Willensbildung in kommunistischen Parteien: Vom Zentralismus zur Demokratie

Kommunismus und Demokratie - Was war der Kommunismus? Wir fragen Jörg Baberowski

Die innerparteiliche Willensbildung in kommunistischen Parteien zeigt sich historisch in einer Vielzahl von Modellen, die je nach Land und politischen Umständen stark variieren können. Ein zentrales Beispiel für die Unterschiede in der innerparteilichen Organisation ist das sowjetische Modell, das den sogenannten demokratischen Zentralismus als Leitprinzip etablierte. Diese Methode, die im Wesentlichen die Entscheidungsfindung zentralisierte und die Autorität der Parteiführung stärkte, hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Struktur und Funktionsweise kommunistischer Parteien in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks. Die Idee des demokratischen Zentralismus bedeutete, dass Diskussionen und Debatten zwar innerhalb der Partei möglich waren, aber sobald eine Entscheidung durch die Zentrale gefällt wurde, wurde diese nach unten weitergegeben und von den unteren Parteiebenen ohne Widerspruch umgesetzt.

Ein solches Modell war jedoch nicht universell. In Westeuropa, speziell in Ländern wie Frankreich und Italien, verfolgten die kommunistischen Parteien eine wesentlich demokratischere Organisationsform. Die Französische Kommunistische Partei (PCF) und die Italienische Kommunistische Partei (PCI) waren von der Struktur her eher mit liberalen oder sozialdemokratischen Parteien vergleichbar. Beide mussten sich an die politischen Gegebenheiten einer liberalen Demokratie anpassen und sich an den Wahlprozessen beteiligen, was zu einer breiteren und partizipativeren Entscheidungsfindung innerhalb der Partei führte. Ihre innerparteilichen Mechanismen unterschieden sich daher deutlich von denjenigen Parteien, die, wie in der Sowjetunion, Teil des Herrschaftsapparates wurden.

Eine bemerkenswerte Entwicklung innerhalb der kommunistischen Parteien war die Veränderung der Bolschewiki. Vor der Oktoberrevolution 1917 war die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Bolschewiki) eine relativ offene, diskussionsfreudige Organisation, die Debatten und unterschiedliche Meinungen innerhalb ihrer Reihen zuließ. Mit dem Machterhalt nach der Revolution wandelte sich jedoch der Charakter der Partei. Sie wurde de facto von einer revolutionären Partei zu einem Herrschaftsapparat, der stark hierarchisch organisiert war. Die eigentliche demokratische Willensbildung verschwand, und die zentrale Führung übernahm die Kontrolle über alle politischen Entscheidungen. Auf lokaler Ebene gab es kaum noch eigenständige Entscheidungen; die Auswahl von Kandidaten und die Beförderungen in höhere Parteiebenen wurden zentral gesteuert, was mit dem Konzept der Bürokratie vergleichbar ist, wie es auch in staatlichen Institutionen üblich ist.

Dieser Wandel von einer demokratischen Partei hin zu einem zentralistisch geführten Apparat, der sich über die gesamte Sowjetunion erstreckte, wurde als “demokratischer Zentralismus” bezeichnet, obwohl er kaum noch etwas mit Demokratie im eigentlichen Sinne zu tun hatte. Tatsächlich spiegelte dies eher die Organisation eines Herrschaftsapparates wider. Der politische Wettbewerb und die partizipative Entscheidungsfindung innerhalb der Partei wurden durch eine strikte Hierarchie ersetzt.

Im Gegensatz dazu waren die kommunistischen Parteien in Westeuropa gezwungen, sich den politischen Realitäten ihrer jeweiligen Demokratien anzupassen. In Frankreich und Italien entwickelten sich die kommunistischen Parteien zu bedeutenden politischen Kräften, die sich an Wahlen beteiligten und politische Allianzen bildeten. Die PCI beispielsweise erlebte in der Nachkriegszeit einen ideologischen Wandel und versöhnte sich mit der Idee der Demokratie. Diese Partei strebte nicht länger die Diktatur des Proletariats an, sondern suchte nach Wegen, den Sozialismus durch demokratische Prozesse zu fördern. Ähnlich verhielt es sich mit der PCF, die sich, insbesondere unter der Führung von Georges Marchais in den 1970er und 1980er Jahren, als Teil der demokratischen Ordnung Frankreichs etablierte.

Interessanterweise spielte die sozialdemokratische Bewegung in Europa eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der kommunistischen Parteien. Die Sozialdemokratie kann als die “Mutter aller sozialistischen Bewegungen” angesehen werden. Sie bot Lenin und anderen Kommunisten ein frühes Vorbild, insbesondere die deutsche Sozialdemokratische Partei (SPD). Doch während der Ersten Weltkrieg und die politischen Spaltungen danach die Wege von Sozialdemokraten und Kommunisten trennten, blieb die sozialdemokratische Idee einer parlamentarischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung ein zentraler Punkt in der politischen Landschaft Europas.

Im Gegensatz zu den kommunistischen Parteien in Entwicklungsländern, wie Indien oder Lateinamerika, wo soziale Ungleichheiten und Armut weiterhin fruchtbaren Boden für kommunistische Ideen bieten, mussten sich die kommunistischen Parteien in entwickelten Demokratien den Gegebenheiten ihrer Zeit anpassen. Sie entwickelten sich zu Parteien, die in demokratischen Wahlen antreten und sich mit anderen politischen Kräften auseinandersetzen mussten.

Ein Beispiel dafür ist Indien, wo der Nährboden für kommunistische Bewegungen tief in ungelösten sozialen Problemen verankert ist. In solchen Ländern verspricht der Kommunismus immer noch Modernisierung, Fortschritt und eine gerechtere Verteilung des Wohlstands.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die innerparteiliche Willensbildung in kommunistischen Parteien stark von den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Länder beeinflusst wurde, in denen sie agierten. Während in totalitären Regimen der demokratische Zentralismus zur Norm wurde, entwickelten sich kommunistische Parteien in demokratischen Gesellschaften zu sozialdemokratischen Akteuren, die sich an den politischen Gegebenheiten orientierten. Der Kommunismus, so unterschiedlich er in verschiedenen Teilen der Welt ausgeübt wurde, bleibt ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaftsstrukturen, in denen er sich entwickelte.

Weitere aktuelle Beiträge