Die Schmalfilmaufnahmen von der Seebrücke in Sellin auf Rügen aus dem Jahr 1965 bieten uns einen seltenen Einblick in eine vergangene Zeit und einen besonderen Ort. Die Aufnahmen entstanden während eines Urlaubs einer Schülergruppe der Karl-Marx-Oberschule aus Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), die im Touristenlager der Schule im nahegelegenen Baabe untergebracht war. Die Schüler, die damals im Alter zwischen 14 und 18 Jahren waren, nutzten die Sommerferien für diesen Ausflug an die Ostsee, eine begehrte Urlaubsregion der DDR.
Die Seebrücke Sellin – Ein Wahrzeichen im Wandel der Zeit
Die Seebrücke in Sellin, das Wahrzeichen des Ostseebades, hat eine lange und wechselvolle Geschichte hinter sich. Die erste Seebrücke mit einem Brückenhaus wurde im Jahr 1906 errichtet. Diese frühe Konstruktion diente nicht nur als Flaniermeile für die Urlaubsgäste, sondern auch als Anlegestelle für Ausflugsschiffe. Die Schönheit und Eleganz der Brücke zogen viele Besucher an, die sich über den 508 Meter langen Holzsteg dem offenen Meer nähern konnten. Doch die Naturgewalten setzten der Brücke immer wieder zu: In den folgenden Jahrzehnten wurde sie mehrfach durch Eisgang und Brände zerstört und wieder aufgebaut.
1925 erfolgte der Bau einer neuen Seebrücke und eines neuen Brückenhauses, das sich durch seine Architektur im Stil der 1920er Jahre auszeichnete und zu einem festen Bestandteil der Selliner Strandpromenade wurde. Mit ihrem eindrucksvollen Brückenhaus, das von Restaurants und Veranstaltungsräumen geprägt war, bot die Brücke einen zentralen Treffpunkt für Urlauber und Einheimische. Besonders die Aufnahmen von 1965 zeigen das Brückenhaus in seiner vollen Pracht: Menschen flanieren, genießen die Aussicht auf das Meer und lassen sich den frischen Ostseewind um die Nase wehen.
Sturmfluten und der langsame Verfall
Doch das idyllische Bild trügt, denn die Seebrücke hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einige schwere Zeiten hinter sich. Im März 1942 wurde sie erneut durch einen heftigen Eisgang beschädigt, der die hölzerne Struktur zerstörte, nur die Plattform mit dem Brückenhaus blieb erhalten. Diese Plattform diente weiterhin als beliebter Aufenthaltsort und bot einen fantastischen Blick auf die Ostsee, auch wenn der Zugang zur Seebrücke selbst eingeschränkt war. Das im Film dokumentierte Brückenhaus aus den 1920er Jahren blieb über viele Jahrzehnte das Wahrzeichen von Sellin, das bei Touristen wie auch Einheimischen fest im Gedächtnis verankert war.
Im Laufe der 1960er Jahre verfiel die Brücke zunehmend. Die DDR-Behörden hatten andere Prioritäten, und so wurde der Erhalt der maroden Brücke vernachlässigt. Sturmfluten, die den Küstenabschnitt in den Wintermonaten heimsuchten, setzten der Brücke weiter zu. Schließlich traf eine besonders verheerende Sturmflut im Jahr 1971 die Region und zerstörte die Strandpromenade sowie Teile des Brückenhauses. Aufgrund der zunehmenden Baufälligkeit wurde das Brückenhaus kurz darauf gesperrt. Obwohl es ein wichtiger Teil der Geschichte von Sellin war, konnten die damaligen Bauzustände nicht mehr instand gesetzt werden. 1978 erfolgte schließlich der Abriss der verbliebenen Reste der Seebrücke, ein herber Verlust für das Ostseebad.
Der Neubeginn ab den 1990er Jahren
Nach der Wende in den frühen 1990er Jahren kehrte das Ostseebad Sellin zu seinen touristischen Wurzeln zurück. Mit der neu gewonnenen Freiheit kam auch der Wunsch auf, die historische Seebrücke wieder aufzubauen und das Wahrzeichen des Ortes wiederzubeleben. Ab 1992 begann die aufwendige Rekonstruktion der Brücke, die in mehreren Bauabschnitten realisiert wurde. Die Architekten orientierten sich an den historischen Vorbildern der 1920er Jahre, um die Seebrücke in ihrem ursprünglichen Glanz wieder auferstehen zu lassen.
1998 war es dann endlich so weit: Die neue Seebrücke mit dem charakteristischen Brückenhaus wurde feierlich der Öffentlichkeit übergeben. Die Rekonstruktion gilt bis heute als ein gelungenes Beispiel für die Wiederbelebung historischer Bauten, die trotz ihrer wechselvollen Geschichte den Charme der Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden. Mit einer Länge von 394 Metern bietet die neue Seebrücke wieder einen beliebten Anlaufpunkt für Spaziergänger, Touristen und Einheimische, die sich an der frischen Seeluft und der grandiosen Aussicht erfreuen.
Die Schmalfilmaufnahmen als Zeitdokument
Die Schmalfilmaufnahmen von 1965 sind nicht nur eine Erinnerung an die Jugendtage einer Schülergruppe, sondern auch ein bedeutendes historisches Dokument, das den Wandel der Seebrücke Sellin eindrucksvoll festhält. Sie zeigen eine Zeit, in der die Seebrücke noch ein zentraler Bestandteil des Badelebens an der Ostsee war und geben einen nostalgischen Einblick in die Urlaubszeit der DDR-Bürger. Heute erinnern die Bilder daran, wie sich die Seebrücke von einem beliebten Treffpunkt über den Verfall bis hin zur Wiederauferstehung zu einem der bekanntesten Wahrzeichen Rügens entwickelt hat.