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Muldentalbahn erwacht zu neuem Leben: Jungfernfahrt nach über 22 Jahren Stillstand

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Glauchau/Wolkenburg – Nach mehr als zwei Jahrzehnten ohne durchgehenden Zugverkehr ist am 29. Mai 2025 auf einem Teilstück der historischen Muldentalbahn wieder ein Zug gefahren. Die Interessengemeinschaft Traditionslok „58 3047“ e.V. veranstaltete eine „Jungfernfahrt“ auf dem oberen Abschnitt der einst Glauchau mit Wurzen verbindenden Strecke. Für exakt 22 Jahre, 9 Monate und 16 Tage – oder laut einer anderen Quelle nach 22 Jahren – lag dieser Teil der legendären Bahnstrecke brach.

Der Sonderzug verkehrte zwischen Glauchau-Reinholdshain und Wolkenburg im Muldental, mit planmäßigen Halten in Remse und Waldenburg. Laut Ankündigung der Veranstalter sollte der Zug von der vereinseigenen Dampflok 35 1097 gezogen werden. Berichte nach der Fahrt, unter anderem vom Förderverein Muldentalbahn e.V. und einem Forumsteilnehmer, geben jedoch an, dass die Dampflok 23 1097 in Richtung Wolkenburg fuhr und die Lok 102 182 den Zug in Richtung Glauchau zog. Der Sonderzug verkehrte einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag.

Der Fahrplan der „Jungfernfahrt“ sah die Abfahrt in Glauchau-Reinholdshain für Pendel 1 um 10:00 Uhr und für Pendel 2 um 14:00 Uhr vor. Die Ankunft in Wolkenburg war jeweils um 11:20 Uhr bzw. 15:20 Uhr geplant. Die Rückfahrten begannen in Wolkenburg um 12:00 Uhr und 16:00 Uhr, mit Ankunft in Glauchau-Reinholdshain um 13:20 Uhr bzw. 17:20 Uhr. Die Fahrkarten für die 2. Klasse auf der Gesamtstrecke von Glauchau-Reinholdshain nach Wolkenburg kosteten 39,- € für Erwachsene und 19,- € für Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren. Der Zug war ausverkauft. Ein Zustieg in Glauchau war an einem provisorischen „Bahnsteig“ aus Gerüstbauteilen in Glauchau-Reinholdshain möglich, da der eigentliche Bahnhof Glauchau (noch) nicht angefahren werden kann/darf.

Die Muldentalbahn hat eine bewegte Geschichte. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand der Wunsch nach einem Eisenbahnanschluss im Tal der Burgen, nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Sandgruben und Papierfabriken entlang der Zwickauer Mulde. Die erste durchgehende Bahnstrecke verlief zunächst über Narsdorf, um Anschluss an die Hauptbahn Neukieritzsch–Chemnitz zu erhalten, bevor einige Jahre später die baulich aufwendige Trasse entlang der Mulde errichtet wurde. Bahnhöfe waren mit umfangreichen Güteranlagen ausgestattet, da seinerzeit fast alle Waren auf der Schiene transportiert wurden. Auch der Arbeiter- und Ausflugsverkehr war von Bedeutung. Dampflokomotiven waren auf den Strecken um Rochlitz bis in die 1980er-Jahre ein alltäglicher Anblick. Mit den politischen Umbrüchen im Jahr 1989 brach der Verkehr auf der Muldentalbahn und ihren Nebenstrecken ein. Der letzte Zug auf dem verbliebenen Betriebsabschnitt Glauchau – Wechselburg fuhr schließlich am 13. August 2002.

Nach der Einstellung des regulären Verkehrs war die Strecke über viele Jahre hinweg nicht mehr befahrbar und wuchs stark zu. Obwohl die Gleise nach Einschätzung eines Beobachters noch „huglig und buglig“ aussehen, fanden kurz vor der Jungfernfahrt noch intensive Freimachungs- und Instandsetzungsarbeiten statt. Die Fahrt bis Wolkenburg stellt nun den ersten erreichbaren Abschnitt für Eisenbahnfahrzeuge seit vielen Jahren dar. Die „Jungfernfahrt“ wurde von vielen Beteiligten und Fahrgästen als wichtiger erster Schritt in Richtung einer möglichen Reaktivierung der Strecke interpretiert. Viele der Passagiere äußerten den Wunsch nach einer Wiederinbetriebnahme, den sie lange für unrealistisch hielten. Die Idee, Rochlitz wieder an das Schienennetz anzubinden, ist dabei nicht neu; ein dort ansässiges Unternehmen könnte ein interessierter Kunde sein. Eine vollständige Reaktivierung wird von einigen erhofft, von anderen jedoch eher als Utopie angesehen. Die Notwendigkeit der Mitwirkung der Landkreise wird hervorgehoben, allerdings wird auch angemerkt, dass diese aufgrund ihrer Beteiligungen an Busgesellschaften oft wenig Interesse an durch das Land bestellten ÖPNV-Leistungen haben könnten.

Auch wenn der durchgehende Zugverkehr eingestellt wurde, lebt die Strecke abschnittsweise touristisch weiter. Seit 2010 werden an ausgewählten Wochenenden sogenannte Schienentrabifahrten angeboten. Diese Fahrten, betrieben vom Verein Sächsischer Eisenbahnfreunde e.V., nutzen Gleiskrafträder des Typs 1 – ehemalige Inspektionsfahrzeuge der Deutschen Reichsbahn, die wegen ihres Trabant P50-Motors als „Schienentrabi“ bekannt wurden. Sie verkehren auf einem rund 11 km langen Abschnitt zwischen Rochlitz, Wechselburg und Penig, mit Start und Ziel in Rochlitz. Ein besonderes Erlebnis dabei ist die Überquerung der Muldebrücke nahe dem Rochlitzer Schloss. Entlang der Strecke befindet sich zudem das historische Stellwerk Wechselburg, das von einem Verein betreut wird und besichtigt werden kann.

Die erfolgreiche Jungfernfahrt am 29. Mai 2025 markiert somit ein positives Signal für die Eisenbahnfreunde und die Region und weckt Hoffnungen auf die Zukunft der Muldentalbahn.

DDR-Wunderwerke im Harz – Das Harzer Bikeschmiedefestival

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Wasserleben/Harz. Das Harzer Bikeschmiedefestival ist bekannt für technische Herausforderungen und außergewöhnliche Exponate. In diesem Jahr zog besonders ein Gespann die Blicke auf sich: ein selbstgebauter Trecker aus DDR-Zeiten, begleitet von einem Kult-Wohnwagen, liebevoll als „Düben Ei“ bezeichnet. Beide Fahrzeuge gehören Herbert, einem langjährigen Freund und Wegbegleiter der „Harzer Bikerschmiede“.

Herbert, der normalerweise mit einer „Staatskarosse“ auf dem Festival erscheint, brachte diesmal diese ganz besonderen Stücke mit. Er und Tilo, der Veranstalter, verbindet eine jahrelange Freundschaft, in der sie gemeinsam „mockeln, basteln und schrauben“. Herbert unterstützte die Bikerschmiede in der Vergangenheit auch beim Bau des Panzerbikes und konnte mit den großen Maschinen seiner einstigen Dreherei spezielle Teile anfertigen. Seinen großen Betrieb hat Herbert mittlerweile aufgegeben und zog sich in seine Werkstatt zurück, wo er sich seinen Oldtimern widmet. Eine Entscheidung, die er vor der Coronakrise im Jahr 2018 traf und angesichts der heutigen „verrückten Zeiten“ und der „dummen Politik“ als genau richtig empfindet.

Das Highlight von Herberts diesjähriger Präsentation ist zweifellos der selbstgebaute Trecker, den er als „Unikum“ beschreibt. Dieses Fahrzeug sollte ursprünglich auf dem Schrottplatz landen. Es stammt aus Brandenburg, wo Herberts Neffe ihn von jemandem geschenkt bekam, der ihn verschrotten wollte. Der Neffe, ebenfalls ein Techniker, verwahrte den Trecker zunächst in seiner Garage. Als dort Platz geschaffen werden musste, übernahm Herbert das Unikat.

Acht Jahre lang stand der Trecker unberührt in einer Schmiede in Wasserleben. Erst im Frühjahr dieses Jahres nahm sich Herbert seiner an, nachdem sein Neffe bemerkte, dass der Trecker nicht lief. Herbert war überrascht, denn „ein Dieselmotor läuft immer oder ist kaputt“. Tatsächlich sprang er zunächst an, lief aber nicht lange. Die Fehlersuche begann. Weder die Handpumpe noch der Filter waren die Ursache dafür, dass kein Sprit ankam. Das Problem entpuppte sich als ein festsitzender Nocken, der den Hebel zur Bedienung der Pumpe blockierte. Dieser Hebel war „fester als fest“. Mit Rostlöser und Geduld konnte Herbert das Teil lösen – „einmal gekloppt, klack und nun läuft die Kiste“.

Der Trecker ist in vielerlei Hinsicht „unnormal dran, aber es funktioniert“. Die Instrumente sind improvisiert: Das „Navigationsgerät“ orientiert sich am Wind. Der Tacho ist ein rotierendes Teil, bei dem man Umdrehungen über 50 Meter zählen muss, um die Geschwindigkeit (bis maximal 25 km/h) zu bestimmen. Ein eigenwilliger Abstandswarner, inspiriert von einem tschechischen Video, meckert, wenn man einem Hindernis zu nahe kommt. Der Motor ist ein luftgekühlter V2-Diesel aus der DDR, Baujahr 1972 – das einzige klar identifizierbare Teil mit Jahreszahl. Das Getriebe stammt von einem P2 und wird als passend für das Fahrzeug beschrieben, auch wenn Allrad vorne nicht umgesetzt wurde. Die Lenkung wird als „hervorragend gelöst“ beschrieben, wenn auch wohl nicht TÜV-konform. Eine besondere Eigenkonstruktion ist die Luftfederung des Sitzes, die Herbert entwickelt hat und die „top funktioniert“. Solche Fahrzeuge seien „Wunderwerke Eigenmarke Eigenbau“, geschaffen von „Freaks“ in ihren Werkstätten.

Am Trecker hängt ein weiteres Stück „absoluter Ostkult“: ein Campingwagen, bekannt als „Düben Ei“. Dieser zeichnet sich durch minimalsten Raum aus und verfügt über ein Bett, das sich aus einem Tisch umbauen lässt. Im Inneren ist noch alles original. Die Wände sind mit weichem Material verkleidet. Beim Betreten riecht man laut Tilo noch den „Osten raus“. Dies liege an den damals verwendeten Kunststoffen mit ihrer Langzeitwirkung, was als „Chlorun live“ umschrieben wird. Die Form des Wohnwagens wird als „richtig schön“ bezeichnet und sorgt für „richtig gute Laune“.

Herbert drehte mit seinem Gespann eine Runde über den Platz und präsentierte die ungewöhnlichen Fahrzeuge den begeisterten Besuchern. Währenddessen arbeitete die Crew eifrig daran, das ebenfalls erwartete Panzerbike zum Start zu bringen. Das Festival bot einmal mehr eine beeindruckende Mischung aus Technikgeschichte und kreativen Eigenbauten, die das Herz jedes Technikliebhabers höherschlagen lassen.

Mehr als nur Sattmacher: Unvergessene Fast-Food-Klassiker der DDR

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Fast Food in der DDR – das war anders als im Westen. Es ging nicht um Burger mit exotischen Saucen, sondern um herzhafte, schnelle Gerichte, die oft das Beste am Tag waren. Diese Imbisse standen für unkomplizierten Genuss und waren fester Bestandteil des Alltags, ob unterwegs, auf dem Rummel, bei Arbeiterfestspielen oder einfach am Imbisstand. Viele dieser Gerichte waren schnell zubereitet, aber nie lieblos, und einige sind bis heute beliebte Klassiker.

Ein unangefochtener König der ostdeutschen Fast-Food-Kultur war der Bräuler, wie das Brathähnchen genannt wurde. Außen knusprig mit einer würzigen Haut, innen saftig und zart, wurde er meist mit den Händen gegessen. Es gab ihn in speziellen Bräulerbars, am Imbiss oder bei Großveranstaltungen. Serviert wurde er oft mit Kartoffelsalat, einer Semmel und einem Klecks Bautzner Senf. Der Bräuler galt als greifbarer Luxus, ein kleiner Feiertag im Alltag.

Eine einzigartige Eigenentwicklung war die Ketwurst, erfunden in Berlin. Länglich und saftig steckte eine heiße Wurst tief in einem vorgebohrten Brötchen. Dazu kam eine kräftige Sauce aus Tomate, Paprika, Senf, süßlich-würzig, manchmal leicht scharf. Sie war keine Nachahmung des Hotdogs, sondern etwas Eigenes, Ostdeutsches.

Der DDR-Burger, bekannt als Grilletta, wurde 1982 erfunden. Er bestand aus einem runden Sauerteigbrötchen und einer dicken Bulette aus Schweinefleisch. Manchmal kamen Ketchup, Senf oder Chutneysauce hinzu. Verkauft an Bahnhöfen, in Konsumimbissen und auf Festen, war sie warm, fettig und sättigend – das ostdeutsche Streetfood, bevor es das Wort gab.

Auch Pizza hatte eine ostdeutsche Variante: die Kruster. Eckig, rustikal und voller Kreativität, bestand sie aus einem Hefeteig, oft mit Roggenmehl. Belegt wurde sie mit dem, was verfügbar war: Jagdwurst, Zwiebeln, Letscho, Schmelzkäse, Paprika oder auch mal ein Ei. Sie beeindruckte nicht durch Exotik, sondern durch Fantasie und machte einfach satt und glücklich.

Die DDR-Currywurst unterschied sich ebenfalls: Sie wurde meist ohne Darm serviert, in Scheiben geschnitten und mit einer kräftigen Tomatensauce übergossen. Diese Sauce, ein Geheimnis jeder Bude, enthielt Tomatenmark, Zucker, Senf, Curry, Paprika und immer einen Hauch Liebe. Sie war ein Feierabendessen, ein Imbisstandklassiker, der nach Straße, Alltag und Leben schmeckte.

Nicht zu vergessen die Thüringer Roster, eine Wurst aus Schweinefleisch, gewürzt mit Majoran, Knoblauch und Kümmel. Sie wurde traditionell auf Holzkohle gegrillt. Serviert im Brötchen oder auf dem Teller, aber immer mit Senf, war die Roster kein Snack, sondern ein Ritual bei Veranstaltungen wie Fußballspielen oder Gartenfesten.

Die Bockwurst im Brötchen war überall zu finden: an der Kaufhalle, am Bahnhof, am Kulturhaus. Warm, schnell und verlässlich, wurde sie auf die Hand gegeben, oft dampfend und mit Bautzner Senf. Auch wenn das Brötchen nicht immer frisch war, die Wurst war es und sie machte satt.

Neben den deftigen Optionen gab es auch Süßes für unterwegs. Der Pfannkuchen, im Osten nie Berliner genannt (in Sachsen Kreppel, in Thüringen Ballen). Ein frittierter Hefeteigballen, gefüllt (meist mit Himbeere, Erdbeer, manchmal Pflaume) und gezuckert – ein Klassiker bis heute.

Abseits der klassischen Imbisse gab es auch Gerichte, die eher an die schnelle Küche zu Hause oder in Kantinen erinnerten, aber dennoch prägend waren. Dazu gehören die Karlsbaderschnitte, eine überbackene Weißbrotscheibe mit Butter, Tomatenmark, Schinken oder Jagdwurst und Käse. Oder die Armen Ritter, aus altem Weißbrot, Milch, Ei und Zucker zubereitet, in Butter gebraten und mit Zimt und Zucker bestreut – ein süßes Abendbrot, das nach Kindheit schmeckte.

Weitere Klassiker waren das Würzfleisch, eine volkstümliche Variante aus dem Osten, oft aus Hähnchen oder Schwein, in einer hellen Sauce mit Käse überbacken, serviert mit Toast. Oder der Gebackene Blumenkohl, paniert und frittiert, das vegetarische Hauptgericht, das in Schulküchen und bei Großeltern Standard war. Auch der Stramme Max (Brot, Schinken, Spiegelei) und die Speckfettbämme (Brot mit warmem Speckfett, Salz, Pfeffer, Zwiebeln und Gurke) waren schnelle, sättigende Abendbrot-Optionen.

Gerichte wie Quarkkeulchen (kleine Quark-Mehl-Küchlein, gebraten, serviert mit Apfelmus oder Kompott) und die süße Schokoladensuppe (Milch, Kakao, Zwieback, Speisestärke) waren ebenfalls beliebte schnelle Mahlzeiten, besonders bei Kindern.

Auch wenn viele dieser Gerichte einfach waren, sind sie bis heute unvergessen. Sie rochen nach Alltag, schmeckten nach Zuhause und bewiesen, dass schnelles Essen trotzdem voller Gefühl sein konnte. Sie waren mehr als nur Gerichte – sie waren oft ein Stück Zusammenhalt oder ein kleiner Glücksmoment im grauen Alltag.

Dresdner Trickfilmgeschichte lebt auf: Neue Dauerausstellung ehrt das DEFA-Studio

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Dresden hat eine reiche Geschichte im Animationsfilm, geprägt durch das DEFA Trickfilmstudio, das nur wenige Jahre nach Kriegsende in der noch zerstörten Stadt gegründet wurde. Dieses Studio hatte eine bedeutende Rolle dabei, dem Genre Film, insbesondere dem Kurz- und Animationsfilm, hier zur Blüte zu verhelfen. Figuren wie Jan und Tini, die Weihnachtsganz Auguste oder das Sandmännchen gehören zur Kindheit von Millionen Menschen. Auch Kurzfilme wie „der Alarm im Kassper Theater“, der gelegentlich noch in Mediatheken läuft, sind vielen bekannt.

Genau dorthin, an den Ort der Entstehung dieser Geschichten, führt eine neue Dauerausstellung in den Technischen Sammlungen Dresden zurück. Die Ausstellung mit dem Titel „Bild für Bild Phase für Phase“ macht das filmische Erbe des DEFA Trickfilmstudios, das heute vom Deutschen Institut für Animationsfilm (DIAF) bewahrt wird, für alle zugänglich. Sie soll besonders nachwachsenden Generationen zeigen, wie das damals war und wie viel Handwerk hinter einem einzigen Film steckt.

Die Ausstellung beleuchtet, wie ein Animationsfilm aus vielen Einzelteilen und Arbeitsschritten entstand und wie viel Arbeit darin steckte. Kurator Völker Pzold erklärt, dass es ihm und dem Team nicht nur um Nostalgie geht, sondern darum, die Vielfalt und Tiefe klassischer Animationstechniken verständlich zu machen. Die Ausstellung versucht, Archivschätze in einen Zusammenhang zu stellen und die Frage „Was ist eigentlich Animationsfilm, was ist Trickfilm?“ zu beantworten. Dies geschieht mit viel originalem Artwork, Artefakten, Puppen und Grafiken.

Traditionelle Tricktechniken wie Puppentrick, Zeichentrick, Legetrick (oder Flachfigurentrick) und Silhouettentrick werden plastisch dargestellt und erklärt. Die Ausstellung will diese alten Techniken für das Publikum wieder sichtbar machen und deren Funktionsweise erläutern. Kurator Jürg Hermann hebt hervor, dass Animation vor allem ein Handwerk war, ehe digitale Bilder erzeugt werden konnten. Es handelte sich um „manuelle Animation“, bei der Bild für Bild mit der Hand geformt, geschoben oder gelegt wurde. Das Ergebnis konnte man erst sehen, wenn der Film fertig war.

Obwohl das DEFA Trickfilmstudio in der DDR mit einfachen technischen Mitteln und unter politischer Zensur arbeiten musste, stand dies der Schaffung künstlerisch spannender, dramaturgisch gut erzählter, vielfältiger kleiner Meisterwerke nicht im Wege.

Auch wenn Computeranimationen die Filmwelt verändert haben, zeigt die Ausstellung, dass manuell erzeugte Animation eine künstlerische Ausdrucksform bleibt. Wie ein Schreiber einen bestimmten Stil oder ein Maler einen Pinselstrich hat, so besitzt der Animator eine bestimmte Form der Bewegung. Die Ausstellung verdeutlicht, dass die Zeit, in der Computeranimation Festivals dominierte, vorbei ist und manuell animierte Filme auf großen internationalen Festivals wieder dominieren.

„Bild für Bild Phase für Phase“ macht klar: Trickfilm ist mehr als Kinderunterhaltung. Er ist Kunst, Geschichte und vor allem ein Handwerk, das bewegt. Ein Besuch lädt dazu ein, dieses Erbe wiederzuentdecken.

Die kurze Geschichte von Areva und Neoplan in der späten DDR

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Hätten Sie gewusst, dass die Deutsche Demokratische Republik (DDR) kurz vor ihrem Ende noch einmal versuchte, auf Basis der bekannten IFA-Fahrzeuge große Omnibusse zu bauen? In einem bemerkenswerten, aber nur kurzlebigen Joint Venture mit der westdeutschen Firma Neoplan entstand zwischen 1989 und 1991 ein Projekt, das heute vielen, selbst in der Fachwelt, kaum bekannt ist. Es ist die Geschichte der Areva GmbH und ihrer „Junior“-Busse.

Die Areva, ursprünglich ein Betrieb, der in der DDR Militärtechnik wie Ural und ZIL instand hielt, stand im Herbst 1989 vor einer ungewissen Zukunft. Die Instandhaltung von Militärfahrzeugen würde nicht fortgesetzt werden können. Parallel dazu suchte die renommierte westdeutsche Omnibusfirma Neoplan Kontakt zum DDR-Verkehrsministerium. Aus dieser Situation heraus entstand die Idee für ein DDR-Konzept, das vorsah, Fahrzeuge in Kraftverkehrsbetrieben abzusetzen und deren Instandsetzungsbetriebe (KIB) für die Endfertigung neuer Omnibusse zu nutzen.
Herr Konrad Auwerter hatte die Idee, Busse auf DDR-Chassis aufzubauen, insbesondere auf Basis des IFA W50 Fahrgestells. Hierbei konnte man sich offenbar auf ein früheres Gemeinschaftsprojekt von Neoplan und IFA in Ghana (1985-1986) besinnen, bei dem ebenfalls Busse auf verlängerten W50-Chassis entstanden waren. Insgesamt wurden damals in Ghana fast 300 Fahrzeuge im Rahmen des „Projekt 84“ gebaut.

Allerdings war das IFA W50 Fahrgestell mit seinem Frontmotor nicht ideal für den Omnibusaufbau geeignet. Es war ursprünglich nicht als Reise- oder Linienbus konzipiert, sondern eher für den Werks- oder Landwirtschaftsverkehr. Dennoch entstand mit „heißer Nadel“ der erste Prototyp auf W50-Basis, der Areva Junior 508. Dieses Fahrzeug erinnerte äußerlich stark an den Neoplan Transliner, wies aber typische DDR-Details wie Schlagtüren mit Türklinken und einen relativ weit hinten liegenden Einstieg auf. Der Junior 508 wurde nicht in den eigentlichen Neoplan-Werken, sondern in Pilzting von Areva-Arbeitskräften gebaut. Von diesem Typ blieb es bei einem einzigen Fahrzeug. Glücklicherweise ist dieser Prototyp erhalten geblieben und gehört heute zum Sächsischen Nutzfahrzeugmuseum in Hartmannsdorf.

Da das W50 Fahrgestell keine Zukunft hatte, konzentrierte man sich auf den Nachfolger, den IFA L60. Auf dieser Basis entstand der Areva Junior 512. Insgesamt wurden von diesem Modell 11 Stück fertiggestellt. Ursprünglich waren 20 Stück geplant, aber die restlichen 9 wurden nicht mehr vollendet; einige als Gerippe. Zwei Fahrzeuge des Junior 512 sind heute noch in Deutschland bekannt.

Trotz handwerklich guter Leistung stieß das Konzept auf Schwierigkeiten. Die IFA-Fahrgestelle waren für den mitteleuropäischen Busverkehr nicht optimal, was Lärmpegel, Abgaswerte und Achslasten betraf. Zwar gab es seitens Ludwigsfelde (dem IFA-Hersteller) durchaus Interesse an Optimierungen, sogar Überlegungen zur Luftfederung, doch mit dem Niedergang des Werkes ließ auch diese Unterstützung nach. Entscheidend für das Scheitern des Projekts war aber die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Mit der Einführung der D-Mark und der Einstellung der IFA W50/L60 Produktion war die Basis für den Verkauf dieser Produkte entzogen. Hinzu kam, dass der Markt die IFA-Produkte nicht annahm. Sogar der modernere IFA L60 Turbomotor wurde vom Markt schlecht angenommen, sodass bei einigen Bussen Mercedes-Motoren nachgerüstet werden mussten.

Nachdem die ersten Typen nicht ankamen, unternahm Areva noch einen weiteren Versuch und baute zwei Fahrzeuge auf Basis bulgarischer Chaftar-Rohkarosserien auf, die ebenfalls an kleine Transliner erinnerten. Doch auch diese scheiterten letztlich an verschiedenen technischen Problemen.

Für die Verantwortlichen bei Areva, wie Herrn Heider, war es eine „spannende Zeit“, die Entwicklung neuer, ziviler Produkte zu wagen. Die Idee, Busse zu bauen, war auch darauf ausgelegt, möglichst viele der ehemals 640 Mitarbeiter zu beschäftigen. Er bedauert sehr, dass sich das Projekt nicht weiterentwickelt hat, auch wenn der Markt anders entschieden hat.

Bereits im Oktober 1991 wurde die Areva GmbH abgewickelt. Damit endete die kurze, aber intensive Episode des Omnibusbaus bei Areva nach nur rund zwei Jahren. Ein Versuch, der gut gemeint war, eine bemerkenswerte handwerkliche Leistung zeigte, aber letztlich an den rasanten politischen und wirtschaftlichen Veränderungen scheiterte.

Wer sich tiefer für die Geschichte historischer Omnibusse interessiert, findet möglicherweise im Buch der Interessengemeinschaft historischer Omnibusse international, initiiert von Dr. Konrad Auwerter, wertvolle Informationen.

Es bleibt die Erinnerung an ein Projekt, das in einer Zeit des Umbruchs entstand und zeigte, welche Anstrengungen unternommen wurden, um bestehende Strukturen und Arbeitskräfte in eine neue Zeit zu überführen.

Zeitreise durch Berlin: Unvergessliche Bilder einer wandelbaren Stadt

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Berlin, die pulsierende Hauptstadt Deutschlands, ist bekannt für ihr lebendiges Wesen, ihre tiefe Geschichte und ihren ständigen Wandel. Doch wie sah diese Stadt wirklich in vergangenen Zeiten aus, jenseits der bekannten Postkartenmotive? Eine Sammlung historischer Bilder erlaubt einen faszinierenden Blick zurück und enthüllt ein Berlin, das trotz Herausforderungen Lebensfreude feierte, im Angesicht der Teilung Alltagsmut bewies und selbst in Trümmern Raum für Fantasie fand.

Ein Atemzug des Sommers: Lebensfreude trotz Unsicherheit
Ein Bild vom Sommergarten unter dem Funkturm fängt die Atmosphäre eines klaren Maitags ein. Irgendwo zwischen Kriegsangst und Lebenshunger breitet sich ein Meer aus Farben aus – scharlachrote Tulpen, sonnengelbe Narzissen – so lebendig, dass selbst die damals moderne Technik der Technicolor-Filme blass wirken könnte. Menschen flanieren gemächlich auf sorgsam geharkten Wegen, Paare plaudern in provisorischen Cafés bei Limonade, Kinder balancieren auf Kies. Eine Brise trägt das Klingen von Geschirr und vielleicht sogar Swing-Musik herüber. Doch es ist nicht nur Idylle: Schneidige Marschmusik weht ebenfalls herüber, doch was die Szene dominiert, ist „pure Lebensfreude“. Junge Turnerinnen wirbeln barfuß über den Rasen, ihre Bewegungen leicht, fast tänzerisch, ein Symbol dafür, „die Leichtigkeit nicht aufzugeben“. Im Hintergrund thront die wuchtige Deutschlandhalle, davor drängen sich Tausende von Köpfen unter bunten Sonnenschirmen, die sich im Takt wiegen, klatschen, johlen – die Sorgen der Zeit treten für einen Moment in den Hintergrund. Zwischen Tribüne und Spielfeld leuchten Blumenbeete in Mondrot, Ringelblumengelb und Kornblumenblau, eine Farbpalette, „die das Grau der Stadt vergessen lässt“. Dieses Bild erzählt von einem Berlin, das sich trotz Sirenengeheul und Rationierung eine Bühne für Freude bewahrte und in Bewegung und Gemeinschaft Halt suchte.

Ein anderer Sommertag am Tegeler See zeigt Frauen in gepunkteten Bademoden, die aufs Wasser blicken. Ein hölzerner Steg, schaukelnde Ruderboote, ein Fischer – die Szene atmet „Sommerglück“ und erinnert an unbeschwerte Nachmittage, an denen der Terminplan nur aus „Anbaden um 3“ bestand. Manchmal, so die Botschaft, ist Freiheit so einfach „wie ein Sprung ins Wasser“.

Auch das Bild eines bunten Völkchens auf einem Boot – dem „Karn“ – auf dem Wasser, möglicherweise der Spree nahe der Mölckebrücke, strahlt Unbeschwertheit aus. Menschen in Trachten, rote Kostüme, Matrosenmützen blinzeln in die Sonne, ein „Schantor aus Lachen und Fragen“ füllt die Luft. Kinder lehnen sich über die Reling, ein älterer Herr steuert das Boot. Dieses Bild erzählt von Sommertagen, an denen das Knoten von Schiffstauen genauso wichtig war wie das Eis in der Hand, von Familienausflügen, die nur „eine Prise Sehnsucht nach Himmel und Horizont“ brauchten.

Der Eiserne Vorhang und Alltagsmut
Das Brandenburger Tor, einst Symbol der Einheit, wird in einem Bild zu einer Schwelle. Zwei Damen in Mänteln schlendern Arm in Arm davor entlang, doch hinter ihnen trennt „ein grauer Wall“ die Stadt. Ein Schild warnt: „Achtung Sie verlassen jetzt Westberlin“. Die Quadriga thront stumm, die Spitze des Fernsehturms ist „ein Gruß aus dem anderen Teil der Stadt“. Ihr Blick sucht zwischen Träumen und Erinnerungen, vielleicht erinnern sie sich an frühere Feste hier. Diese Szene atmet „ganz normalen Stadtrandzauber“, Weltpolitik im Vorbeigehen. Jeder Schritt erzählt von Alltagsmut und kleinen Abenteuern, „von einer Stadt die sich widersetzt indem sie weiterlebt“.

Ein anderes, beklemmendes Bild zeigt Panzer, die über das Kopfsteinpflaster rollen, die Ketten knirschen „wie Herbstlaub unter schweren Stiefeln“. Menschen stehen am Gehsteig, Kinder pressen ihre Nasen ans Absperrband, Männer falten die Hände, Frauen halten ihre Einkaufstaschen fest. Ein kleiner Junge auf einem Roller starrt stumm, als „hätte er den nächsten Satz Angst bereits kommen hören“. Doch inmitten dieser militärischen Parade pulsiert etwas Unerwartetes: „das stille Durchhalten des Alltags“. Ein älterer Herr reckt den Hals, eine Frau zieht ihr Kind näher – kleine Akte der Fürsorge gegen die Wucht der Geschichte. Dieses Bild ist „Nostalgie mit rauen Kanten“, die an das beklemmende Kribbeln erinnert, wenn Militär über das Pflaster fährt.

Arbeit, Wandel und das Nebeneinander
Auch die Industrie prägte das Stadtbild. Ein kolossaler Betonkegel, ein Kühlturm einer Fabrik, die Berlin mit Wärme versorgte, ragt zwischen Häusern empor, umgeben von Stacheldraht. Doch im Vordergrund schlendert eine Frau mit Hund vorbei, unbeeindruckt von der „Stahlgewalt“. Dieses Bild ist kein Idyll, sondern „ein Mahnmal ehrlicher Arbeit“, in dem das Grobe und das Zarte, Stahl und Blüten, Maschine und Mensch zusammenfinden. Es zeigt, dass Berlin „mehr als Glämmer und Politik“ war, eine Szene, in der der Alltag weiterging, während hier tonnenschwere Rohre zusammengesetzt wurden.

In den 80er Jahren im Prenzlauer Berg roch die Luft nach Staub und frischem Beton, gemischt mit gebratenem Fisch. Ein Bauarbeiter mit Tattoos steht neben einem Kollegen, während im Hintergrund alte Wartburgs und ein rostiger Trabi parken. Ziegelsteine liegen bereit für Bauarbeiten an einer Altbaufassade. Dieses Bild ist „typisch Prenzlauer Berg“, wo der Charme roher Baustellen auf das „Versprechen von Veränderung“ trifft, jeder Ziegel „ein kleines Aufmucken gegen den grauen DDR-Alltag“.

Kinderwelten und alltägliche Heldinnen
Selbst auf Trümmerfeldern oder Baustellen fanden Kinder Raum für Fantasie. In einem Schwarz-Weiß-Bild knien drei Jungen am Boden und schrauben an einer Holzkiste, Reifen aus alten Dosen. Ein vierter klettert auf eine rostige Limousine, öffnet den Kofferraum wie für einen Piratenschatz. Eine brüchige Backsteinwand im Hintergrund wirkt wie Schutz oder eine Erinnerung an die Nachkriegszeit. Jeder umgestürzte Stein, jede Kiste wurde zur Kulisse für „große Geschichten“ – Weltenreise, Weltraumflug, Rettungsmission. Risse im Asphalt wurden zu Straßen, Autowracks zu U-Booten, Ziegelklötze zu Burgtoren. Es war kein Spielplatz, eher ein Freiraum, der lehrte: „Fantasie kennt keine Mauer“. Dieses Bild ist „Nostalgie pur“, es erzählt von einer Stadt, die ihre Kinder auf Trümmern spielen ließ und daraus „echte Kindheit schmiedete“.

Der Alltag wurde auch von kleinen Heldinnen geprägt. Eine alte Dame mit Hut, Krückstock und Einkaufstrolli tastet sich Schritt für Schritt über das Kopfsteinpflaster. Jeder Meter ist „ein kleines Triumphgefühl“. Über ihr rattert die U-Bahn in grellem Gelb, schneidet die Straße. Eine Menschenschlange – Arbeiter, Mütter, Jugendliche – tritt respektvoll beiseite, „kein Gedränge kein Hupen“. Dieses Bild erzählt von einer Stadt, „die nicht nur aus Mauern und Parolen bestand sondern aus kleinen Heldinnen die den Bürgersteig jeden Tag neu eroberten“.

Ein Stück Land in der Stadt und der Charme des Ostens
Ein unerwarteter Anblick war ein Pferd inmitten grauer Fassaden. Es steht still, den Blick auf einen Laternenpfahl gerichtet, als sähe es dort den Horizont einer Weide. Sein Besitzer streicht über den Sattel, während Trabanten und andere Autos vorbeiziehen. Dieses Motiv erzählt von einem Berlin, das sich weigerte, ganz Stadt zu sein. Ein Pferd im Hinterhof war mehr als Transportmittel, es war „ein Stück Land ein Klaps Natur“, bewahrt inmitten von Hochbahn, Plattenbau und Mangelwirtschaft. Wer dieses Bild sieht, spürt noch den Geruch von Hufeisenschwefel und den Klang ferner Hupen.

Die „legendären Trabantkarawanen“ prägten das Bild enger Straßenschluchten. Kreideblaue Trabis, bröckelnde Altbaufassaden, auf einem Balkon ein Mann, der raucht und nickt, ein Kind, das die Nase ans Glas drückt. Unkraut sprießt zwischen Asphaltfugen, „unbeirrbar wie der Freiheitsdrang der Anwohner“. Eine schmale Bude verspricht „analoge Magie“ neben einem rostigen Bauwagen-Kiosk. Dieses Bild atmet den „ganz eigenen Zauber des Ostens“, wo Chaos auf vier Rädern auf „die stoische Eleganz längst vergessener Fassaden“ trifft.

Diese historischen Bilder zeigen Berlin in all seinen Facetten: eine Stadt des Überlebens und der Freude, der Teilung und des Mutes, der Arbeit und des Wandels, der Fantasie und des Alltags. Sie erinnern daran, dass Berlin schon immer eine Stadt der Kontraste und der Menschen war, die ihr Leben gestalteten, egal unter welchen Umständen. Sie laden uns ein, die Stadt zu sehen, wie wir sie vielleicht noch nie zuvor gesehen haben.

Dialoglabor am Theater am Rand: Eine Premiere im Zeichen des Austauschs

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Zollbrücke. Eine „Weltpremiere“ der besonderen Art fand jüngst am Theater am Rand statt: das erste „Dialoglabor“. Das Format, dessen Name „Dialog und Labor“ verspricht, lädt explizit dazu ein, in den Austausch zu treten. Dabei werden „relevante Themen unserer Zeit“ aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet – von der Kunst über den Journalismus und die Wissenschaft bis hin zur Zivilgesellschaft. Das Publikum war ausdrücklich eingeladen, sich einzubringen, sei es durch Husten, Niesen, Zwischenrufe oder Nachfragen. Das Ziel: „mit Ihnen und nicht nur für Sie hier auf der Bühne agieren“.

Das Besondere des Formats liegt in seinem experimentellen Charakter: Man „packen paar Sachen zusammen und wir wissen überhaupt nicht was dabei rauskommt“. Diese Offenheit spiegelte sich auch in den angeschnittenen Themen wider, die von provokanten Gedankenspielen bis hin zu grundlegenden Fragen reichten. So wurde etwa die Idee in den Raum gestellt, dass Deutschland schuldenfrei wäre, „wenn man stell sich vor wir verkaufen Bayern“.

Ein wiederkehrendes und zentrales Thema war der Boden. Das Theater am Rand versteht sich als „kleines radikal ökologisches Bodenunternehmen“. Es wurde betont, dass der Boden etwas ganz Besonderes ist, für den „die üblichen ökonomischen Gesetze nicht“ gelten. Im Gegensatz dazu steht die Fokussierung auf „Kapital“. Selbst der Regenwurm fand Erwähnung, dessen Platz in der Bibel an der gleichen Stelle wie Könige und Kaiser sei, und über den es das Forschungsergebnis gibt, dass er gerne gestreichelt werden mag.

Kritische Töne gab es in Bezug auf öffentliche Leistungen und die Politik. Es wurde hervorgehoben, dass Infrastrukturen wie Bahnen, Universitätskrankenhäuser, Hochschulen oder die Umgebung eines Flughafens – am Beispiel von Frankfurt – erst durch öffentliche Leistungen entstehen und die Stadt erst dadurch mehr als nur eine Furt ist. Diese Leistungen werden durch Steuergelder finanziert. Das Problem bestehe darin, dass „einige wenige die vereinnahmen das dann ein“. Auch die Frage der Grundstückseigentümer wurde als Problem benannt.

Die allgemeine Situation wurde mit den Worten beschrieben: „wir haben immer noch zu viele Schulden zu wenig Eigenkapital und vor allem zu wenig Land“. Besonders deutlich wurde die Kritik an der Politik formuliert: „was ich wirklich ändern muss ist die Politik“. Es wurde das Gefühl geäußert, dass die Politik das Theater nicht nur „im Stich“ lasse, sondern ihm sogar „Steine in den Weg“ lege. Dabei bestehe eigentlich das Potenzial, „alles aus dem Boden“ zu nehmen und im Prinzip sogar „die ganzen Steuern“ zu sparen.

Trotz dieser Herausforderungen wurde betont: „meine Entscheidung habe ich nicht bereut“. Das „Dialoglabor“ scheint ein Versuch zu sein, diesen Herausforderungen zu begegnen und einen offenen Raum für dringend notwendige Gespräche über Wirtschaft, Ökologie und die Rolle der Politik zu schaffen.

Ralf Kurpiers‘ Kampf gegen die Unmenschlichkeit der DDR

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Ralf Kurpiers, geboren am 9. Februar 1949 in Berlin-Prenzlauer Berg, führte in der DDR ein wirtschaftlich erfolgreiches Leben, das jedoch stark von der fehlenden Freiheit und den Repressalien des Staates überschattet war. Trotz seiner beruflichen Erfolge und eines guten Einkommens als Bäcker, Kraftfahrer und Kfz-Elektriker, war er zutiefst unzufrieden darüber, dass er nicht reisen konnte, um seine im Westen lebende Verwandtschaft zu besuchen.

Ein einschneidendes Erlebnis war der Tod seiner schwer kranken Mutter. Sie war 1966 zu ihrer Schwester nach West-Berlin gereist, da sie reisen durfte. Dort starb sie mit dem Wunsch, ihre Familie noch einmal zu sehen, was ihr vom Staat verweigert wurde. Von diesem Moment an entwickelte Kurpiers einen tiefen Hass auf die Regierung und den Staat der DDR.

Dieser Hass mündete in konsequentem Widerstand: Er verweigerte dem Staat die Kooperation. Seine Kinder traten weder den Pionieren noch der FDJ bei. Für ihn war die „Unmenschlichkeit“ des Staates der schlimmste Vorwurf, den er erheben konnte. Ab 1979, nachdem er einen Ausreiseantrag gestellt hatte, begann die Schikane am Arbeitsplatz. Man versuchte, ihn zur Rücknahme des Antrags zu zwingen, und er wurde vom Taxifahrer zum Heizer degradiert. Auch seine Frau verlor ihre Stelle als Chefsekretärin aufgrund des Ausreiseantrags.

Ralf Kurpiers und seine Familie wurden daraufhin ständig von der Stasi überwacht. Sie bemerkten, dass ihre Wohnung durchsucht wurde, indem sie kleine Markierungen setzten. Ihre Telefonate wurden abgehört. Normale Post ging über die Stasi; andere Postkopien wurden über einen Diplomaten nach West-Berlin geschmuggelt, sodass der Westen über ihre Aktivitäten informiert war.

Am 5. September 1989 wurde Ralf Kurpiers verhaftet. Der vorgeschobene Haftgrund war angeblicher großangelegter Diebstahl sozialistischen Eigentums – ein Vorwurf, der nach seinen Worten „so simpel und so dumm“ war und vor Gericht nicht haltbar war. Die tatsächliche Begründung lag in seinen Ausreiseanträgen und seinem Widerstand, was unter den weit gefassten Paragraphen 216 fiel, der Handlungen gegen den Staat der DDR abdeckte, einschließlich Republikflucht. Später stellte sich heraus, dass von der Stasi als Beweismittel vorgelegte Bilder gefälscht waren.

Die Zeit seiner Inhaftierung von Anfang September bis Ende November 1989 war von Leid geprägt. Er durchlief alle Haftanstalten Berlins, darunter Rummelsburg, Keibelstraße, Rödersplatz und die Stasi-Haftanstalt Großbeerenstraße. Die Zeit in Großbeerenstraße beschreibt er als die schlimmste. Dort wurde er an ein Metallbett gefesselt, konnte sich nicht selbst versorgen und erhielt nur einmal am Tag etwas zu essen. Die Verhöre dauerten bis zu 12 Stunden, wobei er unter anderem mit dem Kopf an der Wand stehen musste. Diese Erlebnisse führten zu bleibenden Gesundheitsschäden an Augen und Psyche. Ein Staatsanwalt bedrohte seine Frau damit, ihr die Kinder wegzunehmen.

Besonders erschütternd war eine spätere Entdeckung in seinen Stasi-Unterlagen. Ein Dokument wies an, dass seine Frau im Falle ihrer Auffindung „nicht festzunehmen, sondern sofort zu liquidieren“ sei. Dies erfuhr er erst nach ihrem Tod. Zudem wurde seine Frau von ihrem damaligen Verlobten an die Stasi verraten.

Ralf Kurpiers wurde am 27. November 1989 aus der Haft entlassen, kurz nach der Grenzöffnung. Er erhielt die Auflage, sofort wieder seine Arbeit aufzunehmen. Am 2. April 1990 erfolgte dann die Ausweisung aus der DDR als „unerwünschte Person“. Er musste Berlin innerhalb von zwei Stunden verlassen. Seine Frau und die vier Kinder waren bereits im Februar 1990 ausgewiesen worden.

In Lüneburg baute sich die Familie ein neues Leben auf. Sie wurden zunächst als DDR-Übersiedler in einem Krankenhaus untergebracht und erhielten später über die Vermittlung der Behörden und der Presse ein Haus. Trotz der Schwierigkeiten und dem Gefühl, auch im Westen nicht immer willkommen zu sein, bereut Ralf Kurpiers seinen Widerstand gegen die DDR-Obrigkeit nicht. Er sagt: „sowas darf man sich nicht bieten lassen“. Die Erlebnisse in der Haft waren extrem belastend; Stasi-Unterlagen weisen sogar eine Phase aus, in der er auf einer Krankenstation als „tot“ vermerkt ist, woran er sich selbst nicht erinnern kann.

Das Leben von Ralf Kurpiers und seiner Familie wurde durch das Regime der DDR stark geprägt und teilweise zerstört. Seine Geschichte, festgehalten in umfangreichen Stasi-Akten, ist ein Zeugnis des persönlichen Leids und des Muts, der nötig war, um sich gegen ein unmenschliches System aufzulehnen.

Kindheit im Osten: Wigwam bauen, Bücher tauschen, Helden finden

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Was verbindet Karl May, den sächsischen Abenteuerautor, mit Gojko Mitić, dem berühmten DEFA-Indianerhauptling, und einem tief sitzenden Gerechtigkeitsgefühl? Dieser Frage geht ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, „Einmal klingeln“, nach und taucht in Kindheitserinnerungen und kulturelle Prägungen in der DDR ein. In einer Episode sprechen die Moderatorin Dr. Eva Maria Zerer und der Schriftsteller Marco Martin über ihre Erfahrungen, ausgehend von einer gefundenen Indianerfigur. Beide sind in der DDR aufgewachsen, wenn auch unterschiedlichen Jahrgangs und unterschiedlich sozialisiert. Der Podcast möchte unverklärt, persönlich und facettenreich sein und zum eigenen Nachdenken oder Austausch anregen.

Indianerspiele waren ein prägender Teil der Kindheit vieler DDR-Bürger, besonders der Generation um 1970, wie Marco Martin berichtet. Er erinnert sich an kleinere Indianerfiguren, die neben Matchbox-Autos auf dem Board standen. Diese Indianerfiguren empfand er als weitaus interessanter, da sie zu fantasievollen Kinderspielen anregten. Diese Spiele fanden nicht im offiziellen Rahmen statt – weder im Hort noch bei den Pionieren oder in Ferienlagern –, sondern im privaten Umfeld: Auf Wiesen, in Gärten oder im Wald wurden Zelte gebastelt oder Wigwams gebaut.

Interessanterweise wollte in diesen Spielen niemand den Cowboy spielen; es war viel spannender, ein Apache oder Dakota zu sein. Diese Rollenwahl war maßgeblich von den westdeutschen Karl May Verfilmungen (den Winnetou Filmen) beeinflusst, die in den DDR-Kinos liefen und zur Weihnachtszeit im Fernsehen gezeigt wurden. In diesen Filmen waren die Apachen die Guten, die Komantschen hingegen die Bösen. Die Komantschen waren – in der filmischen Fiktion – die Kollaborateure, da sie sich mit den weißen Eisenbahner-Gesellschaften zusammentaten, die Schienen durch Indianerland zogen. Das halte zwar keiner historischen Prüfung stand, sei aber im fiktionalen Raum, der für Kinder Realität darstelle, prägend gewesen. Auch Mädchen fanden ihre Rollen, beispielsweise als Nscho-tschi, Winnetous Schwester. Sie wurde damals sehr wertschätzend und ehrenhaft dargestellt und war ein positives Bild für ein Mädchen, auch wenn dies einem heutigen Frauenbild vielleicht nicht standhalten würde.

Der Umgang mit Karl May war in der DDR einem Wandel unterworfen. Während Karl Mays Bücher für die ältere Generation, wie Eva Maria Zerer berichtet, noch als „Schmutz und Schundliteratur“ galten und aus Schulranzen konfisziert wurden, war dies für Marco Martins spätere Jahrgänge nicht mehr der Fall. Karl May Bücher, oft aus Westpaketen oder vom Bamberger Verlag, wurden getauscht. Eigene DDR-Ausgaben, die sukzessive ab Mitte der 1980er Jahre erschienen, waren hingegen oft schwer erhältlich („Bückware“).

Eine wichtige Rolle bei der Wiederentdeckung Karl Mays als „progressiver Autor“ in der DDR spielte der Leipziger Forscher Christian Hermann. Laut Martin bedurfte dies keiner großen ideologischen Verdrehung, denn May war kein reaktionärer Kitschautor. Seine Bücher enthielten durchaus progressive Elemente, wie die Darstellung der sogenannten „48er“ (Revolutionäre von 1848), die in der Prärie auf die Seite von Winnetou und Old Shatterhand traten. Auch Karl Mays Freundschaft mit der Pazifistin Berta von Suttner am Ende seines Lebens und sein letztes Buch als visionärer Roman für Völkerverständigung wurden ihm angerechnet. Karl Mays eigene sächsische Biografie – seine Herkunft aus Hohenstein-Ernstthal, kleine Delikte, die zu Inhaftierungen führten, und der Beginn seiner Schriftstellerei im Zuchthaus Waldheim – wurde in der DDR wahrgenommen. Dies wurde in einer Serie in der viel gelesenen Wochenpost von Christian Hermann als spannende Geschichte erzählt. Das Karl May Museum in Radebeul wurde ab Mitte der 1980er Jahre zu einem beliebten Ausflugsziel.

Neben Karl May prägte vor allem eine andere Autorin das Indianerbild in der DDR: Liselotte Welskopf-Henrich. Martin widmete ihr ein Kapitel in seinem Buch „Die verdrängte Zeit“. Sie wurde als „nicht der Karl May des Ostens“, sondern als Verfasserin von „literarischem Realismus vom Feinsten“ betrachtet. Ihre mehrbändige Romanreihe „Die Söhne der Großen Bärin“ beschrieb das Leben der Dakota realistischer. Diese Bücher wurden generationsübergreifend gelesen, von Vätern an Söhne weitergegeben und enthielten prägende Figuren wie den Häuptlingssohn Harka oder den Häuptlingsvater Mattotaupa. Im Gegensatz zu Karl May ist Welskopf-Henrich in den alten Bundesländern bis heute weitgehend unbekannt. Die DEFA verfilmte ihre Bücher ebenfalls, mit dem serbischen Schauspieler Gojko Mitić in der Hauptrolle des Harka. Mitić erlangte eine immense Popularität als Indianerdarsteller, vergleichbar mit Pierre Brice als Winnetou. Seine Filme sind heute noch auf DVD erhältlich.
Auch nach der Wende blieb Gojko Mitić präsent. Er spielte unter anderem Winnetou bei den Karl May Festspielen. Besonders bedeutsam für DDR-Sozialisierte war sein Auftritt in der sehr gelungenen Verfilmung von Thomas Brussigs Wenderoman „Helden wie wir“. In einer Szene schützt er als ziviler Retter junge Demonstranten auf der U-Bahnstation Alexanderplatz. Dieses Signal war klar: Gojko Mitić ist da, er ist weiterhin präsent. Marco Martin sieht das Erinnern an solche Figuren und Geschichten als gutes Gegenmittel gegen eine gewisse Larmoyanz, die behauptet, die Helden der Kindheit seien verschwunden – sie seien nicht verschwunden, sie seien da. Eva Maria Zerer und Marco Martin diskutieren, ob Mitić und andere bekannte oder weniger bekannte DDR-Persönlichkeiten eine Art „Hinweis“ sein könnten auf wertvolle Dinge, die nur in der DDR eine Rolle spielten. Durch seine Präsenz, auch in zeitgenössischen Werken, lenke er die Aufmerksamkeit auf ostdeutsche Biografien und Kulturaspekte, die im Westen oft unbekannt sind.

Jenseits der Indianer-Thematik gab es in der DDR weitere bedeutende Kinder- und Jugendliteratur, die zum Nachspielen anregte. Genannt wird Alex Weddings Roman „Ede und Unku“, dessen Geschichte (in der Weimarer Republik spielend, mit damals nicht abwertend gemeintem Sprachgebrauch) von Kindern nachgespielt wurde. Besonders hervorgehoben werden spannende Abenteuerbücher des Verlags Neues Leben, oft geschrieben von Autoren, die als jüdische Kommunisten ins Exil gehen mussten und in Lateinamerika lebten (z.B. Liselotte Lenz, Walter Klein). Diese Bücher beschrieben spannend und realistisch die Zeit der Kolonisierung in Ländern wie Brasilien oder Peru. Sie vermittelten nicht didaktisch, sondern durch die spannende Erzählung ein Bewusstsein für Machtstrukturen und Ungerechtigkeit, unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft. Sie zeigten die Ausdifferenzierung auch innerhalb der „fremden“ Kulturen, im Gegensatz zu unsinnigen Begriffen wie „globaler Süden“. Diese Literatur wurde auch von Kindern gelesen, die nicht aus Akademikerfamilien stammten, weil sie spannend war und ein Eintauchen in andere Welten ermöglichte. Sie trug dazu bei, dass Kinder in der DDR ein Gefühl für Gerechtigkeit und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse entwickelten.

Dieses Gerechtigkeitsgefühl wird im Podcast als möglicherweise stärker ausgeprägt bei ostdeutschen Menschen diskutiert. Eine mögliche Erklärung für heutige Unzufriedenheit könnte sein, dass man sich in der DDR „prophylaktisch klein gemacht“ und vieles hat gefallen lassen („Mund halten und mitmachen“, „Uns braucht ja eh niemand“). Dies führe nun in Form von „nachgeholtem Widerstand“ zum Ausdruck, der sich manchmal auch über Kleinigkeiten zeige. Dies sei eine Art Grundierung für Menschen in den neuen Bundesländern, wenn sie über ihr Verhalten reflektieren.

Das Gespräch schließt mit der philosophischen Perspektive, dass das Interessante im Leben nicht sei, zu sich selbst zu kommen, sondern wie wir zu den anderen kommen, wie der Philosoph Emmanuel Levinas es formulierte. Kunst und Literatur können dabei helfen, den Alltag nicht nur als „Jammertal“ zu sehen, sondern den Mitmenschen mit Gemeinsamkeiten (wie der „skandalösen Endlichkeit“) zu erkennen.

Die Diskussion von Marco Martin und Eva Maria Zerer zeigt, dass die Kindheit in der DDR und ihre kulturellen Helden wie Karl May (neu gelesen) und Gojko Mitić sowie die vielfältige Jugendliteratur nicht nur einfache Unterhaltung boten, sondern auch Werte wie Gerechtigkeit, Respekt vor anderen Kulturen und ein kritisches Bewusstsein für Machtstrukturen prägten. Das Erinnern an diese Geschichten sei ein wichtiger Teil der Reflexion über die selbsterlebte Vergangenheit.

Der Untergrund-Weg in die Freiheit: Massenflucht durch die Berliner Kanalisation

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Berlin, Neue Grünstraße – Unsichtbar für die meisten Passanten, verbirgt sich unter einem gewöhnlichen Gullydeckel in der Neuen Grünstraße in Berlin eine außergewöhnliche Geschichte der Flucht und des Überlebens. Dieser Ort, heute Teil der belebten Stadt, war einst eine „gottverlassene Gegend“, geprägt von Trümmergrundstücken – Überresten des Krieges, die von der DDR nicht wiederaufgebaut wurden. Nur ein einziges Haus, das Paul Gerhard Haus Nummer 27, stand damals noch, beleuchtet von einer einsamen Peitschenlaterne über der Straße. Doch gerade diese trostlose Abgeschiedenheit machte die Gegend zu einem strategischen Punkt für diejenigen, die den Weg in die Freiheit suchten.

Wie uns Dr. Weigel berichtet, trafen sich hier Menschen, um den Spuren der Fluchten „aus der Zone“, wie man die DDR früher nannte, zu folgen. Durch einen bestimmten Gully an dieser Stelle kletterten mindestens ein bekannter Theologe und seine Frau in das unterirdische Kanalisationssystem. Das Besondere an dieser Kanalisation war, dass sie nicht zur nahegelegenen Spree führte, sondern zum Landwehrkanal, mit einem leichten Gefälle. Dieses Gefälle war ein Vorteil, da bei Regen das Wasser in Fließrichtung half und die Flucht nicht gegen den Strom erfolgen musste.

Die Bedingungen unter Tage waren extrem. Die Kanalisation war ein Mischkanal, der sowohl Regenwasser als auch die Kloake der umliegenden – wenn auch kaum vorhandenen – Häuser transportierte. Der Wasserstand war stark vom Regen abhängig und konnte laut einem Flüchtling bis zur „Unterkante Oberlippe“ ansteigen, was die Fortbewegung erschwerte. Normalerweise beträgt die Höhe im Kanal etwa 1 Meter, was bedeutete, dass man nicht aufrecht gehen konnte, sondern robben musste. Dazu kam die absolute Dunkelheit; ohne Taschenlampe sah man überhaupt nichts. Trotz dieser widrigen Umstände und des Gestanks zögerte niemand, der hier die Chance zur Flucht sah. Wie Dr. Weigel festhält, gab es nach der Grenzschließung am 13. August nur noch wenige Gelegenheiten, und viele sahen dies als ihre letzte Chance. Niemand habe zurückgezuckt oder gesagt, es stinke zu sehr. Selbst eine ältere Dame, die ohnmächtig wurde, kroch nach dem Erwachen weiter.

Die Flucht durch die Kanalisation war logistisch extrem aufwendig. Organisiert wurde sie maßgeblich von einem Freund Dr. Weigels, namens Dieter Team. Drei entscheidende Dinge wurden getan:

1. Es wurden „Deckelmänner“ aus dem Westen rekrutiert. Dies waren routinierte Helfer, die wussten, was zu tun war – sie öffneten und schlossen die Gullydeckel. Im Gegensatz zu früheren, weniger organisierten Fluchten, bei denen der Entkommene selbst den nächsten Fluchtwilligen als Deckelmann informieren musste, kamen diese Helfer speziell vom Westen rüber, um die Deckelarbeit zu übernehmen.

2. Um den offenen Gullydeckel zu tarnen, wurden Autos davor und dahinter geparkt. Gelegentliche Passanten sollten so nichts Auffälliges bemerken.

3. Das Gitter in der Röhre wurde aufgesägt. Die DDR hatte bereits in den 1950er Jahren alle Rohre zwischen Ost und West ab einer Höhe von 40 cm vergittert, angeblich um „Schmuggler und Spionage“ zu verhindern – eine Begründung, die Dr. Weigel als „lächerlich“ und Ausdruck einer „manischen Angst Angstpsychose“ bezeichnet. Die Gitter waren meist ein Stück weit auf der Ostseite platziert. Das Aufsägen dauerte drei Tage und Nächte.

Als die Flucht professionell organisiert wurde, lief der Einstieg sehr schnell ab. Die Flüchtlinge hielten die Arme hoch und wurden von den westlichen Deckelmännern in Sekundenschnelle in den Gully hinuntergelassen. So konnten innerhalb von 1 bis 1,5 Minuten 10 bis 15 Personen unter die Erde gebracht werden. Dort mussten sie sich schnell in die Röhre begeben. Im Kanal selbst gab es eine Struktur: ein Anführer vorne, jemand am Ende, der die Gruppe zusammenhielt, und ein Helfer auf der Ostseite, der sicherstellte, dass niemand in die falsche Richtung kroch. Die Anweisung war, sich am Kleidungsstück des Vordermanns festzuhalten und schnell hinterherzukriechen.

Durch diese spezifische Kanalisation entkamen in einem Zeitraum von knapp drei Wochen, vom 25. September bis zum 14. Oktober 1961, etwa 500 Menschen. Dies war die größte Massenflucht durch die Kanalisation, die es je gab. Insgesamt flohen durch das Kanalisationsnetzwerk, unter Einbeziehung von zwei weiteren Röhren, etwa 800 Menschen.

Eine Besonderheit dieser Fluchten war, dass oft ganze Familien und Freunde mitgenommen wurden. Anfangs waren Gruppen kleiner, aber schnell wuchsen sie an – aus neun geplanten Personen wurden einmal 27. Auch Kinder konnten mitgenommen werden, da sie keine falsche Identität annehmen mussten. Die Menschen, die flohen, wussten, dass die Gelegenheit begrenzt war und dachten oft: „Wo ich durchkomme, kommen auch meine Freunde und meine Familie durch“.

Eine entscheidende Rolle spielten die Bewohner des einzigen stehenden Hauses, des Paul Gerhard Hauses. Dort wohnte ein Ehepaar, er im Rollstuhl, sie mit einem Hund. Anfangs musste der Fluchtablauf an die Spaziergänge der Frau angepasst werden. Später jedoch war die Frau eindeutig auf der Seite der Fluchthelfer und richtete ihre Gassi-Runden nach deren Planungen. Obwohl sie aufgrund des Rollstuhls nicht selbst fliehen konnten, halfen sie, wo sie konnten. Der Rollstuhlfahrer leistete später noch besondere Hilfe, wie berichtet wird.

Heute erinnert nur wenig an diese dramatischen Ereignisse. Ein Gullydeckel in der Nähe trägt die Inschrift „Einstieg zur Freiheit“, ein Projekt, das mit Zustimmung der Stadtverwaltung umgesetzt wurde. Leider ist dieser Gully oft zugeparkt. Eine kurzzeitig am Haus angebrachte Gedenktafel musste entfernt werden, da die Hausbewohner dies nicht wünschten. So ist an diesem historischen Ort heute kaum etwas zu sehen.
Die Geschichten dieser Fluchten durch die Berliner Kanalisation zeugen von einem unbändigen Willen zur Freiheit, der Menschen selbst in die dunkelsten und unwürdigsten Gänge trieb. Sie sind ein beeindruckendes Beispiel für Mut, Organisation und die Bereitschaft, unter schwierigsten Bedingungen für die eigene Freiheit zu kämpfen.