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Was wäre aus der DDR ohne Wiedervereinigung geworden?

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Ein kontroverser Blick auf die Wendezeit und die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus

Die Ereignisse von 1989/90, die zur Deutschen Wiedervereinigung führten, werden oft als Triumph des freien Willens der ostdeutschen Bevölkerung gefeiert. Doch ein alternativer Blickwinkel, wie er von Wilhelm Domke-Schulz vom Overton Magazin dargelegt wird, hinterfragt diese Erzählung und skizziert ein Szenario, in dem die DDR einen anderen Weg hätte einschlagen können – und vielleicht sogar gesollt hätte.

Die Fahnen-Kontroverse und mutmaßliche Einflussnahme
Ein zentraler Punkt der Kritik betrifft die Demonstrationen im Herbst 1989. Besonders hervorgehoben wird die große Leipziger Demonstration am 4. Dezember 1989 auf dem ehemaligen Karl-Marx-Platz (später umbenannt), bei der massenhaft nagelneue Deutschlandfahnen zu sehen waren. Diese Fahnen waren in der DDR nicht hergestellt worden, und das Problem war, dass sie völlig neu waren, ohne das für DDR-Fahnen typische Staatsemblem und ohne Loch, wo dieses Emblem hätte entfernt werden können.

Die Teilnehmer, die zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Begrüßungsgeld abgeholt und ausgegeben hatten – oft für Güter wie Bananen und Persil – hätten kaum die Möglichkeit gehabt, sich diese Fahnen im Westen zu besorgen, indem sie mit DDR-Mark über die Grenze fuhren. Stattdessen stellte sich später heraus, dass die CDU zwei Lieferautos mit diesen Fahnen gesponsert und den Demonstranten in die Hand gedrückt haben soll.

Dies wird als „völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten“ interpretiert, da die UNO die DDR als souveränen deutschen Staat anerkannte, während die Bundesrepublik dies nie tat. Parallelen werden zu späteren Ereignissen gezogen, bei denen westliche Politiker Demonstranten in Georgien und auf dem Maidan in der Ukraine zur Absetzung ihrer gewählten Regierungen aufgerufen haben.

War es der „reine Wille“ des Volkes?
Die Vorstellung, dass der Wunsch nach Wiedervereinigung und der D-Mark der „reine Wille“ der DDR-Bevölkerung war, wird vom Sprecher bezweifelt. Es wird die These aufgestellt, dass eine Volksabstimmung im Jahr 1990 darüber, ob man der Bundesrepublik beitreten wolle, „sehr knapp ausgefallen“ wäre. Die Konzentration auf die D-Mark, Bananen und das Begrüßungsgeld habe die Perspektive verzerrt.

Die verpasste Chance eines demokratischen Sozialismus?
Trotz der Probleme hätte die DDR nach Ansicht des Sprechers überleben und einen eigenen Weg gehen können, möglicherweise in Richtung eines „demokratischen Sozialismus“. Die wirtschaftliche Grundlage sei „nicht schlecht“ gewesen, mit einer funktionierenden Schwer- und Chemieindustrie sowie weltweitem Handel.

Was die Menschen in der DDR jedoch massiv gestört habe, sei nicht der Sozialismus an sich gewesen, sondern die „bürokratisch-vormundschaftliche“ Natur des Staates. Dinge wie geschlossene Grenzen, Einschränkungen der Reisefreiheit, Zensur und die Angst vor Abhörung („Vormundschaftlicher Staat“ war auch der Titel eines bekannten Buches in der DDR) seien die eigentlichen Gründe für Unmut gewesen.

Der „Hass“ der westdeutschen Eliten auf die DDR seit ihrer Gründung wird auf eine Hauptursache zurückgeführt: die Enteignung von Eigentum in der DDR, was zu einem Wirtschafts-, Diplomatie- und Ideologiekrieg geführt habe. Zugleich werden Vorteile des DDR-Systems hervorgehoben, wie die Vollfinanzierung der Gesundheitsversorgung durch eine einzige Krankenkasse, bei der keine Zuzahlungen nötig waren – im Gegensatz zu den vielfältigen und zuzahlungsintensiven Krankenkassen im Westen.

Die Voraussetzungen für einen eigenständigen Weg, basierend auf einer funktionierenden Industrie und dem Wunsch nach mehr Freiheit, anstatt einer „feindlichen Übernahme“, waren demnach gegeben.

Die Frage, was aus der DDR ohne Wiedervereinigung geworden wäre, bleibt somit mehr als nur eine akademische Übung. Sie wirft ein Licht auf eine Gabelung im historischen Pfad, an der ein weniger begangener Weg andere Möglichkeiten des Aufbaus und der Selbstbestimmung bot, jenseits des Lockrufs von D-Mark und Bananen.

Eisenbahnstraße Leipzig: Zwischen Wandel und Widerstand – Ein Viertel im Umbruch

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Die Leipziger Eisenbahnstraße ist seit Langem ein Sinnbild für den Leipziger Osten. Lange Zeit hatte sie mit einem schlechten Ruf zu kämpfen und wurde oft auf ihre Problematik als Waffenverbotszone reduziert. Doch wie der Filmemacher Birg Poscker in seinem Film „Hütten sind für alle da“ aufzeigt, ist die Eisenbahnstraße weit mehr als das. Sie ist ein Ort voller vielfältiger Soziokultur, interessanter Menschen und spannender Projekte.

Vom Brachland zum begehrten Hotspot
Als Birg Poscker 2018 in den Leipziger Osten zog, war er fasziniert von der dortigen Vielfalt und dem Freiraum. Das Viertel, das lange Zeit brachlag und bis in die 2000er Jahre hinein noch viel Leerstand aufwies, zog mit seinen günstigen Preisen und der Möglichkeit, sich mit kleinen Läden, Cafés, Bars und Nachbarschaftsgärten auszuprobieren, junge, kreative Menschen an. Doch dieser Freiraum geht zunehmend verloren.
Die Eisenbahnstraße und der Leipziger Osten durchlaufen einen rasanten Wandel. Was einst von vielen als „zweites Berlin“ bezeichnet wurde, ist heute fast vollständig saniert. Die Freude über noch ursprünglich erhaltene Gebäude weicht der Realität einer umfassenden Durchsanierung, die erhebliche Veränderungen mit sich bringt.

Der Kampf um Wohnraum und Freiräume
Ein wiederkehrendes Thema in Posckers Dokumentation ist der Kampf um Wohnraum. Die Leidtragenden sind Menschen mit geringem Einkommen, aber auch Orte des Zusammentreffens, die nach und nach verschwinden. So manche Schauplätze, die Poscker in seinem dreijährigen Dreh begleitete, sind bereits gentrifiziert worden, andere sehen sich durch steigende Mieten bedroht. Das einst charmante „Goldhorn“, in dem gedreht wurde, ist heute ein „steriler Ort“ geworden. Der „Hitnesscub“ hingegen, an der Ecke Hermann-Liebmann-Straße/Eisenbahnstraße, bleibt ein Ort für Konzerte mit besonderer Stimmung.

Besonders deutlich wird der Druck durch die Spekulation mit unbebauten oder ungenutzten Flächen. Die „Prache“, eine bekannte Brachfläche im Leipziger Osten und sinnbildlich für das Viertel, wo sich Anwohner trafen und versammelten, ist ein Beispiel dafür. Obwohl die Stadt Leipzig bis zu einer Million Euro für das Grundstück bot, wurde sie immer wieder überboten. Zwischenzeitlich geplante Projekte wie ein Biergarten scheiterten an fehlenden Genehmigungen. Aktuell ist die Fläche wieder ungenutzt, doch langfristig wird auch hier ein Wohnhaus entstehen, „wenn sich’s wieder lohnt“.

Auch die Hausbesetzung in der Ludwigstraße 71 durch die Gruppe „Leipzig besetzen“ verdeutlicht den Widerstand gegen den Verlust von Freiräumen. Trotz der Solidarität von Anwohnern und Unterstützern ist das Haus fünf Jahre später immer noch unbewohnt und ungenutzt.

Gegen das Klischee: Authentische Geschichten zählen
Für Birg Poscker war es ein zentrales Anliegen seines Films, die einseitige Darstellung der Eisenbahnstraße zu widerlegen. Er wollte die Menschen, die dort leben, selbst zu Wort kommen lassen und das Viertel nicht auf Kriminalität reduzieren. Poscker kritisiert, dass Menschen mit Migrationsgeschichte oft erst dann thematisiert werden, wenn es Probleme gibt, obwohl der Großteil ihrer Geschichten „ohne Probleme“ und „toll“ ist. Es sei nicht schwer, diese Geschichten zu finden und zu zeigen, man müsse nur darüber berichten.

Der Filmtitel „Hütten sind für alle da“ ist inspiriert von einer Regel auf einem Bauspielplatz, den ein kleiner Junge mit Einwanderungsgeschichte den Zuschauern im Film zeigt. Die erste Regel des Bauspielplatzes lautet: „Hütten sind für alle da“. Diese Regel spiegelt das Kernanliegen des Films wider: Jeder soll zu Wort kommen.

Der Film „Hütten sind für alle da“ ist in den kommenden Wochen noch mehrmals im Sommerkino auf der Feinencoss, im Kassymuseum und im Conne Island zu sehen. Er bietet einen tiefen Einblick in ein Viertel, das sich zwischen seinem Ruf, seiner rasanten Entwicklung und dem beharrlichen Geist seiner Bewohner behauptet.

„Zur See“: Wie der Osten das Traumschiff erfand

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Im Sommer 1974 stach ein Fernsehprojekt in See, das die Zuschauer in der DDR und sogar im Westen begeistern sollte: die TV-Serie „Zur See“, gedreht an Bord des Ausbildungsschiffs „Johann Gottlieb Fichte“. Was heute als „zeitloses“ Kritikerformat und „größter Wurf des DDR-Fernsehens“ gilt, war eine achtwöchige Drehreise voller Herausforderungen, politischer Überwachung und unvergesslicher Geschichten.

Die „Fichte“: Ein „Schrottlieb“ mit Geschichte
Die Wahl des Drehorts war bereits ein Kompromiss. Produzenten wie Regisseur Wolfgang Luderer wollten ursprünglich das neueste und modernste Schiff der Flotte, die „Karl Marx“ oder „Friedrich Engels“, nutzen, die klimatisiert waren und über 20 Knoten liefen. Doch die „Johann Gottlieb Fichte“, ein alter Dampfer aus zweiter Hand, der bereits in den 60er Jahren erworben wurde und einst als französischer Truppentransporter diente, hatte den benötigten Platz für die rund 30-köpfige Filmcrew. Bei Seeleuten war das Schiff wegen seines Zustands liebevoll als „Schrottlieb Fichte“ bekannt. Der Matrose Jürgen Schumann beschrieb das Schiff sogar als „Fehler“ und teilweise „auf Bewährung“.

An Bord waren die Lebensbedingungen für die Schauspieler teils beengt und hart: Koch Bern Storch und Bootsmann Jürgen Zartmann wohnten vorne unter dem Bug, oft direkt auf oder unter dem Wasser, was bei Seegang, besonders in der Biskaya bei Windstärke 11, zu starker Übelkeit führte. Das Schwimmbecken an Bord entleerte sich durch einen Riss in die Offiziersmesse, und in Kuba herrschte in den Kabinen „Affenhitze“, da es keine Klimaanlage gab.

Eine Reise voller unvorhergesehener Ereignisse
Die Reise der „Fichte“ führte von Rostock nach Havanna und zurück. Ursprünglich sollte die Route über Schweden nach Mexiko und Kuba verlaufen, doch das DDR-Fernsehen erwirkte eine direkte Fahrt, was auch der Staatssicherheit sehr wichtig war. Dennoch kam es zu einem ungeplanten Stopp: Kurz nach dem Ablegen versagte ein Hilfsdiesel, was Kapitän Horst Rinder dazu zwang, aus Sicherheitsgründen den nächsten Hafen Aalborg in Dänemark anzulaufen. Dort durften die Filmleute drei Tage an Land gehen und einkaufen, obwohl die Spesen mit 10 D-Mark pro Mann und Tag denkbar knapp kalkuliert waren. Chefbeleuchter Hans-Gerhard Veit brachte seiner Tochter von dort einen kleinen Radiergummi mit, ein unvorstellbares Mitbringsel in DDR-Zeiten.

Die Dreharbeiten selbst waren extrem fordernd. Das Team musste das Material für neun Folgen in nur neun Wochen aufnehmen, da das Schiff nur für diese eine Reise zur Verfügung stand. Regisseur Wolfgang Luderer nutzte jeden möglichen Drehtag voll aus, und es wurde täglich die doppelte Menge an Filmmaterial gedreht wie im Studio zu Hause. Dabei mussten unberechenbare Faktoren wie Wetter, Sonneneinstrahlung und Wellengang berücksichtigt werden.

Realität und Fiktion: Konflikte an Bord und kuriose Geschichten
Die Serie zeichnete sich durch die Darstellung realer Konflikte aus, insbesondere zwischen „oben und unten“, Brücke und Maschine, die die Zuschauer fesselten. Die spektakulärste und meistdiskutierte Szene war der Kolbenwechsel bei schwerem Seegang. Diese Geschichte basierte auf einem realen Vorfall mitten im Schwarzen Meer, als ein Kolben stillgelegt werden musste und das Schiff eigentlich hätte abgeschleppt werden müssen.

Auch kuriose Begebenheiten flossen in die Drehbücher ein. Eine davon war die Geschichte der zwei Bullenkälber „Max und Moritz“, die als „blinde Passagiere“ an Bord waren. Diese Tiere wurden seekrank und bereiteten dem Team Verdruss. Requisiteur Harald Meyer, der nebenbei auch Tierpfleger war, musste extra frische Möhren für sie besorgen. Kurz vor Kuba wurden die Bullen geschlachtet und bei einem großen Grillfest von der gesamten Besatzung verzehrt.

Eine weitere feste Tradition auf DDR-Handelsschiffen, die in der Serie inszeniert wurde, war die Äquatortaufe. Hierfür wurden viele Statisten aus der echten Mannschaft rekrutiert, die dafür 720 Mark erhielten – genug, um die Getränkerechnung für die ganze Reise zu decken. Jürgen Zartmann spielte dabei nicht nur den Bootsmann und Parteisekretär, sondern auch den Meeresgott Neptun.

Die Staatssicherheit: Ein ständiger Schatten
Die gesamte Produktion stand unter genauer Beobachtung der Staatssicherheit und der Kaderabteilungen des DDR-Fernsehens und der DSR. Die Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit verzögerte den Drehbeginn sogar um ein ganzes Jahr. Die übliche Angst war die „Republikflucht“. Bestimmte Mitglieder der Aufnahmegruppe, darunter Regisseur Wolfgang Luderer, sollten während der Reise „operativer Kontrolle“ unterliegen. Luderer geriet sogar ins Visier, weil er seine Lebensgefährtin als Regieassistentin mit ins Ausland nehmen wollte, was die Stasi als „politisch operativ“ bewertete und die Einstellung des gesamten Filmvorhabens empfahl. Als seiner Freundin die Nachreise nach Havanna verwehrt wurde, drohte Luderer sogar, die Dreharbeiten einzustellen.

Die Serie sollte auch als Werbefilm dienen, da die DSR permanent Personal suchte – nicht weil niemand zur See fahren wollte, sondern weil zu wenige die strengen Überprüfungen bestanden.

Ein „Straßenfeger“ mit West-Charme
Trotz aller Widrigkeiten wurde „Zur See“ ein riesiger Erfolg und zu einem „Event“ in der DDR. Es war ein „Straßenfeger“, der selbst West-Seher vom „Ochsenkopf“ (West-Fernsehen) weglockte. Viele Zuschauer schätzten, dass die Serie „endlich etwas ohne Politik“ war. Wolfgang Rademann, der verstorbene West-Berliner Filmproduzent des „Traumschiffs“, bekannte sich als begeisterter Fan von „Zur See“ und ließ sich für seine eigene Erfolgsserie von ihr inspirieren. Jürgen Zartmann war sogar der einzige Schauspieler, der auf beiden „Traumschiffen“ – der „Fichte“ und dem ZDF-„Traumschiff“ – anheuerte. Während „Zur See“ die realen Geschichten der Seefahrer und ihre harte Arbeit beleuchtete, konzentrierte sich das „Traumschiff“ auf Liebesgeschichten und den Reichtum an Bord.

Heute, 40 Jahre nach seiner Erstausstrahlung, hat „Zur See“ nichts von seinem Reiz verloren. Es wird immer noch verlangt, und bei Seemannstreffen erklingt die Titelmelodie. Es ist ein „gutes Zeitdokument“ der 70er Jahre, das Einblicke in den Alltag auf hoher See und die spezifischen Verhältnisse in der DDR bietet.

Die Geschichte der „Fichte“ und ihrer Filmcrew ist wie eine Flaschenpost aus einer vergangenen Zeit. Sie trägt nicht nur spannende Geschichten über Abenteuer und Widrigkeiten mit sich, sondern auch die subtilen Botschaften und Zwänge einer Gesellschaft, die das Fernweh ihrer Bürger im Zaum halten musste, während sie ihnen gleichzeitig die weite Welt vor Augen führte. Ein echtes Stück Fernsehgeschichte, das immer noch nachklingt.

Die Narben der Diktatur: Gerhard Bauses unvergessene Haft in Bautzen II

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BERLIN. Die Erinnerung an die Haft im Stasi-Knast Bautzen II und anderen DDR-Gefängnissen prägt das Leben von Gerhard Bause bis heute. Seine Geschichte ist ein erschütterndes Zeugnis von Mut, Widerstand und den tiefen Wunden, die ein totalitäres Regime hinterlassen kann. Ein zentraler Wendepunkt in seinem Leben war die Verfassung einer Protesterklärung im Jahr 1988, die er gemeinsam mit zwei Freunden verfasste und die zu seiner Inhaftierung führte.

Die Protesterklärung war eine klare Forderung nach Freiheit: Gerhard Bause und seine Mitstreiter verlangten die Freilassung von Bürgerrechtlern wie Stephan Krawczyk, Freya Klier, David Vera Lengsfeld, die während einer Rosa-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 verhaftet worden waren. Der Mut, diese Forderung öffentlich zu machen, hatte sofortige und dramatische Konsequenzen. Die Erklärung wurde an einem Freitag persönlich in der Erlöserkirche in Berlin an Generalsuperintendent Kruschel übergeben, zudem wurden Abschriften an das Ministerium des Inneren und an den Kirchenanwalt Wolfgang Schnur gesendet. Bause wusste, dass er mit einer „Zuführung“ rechnen musste.

Die Verhaftung, die am darauffolgenden Montag geschah, war ein zutiefst traumatisches Erlebnis für Bause. Er hatte sich innerlich darauf vorbereitet, doch die Verhaftung seiner eigenen Frau vor seinen Augen brach für ihn eine Welt zusammen. Die Herren der Staatssicherheit, die sich als solche auswiesen, fragten gezielt nach dem Arbeitsplatz seiner Frau, und Bause musste miterleben, wie sie im weißen Kittel aus ihrem Arbeitsplatz geführt und keine zehn Meter entfernt von ihm im Fahrzeug Handschellen angelegt bekam. Dieses Erlebnis, das die Trennung von der Familie und die damit verbundenen Vorwürfe einschloss, beschäftigte ihn innerlich maßlos.

Gerhard Bauses Haftweg führte ihn durch mehrere gefürchtete Anstalten der DDR:

• Ein Jahr und zehn Monate verbrachte er zunächst in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Erfurt (Andreasstraße).
• Anschließend folgte ein Monat in Cottbus.
• Daraufhin einige Monate in Chemnitz, dem damaligen Karl-Marx-Stadt.
• Schließlich wurde er im Februar 1989 nach Bautzen II verlegt, wo er bis zur Wende und der Amnestie inhaftiert blieb. Insgesamt war Gerhard Bause ein Jahr und neun Monate inhaftiert.

Während der langen Haftzeit halfen Bause verschiedene Strategien, um zu überleben. Er setzte sich etappenweise Ziele, oft mit dem Blick auf den Entlassungstag, und hoffte auf einen „Freikauf“ in den Westen. Was ihm jedoch am meisten Kraft gab, war sein Glaube als Christ. Er richtete all seine Sorgen, Nöte, Wünsche und Hoffnungen im Gebet an den „Herrgott“. Eine weitere wichtige Form der Selbsthilfe war das Schreiben von Gedichten, womit er bereits in Bautzen begann und die er nach seiner Freilassung fortsetzte. Sein Gedichtband mit dem Titel „Ohne hohe rollt das Meer“ beschreibt die Situation des Eingesperrtseins, die Diktatur und die gesamten Hafterlebnisse. Das Schreiben half ihm, einen Großteil der seelischen Wunden aufzuarbeiten.

Die Zeit nach der Haft war eine weitere Herausforderung. Gerhard Bause musste die DDR innerhalb von 24 bis 48 Stunden verlassen, er wurde „quasi noch regelrecht rausgeschmissen“. Der Übergang von der „Beengtheit“ der Haft in die „Licht- und Glitzerwelt“ des Westens führte zunächst zu einem „kompletten Zusammenbruch“.

Heute empfindet Gerhard Bause, dass die Erfahrungen dieser Zeit einen sehr großen Einfluss auf ihn haben. Er sieht es als seine Pflicht an, die Geschichte der Willkür und Diktatur an die jüngere Generation weiterzugeben, damit sich so etwas nicht wiederholt. Er kritisiert jedoch die heutige Gesellschaft, die seiner Meinung nach „zu müde, zu satt“ sei, um aufzustehen. Insbesondere äußert er Bedenken, dass die politische Bildung und die Vermittlung der Geschichte in Gedenkstätten durch „links-grün ausgerichtete Stiftungen und Politiker“ so gesteuert werden, wie sie es gerne hätten, was die authentische Weitergabe der Geschichte gefährde.

Gerhard Bauses Leben ist wie ein Leuchtturm in stürmischer See: Er hat die Dunkelheit der Diktatur durchlebt und leuchtet nun, um nachfolgende Generationen vor den Gefahren der Unfreiheit zu warnen und die Bedeutung der historischen Erinnerung zu betonen.

Einblicke in die psychologische Kriegsführung der Stasi in Hohenschönhausen

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Berlin-Hohenschönhausen war kein gewöhnliches Gefängnis, sondern ein Ort der „Zersetzung der Seele“. Hartmut Richter, einer der Zeitzeugen und Betroffenen, berichtet von seiner Inhaftierung und den perfiden Methoden des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die darauf abzielten, die Persönlichkeit von Häftlingen zu zerstören und sie zu brechen. Seine Erlebnisse, beginnend mit seiner Verhaftung 1975, zeichnen ein beklemmendes Bild dieser „operativen Methode“ der Stasi.

Der Beginn der Alptraums: Eine plötzliche Verhaftung
Die Verhaftung erfolgte ohne Vorwarnung: Im Februar 1963 wurde Hartmut Richter morgens auf dem Weg zu seiner Dienststelle von zwei Männern angesprochen. Noch bevor er seinen Ausweis zeigen konnte, packten sie ihn, drückten ihn in eine schwarze Limousine und brachten ihn nach Berlin-Lichtenberg, Magdalenenstraße. Richter, der sich zu diesem Zeitpunkt noch als unschuldig ansah, hoffte, dass sich die Angelegenheit schnell klären würde – vielleicht nur eine Einschüchterung, ein „Schuss vor den Bug“. Nach 22 Stunden in Berlin-Lichtenberg wurde er in einem dunklen Transportwagen an einen unbekannten Ort gebracht, der sich später als Berlin-Hohenschönhausen herausstellte. Dort angekommen, wurde er sofort entwürdigt: „Sie sind die Nummer 48, merken Sie sich das“, brüllte ein Wärter, und von diesem Zeitpunkt an wurde er nur noch mit dieser Nummer angesprochen.

Entmenschlichung und totale Kontrolle
Die Ankunft in Hohenschönhausen war der Beginn einer systematischen Entmenschlichung. Gefangene mussten sich entkleiden, und jede Körperöffnung wurde inspiziert. Die Zellen waren fensterlos oder hatten nur „zwei Reihen Glasziegel, dazwischen einen Spalt“, was das Atmen erschwerte. Persönliche Dinge gab es nicht, und jegliche Form der Beschäftigung, wie Lesen, Schreiben oder das Recht zu liegen oder zu sprechen, war während der Untersuchungshaft untersagt. Informationen von außen drangen nicht ein, und Informationen nach außen gelangten nicht hinaus. Die Wärter, speziell geschultes Personal, die sich als „Schild und Schwert der Partei der Arbeiterklasse“ verstanden, hatten die Aufgabe, die Gefangenen zu dominieren und zur Unterordnung zu zwingen.

Die Überwachung war allgegenwärtig und total:
• Ständige Beobachtung: Überall waren Kameras, und Posten sahen mit einem Auge durch einen Spion in die Zellen.
• Schlafentzug als Folter: Fluoreszierende Röhren im Flur und Lampen über den Türen sorgten dafür, dass es nie wirklich dunkel wurde. Die Posten kontrollierten die Zellen alle paar Minuten, was ein „permanenter Schlafentzug auch eine psychische Folter“ war.
• Geplante Isolation: Es war untersagt, anderen Gefangenen zu begegnen. Selbst Unkraut wurde entfernt, damit Häftlinge kein Grün zu Gesicht bekamen. Diese Isolation führte bei Hartmut Richter dazu, dass er nach seiner Freilassung Kreislaufbeschwerden bekam, wenn er versuchte, „weit zu schauen“.

Psychologische Kriegsführung: Die Methode der „Zersetzung“
Die Stasi nutzte das, was sie „Zersetzung“ nannte – eine „operative Methode zur wirksamen Bekämpfung subversiver Tätigkeit“. Das Ziel war es, „feindlich negative Einstellungen und Überzeugungen“ von Zielpersonen zu erschüttern und zu verändern, um „Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich negativer Kräfte“ zu erreichen. Dabei setzten sie an der „schwächsten Stelle“ an, um eine „Kettenreaktion“ auszulösen.

Zu den perfiden Methoden gehörten:
• Induktion von Schuldgefühlen: Vernehmungen zielten darauf ab, den Gefangenen einzureden, dass sie gegen Gesetze der DDR verstoßen und sich schuldig fühlen müssten.
• Manipulation und Demütigung: Vernehmer nutzten vielfältige Taktiken – freundlich, schmeichelnd, witzig, gehässig – um Gefangene zu verunsichern und zum Reden zu bringen. Es ging darum, „Bedingungen gestellt, die du zu erfüllen hast“, wie die Bitte um eine Zigarette, um „Devotion Unterordnung Zweck Verhalten zu erreichen“. Sie wollten sehen, ob man bereit war, sich zu demütigen.
• Zerstörung der Orientierung: Richter erfuhr an seinem Geburtstag, 14 Tage nach seiner Verhaftung, beiläufig, dass sein Ehemann ebenfalls in Haft sei und es ihm „wesentlich besser“ ginge, was darauf abzielte, ihn „eifersüchtig zu machen“ und „Stimmung“ in ihm zu erzeugen. Die Stasi wollte „eine Orientierung zerstören“ und „den eigenen Menschen Wert… zweifelhaft erscheinen“ lassen.
• Das Spiel mit der Hoffnung: Die Stasi spielte gezielt mit der Hoffnung der Gefangenen. Die Aussage „Dein Feind heißt Hoffnung Amnestie Entlassung vielleicht schon morgen er will dich fertig machen du sollst hoffen enttäuscht werden und zerbrechen“ fasst diese Strategie zusammen. Hartmut Richter wurde nach drei Wochen Isolation das Angebot gemacht, seinen Sohn in Westberlin zu besuchen – unter der Bedingung, dass er einem „unbekannten Studenten zur Flucht verhelfen“ sollte, was er als potenzielle Beihilfe zu einer Entführung erkannte und ablehnte.

Die Rolle der „inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM)
Ein besonders erschütternder Aspekt war der Einsatz von „inoffiziellen Mitarbeitern“ (IMs) im Gefängnis selbst. Dies waren Gefangene, die sich „verpflichtet hatten, wieder gut zu machen“, in der Hoffnung auf Vorteile oder vorzeitige Entlassung. Sie wurden in „wohnzimmerähnlich eingerichteten“ Zellen untergebracht, bekamen Kaffee und Kuchen und schrieben Berichte über ihre Mitgefangenen. Die Stasi baute „vertrauliche Beziehungen“ auf, bei denen der IM Vertrauen vortäuschte, während er die Zielperson aushorchte. Richter selbst erfuhr viel später, dass seine Zellen-Nachbarin, die Privilegien wie Liegeerlaubnis und heimliche Verpflegung genoss, eine solche IM war. Dies führte zu einem tiefen Misstrauen und dem Verlust von Freundschaften nach der Wende.

Widerstand und die „imaginäre Mauer“
Trotz der extremen Bedingungen suchten die Gefangenen Wege, sich abzulenken und Widerstand zu leisten. Hartmut Richter baute „diese imaginäre Mauer um mich gebaut und dann ging nichts mehr vor nichts mehr zurück“, wenn es „ganz dick“ wurde. Eine andere Methode war das simulierte Schreiben auf Tischplatten, um Gedanken zu Ende zu denken und Gefühle zu beschreiben, auch wenn es nicht sichtbar war. Richter formulierte Gedichte und reproduzierte diese im Kopf.

Nach der Haft: Unsichtbare Wunden und die Suche nach Antworten
Nach 5 Jahren und 6 Monaten wurde Hartmut Richter 1980 im Rahmen des „Freikaufs“ nach Westberlin entlassen. Doch die Befreiung war nicht das Ende der Geschichte: Die Stasi observierte ihn und seine Familie weiterhin. Er erfuhr später aus seiner Stasi-Akte, dass er als „feindlich negatives Objekt“ eingestuft und sogar eine „Maßnahme planen Vorfahren aus dem hervorging das liquidieren im Sinne von umbringen“ für 1984 erwogen wurde. Diese Erkenntnis, dass er die Stasi unterschätzt hatte, schockierte ihn zutiefst.

Die Erfahrungen in der Haft hinterließen tiefe, oft unsichtbare Spuren:
• Misstrauen und Bindungsängste: Hartmut Richter beschreibt „dieses Misstrauen da dieses Schreckens abschicken weiß jetzt Bindungsängste“.
• Psychische Nachwirkungen: Das „Verhärten“ und „Verbittern“ sind dauerhafte Gefahren, wie ein Gedicht im Video beschreibt.
• Umgang mit der Vergangenheit: Hartmut Richter sucht bis heute das Gespräch mit seinem ehemaligen Vernehmer, der jedoch „mauert“. Er möchte „in Augenhöhe“ reden, aber die „Feigheit“ der Täter frustriert ihn.

Der Fall von Jürgen Fuchs, einem Schriftsteller und Psychologen, der 1976 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ inhaftiert und nach neun Monaten Haft nach Westdeutschland abgeschoben wurde, unterstreicht die extremen Maßnahmen der Stasi. Fuchs starb 1999 mit nur 48 Jahren an einer seltenen Form von Leukämie und äußerte vor seinem Tod den Verdacht, im Gefängnis radioaktiv bestrahlt worden zu sein. Obwohl der Umgang der Stasi mit radioaktiven Substanzen nachgewiesen wurde, konnte eine Tötungsabsicht durch Bestrahlung nicht bewiesen werden.

Das Erbe der Zersetzung
Die „Zersetzung der Seele“ war eine subtile, aber verheerende Form der Gewalt, die auf den Intellekt zielte, um Individuen „unschädlich zu machen“. Sie wirkt lange nach der physischen Freilassung und prägt das Leben der Überlebenden. Es ist ein stilles Trauma, dessen „Spuren auf der Seele“ auf den ersten Blick unsichtbar sind. Diese Methoden erinnern daran, wie ein Baum, der unsichtbar unter der Erde Schaden nimmt, seine Früchte oder sein Wachstum beeinträchtigt sieht, selbst wenn er oberirdisch gesund erscheint. Die Zersetzung zielte darauf ab, die Wurzeln der Persönlichkeit zu untergraben.

Wie der Ostschnapskult das Leben prägte und die Wende überlebte

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Zwischen Rostock und Suhl war er mehr als nur ein Getränk: der Schnaps der DDR. Er war ein Stück Alltag, ein Begleiter durch Freud und Leid, ein Ritual. Heute sind viele dieser Spirituosen fast vergessen, doch einige feiern eine stille Rückkehr und werden heimlich wieder zum Kultgetränk. Sie erzählen Geschichten von Planwirtschaft und Pioniergeist, von festen Feiern und harten Zeiten. Tauchen wir ein in die Welt der unvergesslichen Ost-Spirituosen.

Der verlässliche Begleiter: Nordhäuser Doppelkorn und Goldbrand
Der Nordhäuser Doppelkorn war eine Institution. Er stand auf Familientreffen neben dem Sahnekuchen und war Pflicht beim Frühshoppen. Mit 38% Alkohol war dieser klare, ehrliche Tropfen nicht extravagant, sondern einfach immer da, verlässlich produziert vom VEB Nordbrand in Nordhausen. Er war kein Partyschnaps, sondern ein Ritual, das selbst auf Trauerfeiern nicht fehlen durfte. Sein direkter, schroffer Geschmack hatte Charakter, und er überlebte die Wende als eine der wenigen Ostmarken. Heute gehört er zu Rotkäppchen Mumm und wird noch immer gebrannt, fast wie damals schmeckend, weil er sich nie verstellen wollte.

Wer den Doppelkorn zu stark fand, griff zum Nordhäuser Goldbrand. Auch als „14 Mark 50er“ bekannt, war dieser Verschnitt aus Weinbrand und neutralem Alkohol mil süßer und gefälliger. Er war die flüssige Gewohnheit für alle Lebenslagen, sei es in der Kneipe, auf Gartenpartys oder im Altbauflur. Seine Verfügbarkeit und Versorgungssicherheit waren entscheidend, nicht der Hochgenuss. Hergestellt unter anderem von VEB Bärensiegel Berlin, schmeckte er fast überall gleich – ein Zeichen der Planwirtschaft. Auch er hat überlebt und steht heute noch unter Namen wie Goldkrone im Regal, ein Symbol der Sehnsucht nach einer einfachen Zeit.

Vom Werkzeug zur Erinnerung: Kristall Wodka, Saschenka und Solotov
Der Kristall Wodka, oft „der blaue Bürger“ genannt, war kein Freund, sondern ein Werkzeug. Mit 40% und einem scharfen, direkten Geschmack zielte er auf schnelle Wirkung. Er war billig und absichtlich so konzipiert, eine „Planerfüllung in flüssiger Form“ oder ein „Grundnahrungsmittel mit Nebenwirkung“. Man fand ihn überall, vom Spind auf dem Bau bis zum FDJ-Zeltlager. Heute ist er selten, eine Erinnerung an harte Zeiten oder ein Symbol eines Systems, das seine Menschen eher dämpfen als ihnen zuhören wollte.

Die Wodkas Saschenka und Solotov waren die verlässlichen Nebendarsteller. Sie standen im Schrank neben dem Goldbrand, wurden auf Betriebsfeiern und Geburtstagen getrunken. Saschenka klang russisch und trug eine sowjetische Aura, während Solotov aus Wilden stammte. Beide verkörperten die Handschrift der Planwirtschaft: verlässlich, neutral, unnachgiebig. Sie waren der Versuch, Stil innerhalb des Systems zu behaupten, doch nach der Wende verschwanden sie fast vollständig.

Farbenfrohe Rebellion und stiller Genuss: Pfeffi und Kristall Angelique
Der Pfeffi war anders. Grün wie Leuchtmoos, süß wie Kindheit, scharf wie Menthol – er war der Rebell in grüner Flasche. Besonders bei Jugendlichen beliebt, wurde er heimlich hinter dem Schulgarten getrunken. Nach der Wende fast verschwunden, wurde er von Hipstern neu entdeckt und ist heute Kult, ironisch oder ernsthaft in Bars zwischen Gin und Rum serviert. Er hat sich nicht angepasst, was ihn so besonders macht.
Die Kristall Angelique war das genaue Gegenteil: kein Getränk für nebenbei, sondern ein Anlass, ein Moment der Eleganz. Dieser bernsteinfarbene Kräuterlikör aus dem VEB Bockau im Erzgebirge war sanft verpackt in einer filigranen Flasche. Mit ihrem leicht kräuterigen Geruch und dem Hauch von Blume war sie ein Geschenk für besondere Anlässe, für die Kaffeetafel oder die Frauenrunde am Sonntagnachmittag. Sie war nicht nur ein Likör, sondern ein stilles Fest, das heute meist nur noch in der Erinnerung existiert.

Die harte Realität und das Nischengetränk: Kumpeltod und Mampe Halb und Halb
Eine der bittersten Geschichten erzählt der Kumpeltod. Offiziell „Trink Brandwein für Bergleute“, war dieser klare, scharfe Brandwein ein Sonderposten für die Bergarbeiter der DDR, bis zu 6 Liter im Monat. Sein Spitzname „Kumpeltot“ war bitter: „Kumpel“ als Ehrentitel im Bergbau, „tot“ als Preis für den Alkohol, der sich wie der Staub in die Knochen fraß. Er war kein Genuss, sondern Routine und oft eine Flucht vor der harten, lebensgefährlichen Arbeit unter Tage. Der Kumpeltod ist heute vollständig verschwunden und bleibt eine Mahnung an eine Zeit, in der Alkohol Teil des Systems war und viele keine Wahl hatten.

Mampe Halb und Halb war ein Statement. Mit seiner unverwechselbaren Flasche, die zwei Kammern – eine bernsteinfarben, eine fast schwarz – enthielt, mischten sich Süße und Bitterkeit erst im Glas. Er war ein Getränk für Menschen, die lieber schwiegen als brüllten, ein Nischengetränk in einer Welt der Normierung. Auch im Westen gab es Mampe, doch im Osten hatte er ein anderes Gewicht, eine greifbare Verbindung zwischen zwei Systemen. Nach kurzer Verschwundenheit wurde er wiederbelebt und steht heute mit Retroetikett in Bars.

Der Basteldrink und der Kräuterlikör mit Seele: Grüne Wiese und Röhntropfen
Die Grüne Wiese war keine Fertigmischung, sondern eine Idee: ein Cocktail aus Blue Curaçao, Orangensaft und Sekt. Sie war ein „sozialistischer Basteldrink mit Charme“, grellgrün und künstlich, aber genau darin lag ihr Reiz. Ein Getränk für Feste, das die Tanzfläche eroberte und aus wenig viel machen konnte. Sie verschwand nach der Wende, tauchte aber auf Ostpartys und in Szenebars wieder auf – heute ist sie Kult und ein Stück Hoffnung.

Der Röhntropfen, ein Kräuterlikör mit Seele, wurde in Meiningen im Thüringer Wald hergestellt. Dunkel, zähflüssig, würzig – er war ein Getränk für ruhige Momente, wenn der Tisch abgeräumt war und die Stimmung ruhig wurde. Er wollte nicht allen gefallen, nur den richtigen. Auch er geriet fast in Vergessenheit, erlebt aber heute eine stille Rückkehr in ausgewählten Läden.

Diese Spirituosen waren mehr als nur Alkohol; sie waren Spiegel der Gesellschaft, des Alltags und der Träume in der DDR. Sie waren wie die Notizbücher einer Epoche, in denen jede Flasche ein Kapitel über das Leben schrieb – manche laut und deutlich, andere leise und nachdenklich, aber alle mit unvergesslichem Nachhall.

Der 17. Juni 1953: Ein Tag, der die DDR in ihren Grundfesten erschütterte

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Der Aufstand vom 17. Juni 1953 markiert einen Wendepunkt in der frühen Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und offenbarte die tiefe Spaltung zwischen der regierenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und großen Teilen ihrer Bevölkerung. Was als Arbeiterprotest begann, entwickelte sich zu einem landesweiten Volksaufstand, der nur durch massive sowjetische Militärintervention niedergeschlagen werden konnte.

Die Gründung der SED und erste Widerstände
Die Wurzeln der SED-Herrschaft reichen zurück bis in den April 1945, als die „Gruppe Ulbricht“, benannt nach ihrem Leiter Walter Ulbricht, aus Moskau nach Berlin eingeflogen wurde. Ihr Ziel war die Errichtung der Alleinherrschaft einer Partei unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht. Ein Jahr später, im Frühjahr 1946, hielt Walter Ulbricht dieses „Herrschaftsinstrument“ in der Hand, nachdem die SPD und die KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zwangsvereinigt worden waren. Das erklärte Ziel der SED war eine planorientierte Zentralverwaltungswirtschaft nach sowjetischem Vorbild und die Überführung aller Produktionsmittel in staatliches und kollektives Eigentum – die „sozialistische Revolution“ in Etappen.

Doch die Geschichte der SED ist auch die Geschichte der Opposition, und das von Anfang an. Wolfgang Leonhard, ein Angehöriger der Gruppe Ulbricht, der als Sohn deutscher Kommunisten in der Sowjetunion aufgewachsen war, bemerkte erste Anzeichen parteiinterner Opposition bereits im Juni 1945. Er berichtete von Gründungsveranstaltungen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in Berlin, wo Diskussionen nicht über das Programm, sondern über die schauderhaften Vergewaltigungen und Übergriffe sowjetischer Soldaten stattfanden. Ein Genosse forderte gar, den Kommunismus in Deutschland „ohne die Rote Armee als notwendig, ja gegen die Rote Armee“ aufzubauen – eine Haltung, die Leonhard damals noch scharf ablehnte, ihn aber später zum Nachdenken brachte.

Vielfältige Oppositionsströmungen

Leonhard identifizierte mehrere frühe Strömungen der Opposition, die sich ab 1947 herauszubilden begannen:

• Sozialdemokraten: Jene, die in die SED gegangen waren, bemerkten mit Enttäuschung, Schrecken und Entsetzen, wie die Partei immer mehr in ein „kommunistisch-stalinistisches Fahrwasser“ geriet und sehnten sich nach den „guten Zeiten der Sozialdemokratie“ zurück.

• Selbstständig denkende, kritische Kommunisten: Diese hatten die These vom „selbstständigen Weg zum Sozialismus“ ernst gemeint und bemerkten nun, wie die SED immer mehr zu einem Sprachrohr der sowjetischen Besatzungsmacht wurde und sich dagegen aufzulehnen begann.

• Potenzielle Trotzkisten und Angehörige früherer Oppositionen.

Wolfgang Leonhards eigener Weg zur bewussten Opposition war ein Prozess:

• Kritische Regungen hatte er bereits in der Sowjetunion während der Großen Säuberung (1936-1938) und beim Hitler-Stalin-Pakt (August 1939).

• Der Übergang zur bewussten Opposition erfolgte jedoch an einem Tag im Oktober 1948. Als er jugoslawische Broschüren auf dem Gelände der SED-Parteischule versteckte, verstand er plötzlich am eigenen Leibe, was Unterdrückung ist: „Ich erkannte, dass das ein diktatorisches System ist, dass man Dinge verstecken muss“.

• Das entscheidende Ereignis, das seine kritischen Gedanken zu bewusster Opposition werden ließ, war der Bruch Titos mit der Sowjetunion am 28. Juni 1948. Jugoslawien weigerte sich, Stalins Anschuldigungen anzuerkennen, und stellte zum ersten Mal ein „selbstständiges sozialistisches Land“ dar, das sich nicht der stalinistischen Führung unterordnete. Diese mutige Haltung brachte viele Menschen innerhalb der Partei, insbesondere langjährige Kommunisten, zum Nachdenken.

• Leonhard versuchte daraufhin, als „bewusst kommunistischer Oppositioneller“ alternative Ideen zum Stalinismus zu besprechen und konspirative Freundesgruppen aufzubauen. Als seine Aktivitäten aufflogen, floh er am 12. März 1949 unter Lebensgefahr aus der sowjetischen Zone nach Jugoslawien. Er betonte, dass er nicht in den Westen fliehen wollte, sondern eine „Alternative zum Stalinismus auf dem Boden von Marx, Engels und Lenin“ suchte.

Die Eskalation vor dem Aufstand
Währenddessen festigte die SED ihre Macht. Der bürgerliche Widerstand, etwa von Jakob Kaiser, dem Vorsitzenden der Ost-CDU, gegen Enteignungen und die Planwirtschaft, wurde 1948 von der sowjetischen Militäradministration unterdrückt. Die bürgerlichen Parteien wurden in die „Zwangsjacke des antifaschistisch-demokratischen Blocks“ gepresst.

Im Juli 1952 proklamierte Walter Ulbricht den „Aufbau des Sozialismus in der DDR“. Die Folgen waren verheerend: Zwischen Herbst 1952 und Frühjahr 1953 verließ eine halbe Million Menschen die DDR, vertrieben durch Zwangsmaßnahmen in der Landwirtschaft, Boykottpolitik gegen kleinere Unternehmen, erhöhten politischen Terror und zunehmenden Mangel an Lebensmitteln. Die Fluchtbewegung in den Westen nahm ungeahnte Ausmaße an.

Der Tod Stalins am 5. März 1953 brachte einen neuen Kurs in Moskau mit sich, der auf Entspannung und Zugeständnisse an die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zielte. Dies traf Ulbricht und die SED völlig unvorbereitet, da sie gerade die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent bei gleichem Lohn beschlossen hatten. Obwohl die SED-Führung am 11. Juni 1953 gezwungen war, einen „Neuen Kurs“ mit Verbesserungsversprechen zu verkünden, hielt sie an den erhöhten Arbeitsnormen fest. Dies schuf eine „hochexplosive Lage“, die sich in dem Ausspruch „die SED ist pleite“ zusammenfasste.

Der 16. und 17. Juni 1953: Tage des Aufruhrs
Der 16. Juni, ein Dienstag, war der Tag der Politbürositzungen. Bauarbeiter von der Stalinallee zogen zur Regierung, um ihre Forderungen nach Rücknahme der Lohnerhöhungen vorzutragen. Die SED-Führung, deren Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung bereits zutiefst erschüttert war, wurde beschuldigt, sich nicht im Regierungsgebäude aufzuhalten, was den Unmut weiter anheizte.

Die sogenannte Volkspolizei war „moralisch gebrochen“ und wagte es nicht, gegen die Demonstration vorzugehen. Die Arbeiter sahen, dass sie sich frei formieren konnten, und die Demonstration wuchs unaufhaltsam an. Fritz Schenk, damals persönlicher Berater des Vorsitzenden der staatlichen Planungskommission, erlebte, wie sich die Menschen „wie von einer inneren Kraft getrieben“ fühlten und sich ihrer kollektiven Stärke bewusst wurden.

Am Abend des 16. Juni waren die „hohen Genossen“ alarmiert. In der Nacht zum 17. Juni beriet das SED-Politbüro im Hauptquartier des sowjetischen Hochkommissars in Karlshorst und traf die Entscheidung, die Sowjetarmee zu Hilfe zu rufen.

Am Morgen des 17. Juni rollten bereits in den frühen Stunden sowjetische Panzer nach Ost-Berlin. Das Regierungsgebäude wurde von sowjetischen Sondereinheiten abgeriegelt, und die Fenster wurden von den Demonstranten mit Steinen beworfen. Im Laufe des Vormittags erschienen die ersten sowjetischen Panzer mitten unter den Demonstranten. Die Losungen begannen sich zu verändern: Es war zum ersten Mal von „freien Wahlen“ und dem „Rücktritt der Regierung“ die Rede. Die Forderungen gingen über rein materielle Anliegen hinaus. Schüsse fielen, Panzer setzten sich in Bewegung und drängten die Demonstranten ab.

Der Journalist I Brand, damals Mitglied der Berliner Bezirksleitung der SED, erlebte den Aufstand bei Bergmann-Borsig. Dort strömten Tausende Arbeiter spontan zusammen und äußerten konkrete Schilderungen von Rechtsverletzungen, Unterdrückung, willkürlichen Verhaftungen und Prügeln. Um 13 Uhr verkündete der russische Militärchef den militärischen Ausnahmezustand. Sowjetische Truppen lösten die Demonstrationen auf, verhafteten und verprügelten Arbeiter – ein „grausiges und absurdes“ Schauspiel, da die angebliche „Rätemacht“ ihre eigenen Arbeiter auseinandertrieb.

Die bleibende Erkenntnis
Ohne die russischen Panzer wäre das SED-Regime in Stunden hinweggefegt worden. Die oft verbreitete „Agentenlegende“, wonach der Aufstand von westlichen Agenten initiiert wurde, ist laut I Brand ein „SED-Märchen“ und „absolut unsinnig“. Während natürlich immer Agenten konkurrierender Mächte bei inneren Unruhen anwesend sein könnten, hätten sie ohne die „Zündmasse“ und die „eigenständige originäre Arbeitererhebung“ nichts ausrichten können.

Der 17. Juni 1953 war eine Tragödie. In 250 Ortschaften der DDR wurde gestreikt oder demonstriert. Es gab 21 Todesopfer und über 1300 Verurteilungen, darunter sechs Todesstrafen. Der Aufstand hatte keine zentrale Führung, sondern entstand spontan aus der Verbitterung über ein unfähiges und gewalttätiges Regime. Er offenbarte auch eine tiefe Spaltung in der SED-Führung, doch Walter Ulbricht, der die Katastrophe ausgelöst hatte, blieb mit voller Deckung der sowjetischen Führung an der Macht.

Für Fritz Schenk führte die Desillusionierung, die bereits im Frühjahr 1952 eingesetzt hatte, zu der Erkenntnis, dass das von der Sowjetunion übernommene sozialistische System niemals ein demokratischer Sozialismus werden könnte, solange die sowjetische Bevormundung anhielt. Er wurde später wegen Verbindungen zum Ostbüro der SPD und der Verbreitung „hetzerischer Schriften“ (wie Milovan Djilas‘ „Die Neue Klasse“) verhaftet, konnte aber nach seiner Freilassung im Rahmen eines Disziplinarverfahrens fliehen.

Für I Brand war der 17. Juni die vollständige Abkehr von der Vorstellung, dass es sich beim sowjetischen Gesellschaftssystem um eine Form des Sozialismus handelte; er sah es als eine „andere Art von Ausbeutung und Unterdrückungssystem“. Die Erfahrungen des 17. Juni und die darauf folgende Machtlosigkeit angesichts der sowjetischen Bevormundung führten dazu, dass sich nach den späteren Ereignissen in Ungarn 1956 oder dem Prager Frühling 1968 keine stärkeren oppositionellen Gruppen in der DDR bildeten, da „alles Auflehnen hinterher wahrscheinlich wieder mündet in noch tiefere Demütigung“.

Der 17. Juni 1953 bleibt ein Denkmal der Volksverbitterung und des mutigen Aufstands gegen ein diktatorisches System, dessen Fundamente ohne die Stütze fremder Panzer wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen wären. Er war ein lauter Schrei nach Freiheit und Selbstbestimmung, der von der Macht brutal erstickt wurde, aber die tiefe Risse im Gebilde der DDR hinterließ. Es war, als ob ein Ventil bei übermäßigem Druck gewaltsam verschlossen wurde, statt den Druck abzulassen – die Explosion wurde verhindert, aber das System blieb unter immenser Spannung.

Ex-Agent Leo Martin: Alltag im Geheimdienst, V-Leute und der NSU-Fall

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Die Welt der Geheimdienste ist für die meisten von uns ein undurchsichtiges Geflecht aus Verschwiegenheit und verdeckten Operationen. Doch wer sind die Menschen, die in diesem Schattenreich agieren, und wie sieht ihr Alltag aus? Leo Martin, ein ehemaliger Geheimagent und Verfassungsschützer, gewährt einen seltenen Einblick in seine frühere Tätigkeit und enthüllt die komplexen Herausforderungen und psychologischen Belastungen dieses hochsensiblen Berufs.

Vom Polizisten zum Agenten: Ein ungewöhnlicher Werdegang Leo Martin, dessen wahrer Name streng geheim ist – „den kennt nur das Finanzamt“ –, beschreibt seinen Weg zum Geheimagenten als eine klassische Polizeiausbildung, gefolgt von einem Angebot des Innenministeriums. Er entschied sich für ein Studium der Kriminalwissenschaften und die Spezialisierung als Operateur beim Verfassungsschutz. Seine Faszination galt dabei stets dem „Blick hinter die Kulissen“ und den „Abgründen der menschlichen Psyche“.

Was macht ein Verfassungsschützer? Ein Verfassungsschützer ist ein Beamter im öffentlichen Dienst, angesiedelt unter dem Innenministerium, entweder bei einem Landesamt für Verfassungsschutz oder dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Ihre Kernaufgabe ist die Erhebung und Auswertung von Informationen, die auch verdeckt gewonnen werden dürfen, beispielsweise durch den Einsatz technischer Mittel oder – und hier liegt Martins Spezialgebiet – durch V-Leute, also menschliche Quellen. Der Auftrag umfasst die Beobachtung und Abwehr extremistischer Organisationen (Links-, Rechts- oder Ausländerextremismus), die Spionageabwehr und in einigen Bundesländern auch die Bekämpfung der organisierten Kriminalität.

Das Herzstück der Arbeit: Der Umgang mit V-Leuten Als Operateur besteht Martins Alltag hauptsächlich aus der Führung von V-Leuten, von denen er je nach Einsatzgebiet fünf bis zwölf gleichzeitig betreuen konnte. Diese wurden ein- bis dreimal pro Woche getroffen.

• Der erste Kontakt: Leo Martin legte beim ersten Kontakt „relativ schnell die Karten auf dem Tisch“. Er offenbarte, dass er für den Nachrichtendienst arbeitet, bot eine Zusammenarbeit an und zeigte gleichzeitig „Innenseiter Wissen“ über die Zielperson, um sie zur Mitarbeit zu motivieren. Dies führte zu einer „Schocksituation“, in der die Zielperson das Bedürfnis entwickelte, Sicherheit zurückzugewinnen und herauszufinden, „was wissen die wirklich, was wollen die wirklich“.

• Vertrauensaufbau: Entscheidend war, dass der V-Mann das Erlebnis macht, dass Informationen, die er liefert, niemals zu seinem Nachteil führen. Zunächst wurden Informationen über Konkurrenzorganisationen abgegriffen, bevor der V-Mann in einem Moment der Schwäche (z.B. bei ungerechter Behandlung innerhalb der eigenen Organisation) erstmals Informationen aus seiner eigenen Gruppe herausgab. Dieser Prozess, so Martin, funktioniere „erstaunlich schnell“.

• Motivation jenseits des Geldes: V-Leute werden nicht reich. Sobald Informanten merken, dass ihre Informationen mit Geld abgegolten werden, neigen sie dazu, Geschichten zu erfinden, die „immer wilder“ und „immer spannender“ werden, aber nicht der Realität entsprechen. Daher war es entscheidend, den V-Mann „weg vom Geld […] hin zur Beziehung“ mit dem Operateur zu bringen, sodass er es „für mich tut“.

• Unterschiede bei Extremisten: Die Arbeit in der linken Szene, die „antiautoritär“ und „antistaat“ ist, unterscheidet sich fundamental von der Arbeit in der rechten Szene. Während im linken Milieu oft Personen in die Organisation eingeschleust und dort aufgebaut werden müssen, ist es im rechten Bereich, der einen „starken Staat“ bevorzugt, einfacher, jemanden „herauszubrechen“ und anzuwerben.

• Informationsbewertung: Informationen werden niemals ungeprüft übernommen, sondern jede Information von jedem V-Mann wird auf zwei Ebenen bewertet: die Zuverlässigkeit des V-Mannes und die Verifizierbarkeit der einzelnen Informationen. Berichte gehen erst dann nach außen, wenn sie von zwei, besser drei Quellen bestätigt wurden.

Der Alltag eines Agenten: Zwischen Alibi und Isolation Als Alibi-Beruf diente Leo Martin die Bezeichnung „Projektmanager“. Diese Legende ist flexibel gestaltbar und erfordert außer Methodenwissen „im Zweifelsfall nichts“, was das Risiko minimierte, bei Fachfragen aufzufliegen.

Der Preis für diese Geheimhaltung war jedoch hoch:

• Einschränkungen im Privatleben: Freunde wurden weniger, und die Fähigkeit, Verpflichtungen einzugehen, litt massiv, da Einsätze unplanbar sind. Selbst Martins Mutter erfuhr erst nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst von seiner wahren Tätigkeit.

• Partner als einzige Ausnahme: Die einzige Person, die die Art des Berufs erfahren durfte, war der Partner. Allerdings wurden auch hier keine konkreten Fälle, Namen oder Zahlen besprochen, um „Kopfkino“ und „morgen Drama“ zu vermeiden.

Das Dilemma: Verfassungsschutz und Polizei Ein ständiges „Spannungsfeld“ besteht zwischen Verfassungsschutz und Polizei. Die Polizei unterliegt dem „Legalitätsprinzip“, muss also bei Kenntnis einer Straftat einschreiten. Der Verfassungsschutz hingegen arbeitet nach dem „Opportunitätsprinzip“, das ihm einen gewissen Ermessensspielraum einräumt. Das bedeutet, bei „relativ einfachen Delikten“ können Geheimdienste „wegschauen“, um ihre V-Leute zu schützen, während die Polizei einschreiten müsste. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen führen zu Reibungen, die jedoch „in einem gewissen Niveau“ managbar seien und vom Rechtsstaat so vorgesehen.

Der NSU-Fall: Warum der Verfassungsschutz scheiterte Die Frage, wie der NSU „unter den Augen des Verfassungsschutzes passieren“ konnte, beantwortet Leo Martin mit der Struktur der Gruppe: Die Kernkompetenz der Landesämter für Verfassungsschutz ist es, in „bewusst abschottende Organisationen“ einzudringen, die ein „großes Netzwerk“ und geteilte Werte haben. Der NSU war jedoch eine kleine Gruppe von drei Personen, die ihre Taten nicht nach außen bekannt machte, was sie „relativ schwierig zu detektieren“ machte. Trotz umfangreicher polizeilicher Ermittlungen in verschiedenen Bundesländern war der NSU „besser, stärker, cleverer, gewiefter unterm Radarf“ und hatte bis zum Ende an vielen Stellen „Glück“.

Keine moralischen Konflikte und spezielle Ausrüstung Leo Martin betont, dass er in seinen zehn Jahren Dienst „nie und zwar kein einziges Mal über eine moralische Hürde springen“ musste und jede Nacht gut geschlafen habe, da er V-Leute führte, um „unsere Rechte und Freiheiten zu schützen“. Die spionage-technische Ausrüstung eines Agenten ist oft unspektakulärer als gedacht. Abgesehen von verdeckten Kameras in Knopflöchern oder Taschen waren es oft simple Hilfsmittel wie ein Klebestreifen, um eine Tür offen zu halten, oder Werkzeuge zur Reparatur kleiner Defekte.

Zusammenfassend lässt sich die Arbeit eines Geheimagenten als ein ständiger Drahtseilakt beschreiben, bei dem das Erlangen und Bewerten von Informationen durch menschliche Quellen im Mittelpunkt steht, während gleichzeitig ein extrem hohes Maß an Geheimhaltung und psychologischer Belastbarkeit gefordert wird. Es ist wie das Arbeiten in einem Labyrinth mit unsichtbaren Wänden: Man muss die Wege kennen, die Fallen umgehen und das Vertrauen derer gewinnen, die selbst im Verborgenen agieren, um die Sicherheit des Ganzen zu gewährleisten.

Mario Rölligs Kampf gegen die SED-Diktatur und sein Vermächtnis

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Berlin – Mario Röllig, dessen Fluchtversuch aus der DDR im Jahr 1987 scheiterte und der daraufhin drei Monate im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen inhaftiert war, engagiert sich heute in zahlreichen Projekten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und ist Vorsitzender der Lesben und Schwulen in der Union in Berlin. Seine Geschichte ist ein Zeugnis persönlicher Freiheit und des unermüdlichen Kampfes gegen Unrecht.

Ein „normales“ Leben mit Einschränkungen
Vor seinem Fluchtversuch führte Mario Röllig ein Leben, das er als „ganz normal“ beschreibt, wie das Millionen anderer DDR-Bürger und Jugendlicher. Doch dieses Leben war von den Restriktionen des sozialistischen Staates geprägt. Obwohl er das Abitur anstrebt hatte, war die Möglichkeit dazu stark reglementiert: In einer Klasse von 30 Schülern durften nur vier die Erweiterte Oberschule besuchen, und Röllig gehörte nicht zu den Auserwählten. Die Auswahl bevorzugte junge Menschen mit „regimetreuer“ Einstellung, deren Eltern oft in Fabriken arbeiteten, um die Arbeiterklasse zu fördern.

Sein Vater riet ihm zur Gastronomie, wo er die Möglichkeit sah, „viel Geld zu verdienen“. Röllig fand einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz im Flughafen Berlin-Schönefeld, das damals als „Tor zur Welt“ galt. Obwohl er sich selbst als unpolitisch einschätzte, wusste er aus dem Alltag heraus, dass er mit Gästen nicht über Politik, schon gar nicht kritisch, sprechen durfte, da „immer Menschen im Umfeld, Kollegen oder andere Leute im Restaurant, die große Ohren bekamen und zuhörten“, dies weiterleiten könnten.

Die Liebe als Auslöser der Flucht
Der Wendepunkt in Rölligs Leben kam mit seinem Coming-out als schwuler Mann im Alter von 16 Jahren. Er verliebte sich 1985 auf einer Urlaubsreise nach Budapest in einen Mann aus West-Berlin. Ein Jahr nach ihrem Kennenlernen, als sein Freund ihn regelmäßig in der DDR besuchte, wurde die Stasi auf sie aufmerksam. Viele uniformierte Grenzbeamte waren Stasi-Leute, die genau prüften, wer ein- und ausreiste.
Im November 1986 wurde Röllig von zwei Männern des Ministeriums für Staatssicherheit in das Büro seines Chefs im Flughafenrestaurant zitiert.

Sie waren mit seiner Arbeit zufrieden, wollten ihn aber als Informanten anwerben, um Informationen über seinen West-Berliner Freund zu sammeln – dessen Schwächen, Stärken, Charakter, politische Einstellungen und Freundeskreis. Mario Röllig weigerte sich, Freunde zu verraten, „und schon gar nicht die erste große Liebe“.

Die Stasi reagierte mit Druck: Sie wussten über seinen Führerscheinantrag, die zehnjährige Wartezeit auf einen Trabant und seine Hoffnung auf eine eigene Wohnung, für die Singles in Ost-Berlin acht Jahre warten mussten. Sie versprachen ihm ein neues Auto innerhalb von drei Wochen und die freie Wahl des Wohnbezirks in Berlin, wenn er kooperiere. Röllig provozierte sie mit der Forderung nach einer Wohnung in „West-Berlin Charlottenburg“ – eine absolut tabuisierte Antwort.

Drei Wochen später verlor er seinen Arbeitsplatz und wurde zum Hilfsarbeiter als Abwäscher am S-Bahnhof Berlin-Schöneweide degradiert. Die Stasi drohte ihm, dass er bis zum Ende seines Lebens abwaschen müsse, wenn er nicht kooperiere, und bei einmaligem Zuspätkommen als „arbeitsscheu und asozial“ verhaftet würde. Diese Drohungen verstärkten seine Angst und trieben ihn in die Flucht.

Obwohl Homosexualität in der DDR gesetzlich entkriminalisiert war (Paragraph 175 wurde entschärft), war sie in der Bevölkerung nicht anerkannt, und die Gründung offizieller Selbsthilfegruppen war verboten.

Der missglückte Fluchtversuch
Mario Röllig plante seine Flucht im Alleingang, niemandem erzählte er davon. Er flog 1987 für seinen Jahresurlaub nach Budapest und fuhr per Anhalter in den Süden Ungarns, um Polizeikontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln zu vermeiden. Er versteckte sich in einem Graben an der Grenze zu Jugoslawien, sah aber aus 150 Metern Entfernung stündlich patrouillierende ungarische Armeepolizei. Sein Plan war, nach Einbruch der Dunkelheit loszurennen, was er auch tat.

Doch er hatte nicht mit den bitterarmen Bauern im Süden Ungarns gerechnet, die im Nebenberuf Kopfgeldjäger für das Regime waren – selbst für Tote gab es Geld. Röllig hörte Schreie, einen Schuss und rannte um sein Leben. Kurz vor den letzten Grenzschildern rutschte er aus und wurde gefasst. Er musste miterleben, wie der Kopfgeldjäger für seine Verhaftung ein Bündel Geldscheine erhielt, was er heute als über einen halben Monatslohn beziffert.

Die Haft: Psychische Tortur statt körperlicher Gewalt
Nach seiner Festnahme wurde Röllig zunächst in einer Zelle in der Grenzstation und dann in Gefängnisse in Kecskemét und Budapest gebracht. Er nahm in einer Woche etwa zehn Kilo ab, da die hygienischen Bedingungen und das Essen unerträglich waren.

Nach einer Woche wurde er mit anderen jungen DDR-Flüchtlingen von zivilen Stasi-Leuten in einem Sonderflugzeug nach Berlin-Schönefeld zurückgebracht. Röllig musste vor dem Flug eine Beruhigungstablette einnehmen, um gewaltsame Spritzen zu vermeiden. In Berlin angekommen, wurde er in einem fensterlosen Containerwagen – beschrieben als „Besenschrank große dunkle Zellen“ – nach Hohenschönhausen transportiert. Dort erlebte er eine entwürdigende Ankunft: unter Gebrüll und Geschrei wurde er aus dem Wagen gezerrt, umringt von Männern mit Gummiknüppeln. Er musste sich an eine Wand stellen, Hände hinter den Kopf, Gesicht zur Wand, Schnürsenkel und Gürtel abgeben – eine Szene, die ihn an einen Nazi-Film erinnerte und ihm das „letzte Rest Heimat“ nahm.

In Hohenschönhausen erhielt er die Gefangenen-Nummer 328. Seine Zelle war zwar sauber, aber die Heizung lief im Hochsommer auf Hochtouren, wodurch die Temperatur 35 bis 40 Grad erreichte. Er wurde tagsüber ständig durch den Türspion beobachtet.

Die Vernehmungen waren eine psychologische Tortur. Der erste Vernehmer schrie ihn an und beleidigte ihn als „schwules asoziales Element“. Der zweite, über Monate zuständige Vernehmer war gegensätzlich: freundlich, gepflegt, auf sein Persönlichkeitsbild angesetzt. Dieser Vernehmer eröffnete ihm, er könne mit zwei bis acht Jahren Haft rechnen, möglicherweise mit 15 Mördern in einer Zelle, was für ihn als schwulen Mann „bestimmt nicht angenehm“ wäre. Ihm wurde vorgeworfen, das Vaterland verraten, den Weltfrieden gefährdet und einen Atomkrieg provoziert zu haben. Die Stasi bot ihm an, seine Strafe zu reduzieren, wenn er andere aus seinem Umfeld belastete. Um niemanden zu verraten, zählte Röllig stundenlang die Blätter der Wandtapete.

Körperliche Folter fand in Hohenschönhausen zu dieser Zeit nicht mehr statt; stattdessen wurde hauptsächlich „seelisch gefoltert“. Dies lag daran, dass die DDR Gefangene an den Westen verkaufte, um Devisen zu erhalten – 90.000 bis 120.000 D-Mark pro Person in den 1980er Jahren – und die Freigelassenen im Westen keine Folterspuren zeigen sollten.

Die wundersame Freilassung und der Weg in die Freiheit
Nach nur drei Monaten wurde Mario Röllig entlassen – sein „größtes Glück“. Die DDR war Ende 1987 wirtschaftlich „völlig pleite“ und brauchte dringend Geld. Rölligs Name wurde im Westen bekannt. Seine Eltern, die er zutiefst stolz nennt, weigerten sich, jeden Kontakt zu ihm abzubrechen, wie es von einer „sozialistischen Familie“ erwartet wurde. Stattdessen informierten sie heimlich Freunde in West-Berlin. Diese Freunde kontaktierten ein prominentes Rechtsanwaltsbüro, das wiederum beste Kontakte zum innerdeutschen Ministerium der Bundesregierung hatte. So kam Röllig auf die geheime Freikaufsliste der Bundesrepublik Deutschland für politische Gefangene. Er wurde ohne Gerichtsprozess oder Urteil, aber mit einem Amnestie-Beschluss entlassen.

Obwohl seine Eltern ihn mit offenen Armen empfingen, musste er noch vier Monate als Hilfsarbeiter abwaschen. Er nahm bewusst an Veranstaltungen der Opposition teil, was der Stasi reichte, um ihn als „gefährlich“ und „ohne Angst“ einzustufen. Am 7. März 1988 wurde er von der Stasi zum Bahnhof gebracht und in einen Zug gesetzt. Die Stasi drohte ihm, ihn wieder zu verhaften, sollte er um Mitternacht noch auf DDR-Staatsgebiet sein, und warnte ihn davor, öffentlich über seine Erlebnisse zu sprechen, da ihm überall etwas zustoßen könnte und seine Eltern bekannt seien. Am 8. März 1988, punkt 0 Uhr nachts, fuhr der Zug mit Mario Röllig über die deutsch-deutsche Grenze in die Freiheit. Dies war der schönste Augenblick seines Lebens.

Der Schatten der Vergangenheit: Begegnung mit dem Vernehmer und die Folgen
Jahre später, 1997, arbeitete Röllig als Verkäufer in der Zigarrenabteilung des Berliner KaDeWe. Dort traf er zufällig seinen ehemaligen Stasi-Offizier, der ihn über Monate verhört und seelisch gefoltert hatte. Der Vernehmer, der ihn nicht erkannte, kaufte teure Zigarren. Röllig sprach ihn an, stellte sich vor und forderte eine Entschuldigung. Der Vernehmer reagierte mit Schreien und der Aussage, Röllig sei damals zu Recht in Haft gewesen und es gäbe keinen Grund zur Reue.

Dieses Erlebnis stürzte Mario Röllig in eine tiefe Krise mit Depressionsschüben, Angstattacken und Panikzuständen. Er versuchte, sich das Leben zu nehmen, wurde aber gerettet. Ein Chefarzt diagnostizierte ein Foltertrauma. Er riet Röllig, die Gedenkstätte Hohenschönhausen, das ehemalige Gefängnis, zu besuchen und seine Geschichte zu erzählen, um zu heilen. Dies tut Röllig seit 22 Jahren, um sicherzustellen, dass das Thema nicht vergessen wird.

Ein weiterer Schlag war die Einsicht in seine Stasi-Akten im Jahr 1997, die 2000 Seiten umfassen. Das Schlimmste war nicht die Verhörprotokolle, sondern die Erkenntnis, wer ihn alles verraten hatte: Nachbarn, wenige Arbeitskollegen und vor allem sein damaliger bester Freund. Bei einem Treffen in einem Berliner Café, als Röllig seinen Freund zur Rede stellte, wies dieser jede Schuld von sich. Seitdem haben sie sich nie wiedergesehen. Das Vertrauen ist bis heute ein schwieriges Thema für Röllig, auch in Freundschaften und Beziehungen, da er stets die Angst trägt, zu viel von sich preiszugeben und verraten zu werden.

Nach dem Mauerfall und die Vision für die Zukunft
Den Mauerfall erlebte Mario Röllig in West-Berlin. Sein Vater rief ihn mitten in der Nacht aus Ost-Berlin an, um ihm die Nachricht zu überbringen. Röllig, zunächst ungläubig, eilte zum Grenzübergang Bornholmer Straße, wo er seine Eltern nach fast zwei Jahren wiedertraf. Doch die Freude war gemischt: Er empfand auch Wut, da die Mauer ihn nicht nur von seiner Familie getrennt, sondern ihn im Westen auch „geschützt“ hatte. Nun musste er all jene wiedersehen, die ihm das Leben in der DDR so schwer gemacht hatten.

Mario Röllig engagiert sich in der CDU, da er sie als einzige Partei sieht, die sich offensiv mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur auseinandersetzt. Er betont die Förderung von Gedenkstätten und Zeitzeugenprojekten, die seit Angela Merkels Kanzlerschaft stärker geworden sei.

Für die heutige Ost-West-Beziehung plädiert er für gegenseitiges Zuhören und Besuche, um Stereotypen wie „Besserwessis“ oder „40 Jahre SED gewählt“ abzubauen. Für junge Generationen sei die Ost-West-Frage heute ohnehin kein Thema mehr.

Freiheit bedeutet für Mario Röllig, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich einzumischen und nicht nur zu meckern. Er mahnt: „Deshalb seit unbequem, stellt Fragen, lasst euch nicht alles bieten und hinterfragt auch selbst unsere demokratische Bundesregierung“. Seine Geschichte ist eine eindringliche Erinnerung daran, dass Demokratie niemals selbstverständlich ist und ständiges Engagement erfordert, um nicht eines Morgens in einer Diktatur aufzuwachen.

Gefangen in der DDR: Schicksale von politischen Häftlingen und ihr Kampf für Freiheit

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Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war ein Staat, der seine Bürger scharf kontrollierte und jegliche Abweichung von der offiziellen Linie streng verfolgte. Vier persönliche Berichte – von Erich Loest, Ulrich Schacht, Simone Langrock und Jürgen Fuchs – zeichnen ein tiefgreifendes Bild vom politischen Konflikt mit dem DDR-Regime und den traumatischen Erfahrungen von Verhaftung, Haft und Freilassung. Ihre Geschichten beleuchten die Härte des Systems, aber auch die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes.

Die Verhaftung: Ein plötzliches Ende der Normalität
Für Erich Loest, 1926 in Mittweida/Sachsen geboren, kam die Verhaftung am 14. November 1957 am Abend, während er bei seinem Vater war. Drei Männer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) erschienen und nahmen ihn fest. Die Begründung: Mitgliedschaft in einer „staatsfeindlichen Gruppe“, die den Sturz der DDR-Regierung zum Ziel hatte. Loest, der sich als Kommunist verstand und sich für Demokratie innerhalb der Bewegung einsetzte, war drei Tage zuvor aus der SED ausgeschlossen worden.

Ulrich Schacht, 1951 im Frauengefängnis Hoheneck geboren, wurde am Morgen des 29. März 1973 in Wismar von zwei MfS-Beamten festgenommen. Ihm wurde am nächsten Tag „staatsfeindliche Hetze“ (§106 StGB DDR) und „Hetze gegen das sozialistische Ausland“ (§108 StGB DDR) vorgeworfen. Diese Anklage bezog sich auf Gedichte, Kurzgeschichten und Aufsätze, die in seinem Freundeskreis zirkulierten und Themen wie die innerdeutsche Grenze oder die Ereignisse von 1968 in der Tschechoslowakei behandelten. Auch die Verbreitung westlicher Bücher und Rundfunksendungen wurde ihm angelastet. Schacht verstand sich als „demokratischer Sozialist“.

Simone Langrock, 1957 in Leipzig geboren, erlebte ihre Verhaftung am 22. April 1980 um acht Uhr morgens in ihrer Wohnung durch vier Stasi-Mitarbeiter. Ihr wurde lediglich der Haftbefehl des Staatsanwalts vorgelegt, eine detaillierte Begründung erhielt sie nicht.

Jürgen Fuchs, 1950 in Reichenbach/Thüringen geboren, wurde am 19. November 1976 – drei Tage nach der Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann – in Grünheide bei Berlin aus einem Personenwagen geholt. Die Begründung bezog sich auf seine Schriften, seine Haltung und seine Freundschaften zu Dissidenten wie Biermann und Robert Havemann. Fuchs sah sich als kritischer Marxist, der die Wahrheit sagen und Zensur bekämpfen wollte, überzeugt davon, dass „wo Unrecht alltäglich wird, dann wird Widerstand zur Pflicht“.

Die Haft: Isolation, Demütigung und Zwangsarbeit
Der erste Tag im Gefängnis war für alle Betroffenen von Schock und Isolation geprägt. Erich Loest beschreibt das „Nacktmachen“, das „Betatschen“ bei der Leibesvisitation als Prinzipien der Demütigung, die die Selbstachtung senken sollten. Das Zuschließen der Zellentür und das Geräusch des Riegels waren eine „große, lange nachwirkende traumatische Situation“. Er fühlte sich über Wochen und Monate allein und isoliert, ohne Zeitung oder Buch. Loest verbrachte von 1957 bis 1964 politische Haft.

Ulrich Schacht saß im berüchtigten Zuchthaus Brandenburg. Das Gefängnis, ursprünglich für 900 Insassen konzipiert, beherbergte zu seiner Zeit dreieinhalbtausend. Einzelhaft war dort unüblich, da Zellen durchbrochen wurden und bis zu 17 Häftlinge auf 25 Quadratmetern leben mussten. Schacht erlebte jedoch drei Wochen „Einzelhaft“ im unterirdischen Arrestblock auf einem Steinbett, weil er versuchte, mit westdeutschen Häftlingen Nachrichten über Haftbedingungen auszutauschen. Körperliche Misshandlungen erlebte er nicht, hörte aber Schreie und Zeugenaussagen über Brutalität.

Simone Langrock wurde nach monatelangen Vernehmungen von 1980 bis 1982 inhaftiert. Sie kam in das Frauengefängnis Hoheneck, wo die Bedingungen als „miserabel“ beschrieben werden. Auch hier gab es Arreststrafen, die Wochen des Kontaktabbruchs zu anderen Häftlingen und Angehörigen bedeuteten.

Die Vernehmungen waren für alle eine Tortur. Loests Vernehmer versuchten, ihm eine „staatsfeindliche Gruppe“ und den Sturz der Regierung anzulasten. Sie übten psychologischen Druck aus, indem sie drohten, seine Frau festzunehmen, wenn er nicht „die Wahrheit“ sage. Schacht berichtet, dass seine Vernehmer „außerordentliche Geduld und Langsamkeit“ zeigten und über umfangreiches Material gegen ihn verfügten. Simone Langrock wurde kurz nach der Geburt ihres Kindes vernommen, leugnete zunächst alles und weigerte sich, andere zu belasten. Sie stellte fest: „jedes Wort, was man bei der Staatssicherheit sagt, sich immer gegen einrichtet“. Jürgen Fuchs’ Vernehmer galten als „unheimlich gut geschult“ und „sehr standfest“. Er glaubte, dass sie wirklich an das glaubten, wofür sie standen.

Zwangsarbeit war ein fester Bestandteil des Haftalltags. Loest musste in den letzten zwei Haftjahren bei zwei Betrieben arbeiten, die Niederlassungen im Gefängnis hatten: Fernsehgeräte zusammenstecken und Elektromotoren bauen. Er erhielt nur eine Mark pro Motor, während die Anstalt 52 Mark pro Häftling vom Betrieb kassierte – eine Ausbeutungsrate, die er nicht ausrechnen konnte. Schacht arbeitete in einer Schneiderei, die Strahlenanzüge für Soldaten produzierte. Er beklagte den Einsatz hochgiftiger Klebstoffe ohne Schutzmaske und Frischluft; er bezeichnete es als „Sklavenarbeit“. Langrock produzierte in Hoheneck Bettwäsche, die auch in die Bundesrepublik verkauft wurde. Sie empfand, dass Häftlinge als „billigste Arbeitskraft“ ausgenutzt wurden, da der Großteil ihres Verdienstes in die Staatskasse floss.

Der Prozess und die Rechtsbeugung
Die Gerichtsverfahren waren oft eine Farce. Ulrich Schachts Prozess im November 1973 vor dem Bezirksgericht Schwerin fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Richter, Bassong, war als „härtester Bursche“ bekannt. Schachts Verteidigerin konnte faktisch nichts am Urteil ändern, bot aber „menschliche Sympathie“ und unterstützte den Kontakt zur Familie.

Jürgen Fuchs’ Verteidiger, Dr. Kolbe, belog ihn über den Anklageparagraphen. Er nannte ihm den §19 (staatsfeindliche Hetze) anstatt des viel schwerwiegenderen §15 (Staatsverrat), der Haftstrafen von nicht unter fünf Jahren vorsah. Fuchs bezeichnete das Verhalten seines Verteidigers als „Schweinerei, ein Betrug“, da dieser „kampflos, schnell und ohne Aufheben“ das Verfahren abwickeln wollte. Es gab keine Zeugen der Verteidigung, nur Zeugen der Anklage.

Die Urteile waren oft hoch und niederschmetternd. Schacht, der sieben Jahre und fünf Jahre Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte erhielt, hatte fünf Jahre erwartet. Simone Langrock, verurteilt zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus und Entzug der Bürgerrechte, war schockiert, da sie durch ihren Anwalt mit zwei bis drei Jahren gerechnet hatte.

Die Trennung von den Liebsten
Eine der größten Qualen war die Trennung von den Familien. Simone Langrock war zweieinhalb Jahre von ihrem Kind getrennt, das bei ihrer Verhaftung sieben Monate alt war. Ihr Sohn war zu jung, um es zu verstehen, aber er entwickelte später Trennungsängste. Besuche waren streng reglementiert, fanden unter Aufsicht statt, und es durfte nicht über die Gründe der Verhaftung oder den Strafvollzug gesprochen werden. Kinder unter 14 Jahren durften nicht zu den Besuchen mitgebracht werden. Simone empfand diese Besuche als „qualvolle Situationen“, die sie emotional mehr belasteten, als dass sie eine Gnade gewesen wären.

Die Entlassung und das Leben danach
Die Entlassung, oft nach Jahren der Ungewissheit, war für die Betroffenen ein zwiespältiges Erlebnis. Erich Loest, nach über sieben Jahren freigelassen, benötigte fast 15 Jahre, um über seine Erlebnisse zu schreiben, und weitere sieben Jahre, um etwas zu verfassen, das er als substanziell empfand. Er verließ die DDR im März 1981 und lebt seither als freier Schriftsteller in Osnabrück. Loest bedauerte im Nachhinein, nicht mit seiner Familie ausgereist zu sein, wenn er die Folgen gekannt hätte.

Ulrich Schacht wurde am 17. November 1976 mit einem Bus in den Westen gebracht. Er beschreibt diesen Moment als unwirklich und emotional überwältigend, ähnlich der Verhaftung. Die Möglichkeit, in den Westen auszureisen, sah er als „erpresserisch“ an, da damit angedeutet wurde, dass andere Freunde in Haft bleiben würden, wenn er sich weigerte. Schacht ist auch heute noch ein „demokratischer Sozialist“, der sich den sozialdemokratischen Ideen zugewandt hat.

Jürgen Fuchs wurde nach neun Monaten Untersuchungshaft ohne Prozess nach Westberlin abgeschoben. Sein Tag der Entlassung, der 8. September 1982, war „sehr widersprüchlich“. Er empfand Freude über die Freiheit, aber auch die „Belastung, dass man Menschen zurücklässt, mit dem man zweieinhalb Jahre zusammen war“. Sein Verhältnis zum DDR-System ist gebrochen, nicht aber zu den Menschen dort. Er stärkte seine sozialkritische und kritisch-kommunistische Haltung.

Simone Langrock sah ihr Kind im Dezember 1982 in der Bundesrepublik wieder. Sie kann nicht und will nicht vergessen, was sie in der DDR erlebt hat, fühlt sich aber auch nach zwei Jahren in der Bundesrepublik politisch noch nicht angekommen.

Die Geschichten dieser vier Menschen sind wie die Fragmente eines Mosaiks, das die Schrecken der politischen Haft in der DDR zusammenfügt. Sie sind ein Mahnmal dafür, wie ein Staat seine Bürger zu unterdrücken versuchte, und ein Zeugnis für den unerschütterlichen Wunsch nach Freiheit und Wahrheit, der selbst hinter den dicksten Mauern nicht zerbricht.