hartmut Rosa fordern uns dazu auf, den Verlust des Handlungsspielraums als eines der zentralen Probleme unserer modernen Gesellschaft zu erkennen und aktiv Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Denn in der Vielfalt und Unvollkommenheit des Handelns liegt der Schlüssel zu einer lebendigen und zukunftsorientierten Welt.

Autor/Redakteur: Arne Petrich
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