Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk erinnert sich an die Arbeit und die Herausforderungen in der Berichterstattergruppe zum Thema „Alltag in der DDR“ in der zweiten Enquete-Kommission.
Kowalczuk beschreibt im Gespräch seine Reflexion über die Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen sich die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur bei der Untersuchung des „Alltags in der DDR“ gegenübergestellt sah. Die Kommission, die zwischen 1992 und 1998 tätig war, hatte den Auftrag, die Strukturen und Mechanismen der SED-Diktatur zu analysieren. Ein Teil ihrer Arbeit sollte sich mit dem Alltag der Menschen in der DDR beschäftigen, was sich jedoch als komplexer und umstrittener Bereich herausstellte.
Im Gespräch hebt Kowalczuk hervor, dass es innerhalb der Kommission erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber gab, wie der Alltag in der DDR wissenschaftlich zu erfassen und darzustellen sei. Diese Differenzen führten dazu, dass es der Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema beschäftigte, nicht gelang, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Dies lag unter anderem daran, dass die beteiligten Wissenschaftler und Experten aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema blickten und dadurch aneinander vorbeiredeten.
Die zentrale Kritik richtet sich gegen die Art und Weise, wie der Alltag der Menschen in der DDR innerhalb der Kommission behandelt wurde. Er bemängelt, dass die Diskussionen oft von einer vorgefassten negativen Sichtweise auf das DDR-System geprägt waren, in der die Anpassung der Menschen an die Gegebenheiten des Systems als etwas Negatives dargestellt wurde. Dieser Ansatz führte dazu, dass der Alltag der Mehrheit der DDR-Bürger, der von kleinen alltäglichen Anpassungen und Überlebensstrategien geprägt war, in den Diskussionen der Kommission kaum Beachtung fand.
Ein weiteres Problem, das Kowalczuk anspricht, ist die bis heute andauernde Debatte über die Gefahr der Verharmlosung der DDR, wenn man sich intensiv mit dem Alltag in der DDR auseinandersetzt. Kritiker dieser Perspektive argumentieren, dass es wichtig sei, den Alltag zu verstehen, um die Mechanismen einer Diktatur vollständig zu begreifen. Nur durch die Untersuchung der täglichen Lebensrealitäten könne man erkennen, wie eine Diktatur tatsächlich funktionierte.
Kowalczuk schließt mit der Feststellung, dass diese differenzierte Erkenntnis in der Kommission damals noch nicht ausreichend vorhanden war. Es fehlte an operationalen Ansätzen, um den Alltag in der DDR angemessen in die wissenschaftliche Analyse der Diktatur einzubeziehen.
Im Videogespräch reflektiert Kowalczuk die persönliche Motivation und die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Arbeit in der zweiten Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Verfasser betont, dass es ihm zunächst um eine Abrechnung mit dem System und denjenigen ging, die es repräsentierten. Diese Abrechnung war für ihn von großer Bedeutung, da er zu jener Zeit wenig Verständnis für die Mitläufer des Systems hatte. Im Laufe der Zeit änderte sich jedoch seine Sichtweise.
Die Enquete-Kommission sollte nicht nur die Vergangenheit aufarbeiten, sondern auch praktische Schlussfolgerungen für die Gegenwart und Zukunft ziehen, etwa im Umgang mit Gedenkstätten und der weiteren Aufarbeitung der SED-Diktatur. Es wird jedoch festgestellt, dass zentrale Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Elitenrekrutierung im Osten, die heute als entscheidend für den Zustand Deutschlands angesehen werden, damals nicht im Fokus standen.
Ein klarer Unterschied zwischen der ersten und zweiten Enquete-Kommission wird hervorgehoben. Während die erste Kommission intensives mediales Interesse erfuhr, wurde die Arbeit der zweiten Kommission weniger öffentlich diskutiert. Dennoch brachte die erste Kommission wichtige Ergebnisse, wie die Gedenkstättenkonzeption und den Gesetzentwurf für die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die bleibende Leistungen darstellen.
Zusammenfassend wird deutlich, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur ein komplexer Prozess war, der in der ersten Phase stark medial begleitet wurde, während sich in der zweiten Phase ein Rückgang des öffentlichen Interesses abzeichnete. Die Diskussion über die richtige Balance zwischen Abrechnung und konstruktiver Aufarbeitung bleibt weiterhin aber bis heute relevant.
Hintergrund. Am 28. November 1991 forderte der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel in einer Presseerklärung die Einsetzung einer „Enquete-Kommission zur politischen Aufarbeitung von 40 Jahren Vergangenheit der DDR“ und stieß damit auf große Zustimmung. Im März 1992 stimmte der Bundestag dem Antrag fraktionsübergreifend zu, so dass zwei Monate später die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (1992–1994) ihre Arbeit aufnehmen konnte. Als sich nach zwei Jahren zeigte, dass die Arbeit noch nicht beendet werden konnte, beschloss der Bundestag die zweite Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (1995–1998) einzurichten. enquete-online.de