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Bernhard und Eckhard in Golzow – Vom Kollektiv zur Ungewissheit

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Wie zwei Leben die Geschichte Ostdeutschlands widerspiegeln

Es ist eine der eindrucksvollsten Langzeitdokumentationen der Filmgeschichte: „Die Kinder von Golzow“. Über Jahrzehnte hinweg begleitet das Projekt die Schicksale jener Kinder, die 1961 im brandenburgischen Dorf Golzow eingeschult wurden – im ersten Schuljahr der DDR nach dem Mauerbau. Zwei dieser Kinder, Bernhard Gudajan und Eckhard Hoppe, stehen im vierten Teil der Reihe mit dem Titel „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ im Mittelpunkt. Die filmischen Exzerpte aus dem Jahr 2008 erzählen mehr als nur Biografien – sie erzählen von Aufbrüchen, Brüchen und von der Kraft, sich in einer Welt voller Umwälzungen zu behaupten.

Kindheit und Jugend in der DDR: Maschinen, Mauern und Musterbiografien
Schon früh zeichnen sich bei Bernhard und Eckhard unterschiedliche Lebenswege ab. Der eine, Bernhard, schmächtig, schüchtern, ein stiller Beobachter. Der andere, Eckhard, körperlich präsent, lieber draußen als in der Schulbank. In einer Gesellschaft, in der der Lebensweg oft vorgezeichnet scheint, finden beide zunächst ihren Platz: Eckhard wird Maschinenschlosser in der örtlichen LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft). Bernhard durchläuft eine Ausbildung im Metallbereich, dient später bei den Grenztruppen und engagiert sich in der Kampfgruppe der Arbeiterklasse.

Es sind typische DDR-Biografien – eingebettet in die kollektiven Strukturen des Staates. Doch auch innerhalb dieser Normierung zeigen sich individuelle Nuancen. Eckhard ist bodenständig, pragmatisch, er liebt Maschinen und seine Arbeit. Bernhard wirkt suchender, vielseitiger, vielleicht auch sensibler für Widersprüche.

Familienleben zwischen Bindung und Bruch
Privat entwickeln sich die Lebenswege weiter auseinander. Eckhard heiratet früh, gründet eine Familie mit vier Kindern. Ein Leben im Rhythmus der dörflichen Gemeinschaft, getragen von Verlässlichkeit. Bernhard hingegen erlebt Beziehungskrisen. Die Partnerschaft mit Ines, einer Berliner Studentin, scheitert – an unterschiedlichen Lebensentwürfen, an der Distanz, vielleicht auch an den politischen Spannungen der Zeit. Später findet er in Edeltraud eine neue Partnerin, Stabilität kehrt ein.

Die Wende: Als das Fundament zu wanken beginnt
Dann kommt das Jahr 1989. Der Fall der Mauer verändert alles. Was über Jahrzehnte Halt und Struktur bot – das System der Planwirtschaft, der „Kollektivgedanke“ – wird in Frage gestellt, aufgelöst, abgebaut. In Golzow trifft es vor allem die Landwirtschaft. Die LPG, in der Eckhard arbeitet, muss sich auf dem freien Markt behaupten. Konkurrenz, Preisdruck, Bürokratie: Die neue Realität ist unerbittlich.

Eckhard, der in seinem Beruf aufgeht, gerät in die Mühlen des Umbruchs. Arbeitslosigkeit wird zur realen Bedrohung. Die einstige Gewissheit weicht existenzieller Unsicherheit. Für Bernhard hingegen eröffnen sich neue Wege. Er engagiert sich kommunalpolitisch, arbeitet zeitweise als Landmaschinenstraßer und wird Teil eines Kooperationsprojekts mit einer ukrainischen Agrofirma. Eine späte Form von Internationalismus – diesmal nicht ideologisch, sondern wirtschaftlich motiviert.

Zwischen Rückblick und Neubeginn
Die Dokumentation endet im Jahr 2001 – mit zwei Männern, deren Leben untrennbar mit der Geschichte ihres Dorfes und der DDR verknüpft sind. Was bleibt, ist kein einfaches Fazit. Eckhard steht für jene, die trotz aller Anpassungsfähigkeit vom Strukturwandel überrollt werden. Bernhard symbolisiert die, die sich neu erfinden, ohne ihre Herkunft zu verleugnen.

Beide Geschichten erzählen von der Stärke und Verletzlichkeit jener Generation, die als Kinder des Sozialismus aufwuchsen und sich später im Kapitalismus neu orientieren mussten. Sie sind kein Einzelfall – sondern Teil eines kollektiven Erlebens, das in den 1990er Jahren das Leben von Millionen Ostdeutschen geprägt hat.

Golzow als Mikrokosmos des Ostens
Golzow wird zum Sinnbild des ostdeutschen Wandels. Hier, in einem Dorf an der Oder, wird die große Geschichte greifbar. Zwischen Kuhställen, LPG-Traktoren und stillgelegten Werkstätten offenbaren sich Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Zukunft. Was bleibt von einem Leben, wenn sich das System, das es getragen hat, auflöst?

Die „Kinder von Golzow“ geben darauf keine einfachen Antworten. Aber sie zeigen: Geschichte ist nicht nur das, was in Büchern steht. Geschichte ist das, was Menschen erleben – Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und manchmal, wie in Golzow, schaut ihr dabei eine Kamera zu.

Urlaubsmaschine Prora – Das Nazi-Seebad auf der Insel Rügen

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Prora, ein schillernder und zugleich düsterer Ortsteil der Gemeinde Binz auf Rügen, ist weit mehr als nur ein architektonisches Relikt vergangener Zeiten. Die monumentale Anlage, die einst als KdF-Seebad konzipiert wurde, steht sinnbildlich für die Ideologie, den Machtanspruch und die propagandistischen Bestrebungen des Nationalsozialismus. Heute, Jahrzehnte nach Kriegsende und den darauffolgenden politischen Umbrüchen, symbolisiert Prora gleichermaßen das Scheitern eines utopischen Traums und die Ambivalenz eines Bauwerks, das Geschichte in Stein und Ziegeln manifestiert.

Ein gigantisches Projekt für den „deutschen Arbeiter“
Die ursprüngliche Idee, ein Seebad zu errichten, das 20.000 Menschen gleichzeitig Erholung bieten sollte, entsprang den Visionen eines Regimes, das den Volkskörper in den Mittelpunkt seiner Politik stellte. Unter dem Titel „Kraft durch Freude“ (KdF) wurde Prora als ein Ort geplant, an dem der Arbeiter – der als Motor der nationalsozialistischen Gesellschaft betrachtet wurde – physisch und psychisch gestärkt werden sollte. Der Gedanke war, den deutschen Bürgern nicht nur Freizeit und Erholung zu ermöglichen, sondern sie auch im Sinne der politischen und militärischen Ziele des Regimes zu „nervenstärken“.

Die Architektur des Projekts war geprägt von einer nüchternen Funktionalität, die zugleich ein Gefühl von monumentalem Anspruch vermittelte. Auf einer Länge von insgesamt fünf Kilometern, geplant waren 8.000 Zimmer, die den Blick aufs Meer freigeben sollten. Die Anlage sollte täglich von zwei Sonderzügen mit jeweils 1.000 Urlaubern bevölkert werden – ein logistisches Unterfangen, das ebenso sehr dem Anspruch an Effizienz wie an Massenmobilisierung diente. In den Vorstellungen der damaligen Planer war Prora nicht nur ein Ort der Erholung, sondern ein Instrument der Propaganda: Ein Bauwerk, das den modernen, disziplinierten und gesunden „neuen Menschen“ verkörpern sollte.

Planung, Propaganda und der Einfluss der Ideologie
Die Entstehung von Prora ist untrennbar mit den Idealen des Nationalsozialismus verbunden. Bereits Adolf Hitler selbst hatte die Vision eines gigantischen Erholungszentrums, das den Arbeiter und somit das Volk „nervenstark“ für künftige Herausforderungen – auch militärischer Art – machen sollte. Unter der Führung von Robert Ley, dem charismatischen, aber umstrittenen Reichsorganisationsleiter, wurde die Organisation „Kraft durch Freude“ ins Leben gerufen. Diese sollte nicht nur die Reise- und Freizeitindustrie des Dritten Reichs revolutionieren, sondern auch als Propagandainstrument dienen, das den Erfolg und die Unumstößlichkeit des NS-Regimes demonstrieren sollte.

Die Planungen und Entwürfe, die maßgeblich von dem Architekten Clemens Klotz und weiteren renommierten Architekturbüros vorangetrieben wurden, zeichneten sich durch ihre strenge Funktionalität aus. Der Kölner Architekt Klotz wurde mit dem Auftrag betraut, ein Modell zu entwickeln, das die Bedürfnisse eines Massenurlaubs befriedigen sollte. Dabei spielte auch die Ästhetik des Bauhausstils und die Ideen des berühmten Architekten Le Corbusier eine Rolle – nicht als Selbstzweck, sondern als Instrument zur Schaffung einer neuen, „sozialistischen“ Architektur, die den Idealen des Regimes gerecht werden sollte. Jede einzelne Komponente des Projekts, vom 18 Meter langen Modell aus Holz und Pappe bis hin zu den standardisierten Zweibettzimmern (2,20 m breit und 4,75 m tief), war Ausdruck einer detaillierten und kompromisslosen Planung.

Die Bauarbeiten begannen im Mai 1936 und zogen zeitweise über 3.000 Arbeiter an, die vor allem durch den Reichsarbeitsdienst mobilisiert wurden. Dabei wurden Ziegel, Kies und Zement akribisch an den richtigen Stellen zusammengeführt, um ein Bauwerk zu erschaffen, das ebenso sehr der Propaganda als der tatsächlichen Funktionalität diente. Jeder Baufortschritt wurde feierlich inszeniert und mit jubelnden Texten und großformatigen Bildbeilagen verkündet. Prora sollte als Triumph des technischen Fortschritts und der sozialen Ordnung des Dritten Reichs in ganz Deutschland bekannt werden.

Der Wendepunkt: Krieg und das Scheitern des Traums
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges änderten sich die Pläne schlagartig. Der Überfall auf Polen am 1. September 1939 markierte nicht nur den Beginn eines verheerenden Krieges, sondern auch das abrupt abgebrochene Schicksal der Prora-Anlage. Anstatt als paradiesisches Urlaubsziel zu fungieren, verwandelte sich Prora in eine multifunktionale Anlage, die zunehmend kriegsbezogenen Zwecken diente. Die ursprünglich geplanten Erholungsräume wurden umfunktioniert: Anstelle von Urlaubern fanden verletzte Soldaten Zuflucht – wie etwa an Bord des Kreuzfahrtdampfers Wilhelm Gustloff, der in seinen Kabinen untergebracht wurde.

Der Bau, der einst als Symbol der nationalsozialistischen Zukunftsvision galt, wurde infolge der Kriegsgeschehnisse zum Schauplatz von Zwangsarbeit, unzureichender Nutzung und letztlich Desorganisation. Zwangsarbeiter, viele aus Polen, sowie Kriegsgefangene mussten den Abbruch und die Umstrukturierung der Anlage bewältigen. Selbst der propagandistische Glanz, mit dem Prora in den Medien gefeiert wurde, konnte den Schrecken und die Brutalität der militärischen Umnutzung nicht überdecken. Die Pläne, ein Erholungsparadies zu schaffen, wurden der Realität eines Krieges zum Opfer, und das monumentale Bauwerk verlor seinen ursprünglichen Glanz.

Nachkrieg: Vom Seebad zur Militärkaserne und späterer Verfall
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand Prora am Scheideweg zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Sowjets übernahmen die Anlage und nutzten sie zunächst militärisch, wobei nach und nach auch die DDR und später das vereinigte Deutschland unterschiedliche Nutzungen in Betracht zogen. In der DDR erlebte Prora einen tiefgreifenden Wandel: Das einstige Symbol des Erholungsparadieses wurde zur militärischen Sperrzone, zur Kaserne und zur Stätte intensiver Umnutzung. Diese Transformation spiegelte nicht nur den politischen und ideologischen Wechsel der Nachkriegszeit wider, sondern auch den radikalen Bruch mit der NS-Ideologie.

Mit dem Rückzug der Bundeswehr und dem Ende der militärischen Nutzung verfiel Prora in einen Zustand des Verfalls. Die monumentalen Bauten, die einst als glänzendes Beispiel nationalsozialistischer Architektur galten, wurden zunehmend zu „Investruinnen der Superlative“. Verlassene Räume, von der Zeit gezeichnete Fassaden und ein bedrückendes Gefühl von Vergänglichkeit prägen heute das Bild eines Bauwerks, das mehr als nur physische Spuren einer gescheiterten Idee hinterlässt. Der Denkmalschutz, der schließlich über Prora verhängt wurde, zeugt von der Ambivalenz des Bauwerks: Einerseits soll die Erinnerung an die dunklen Kapitel der Geschichte bewahrt werden, andererseits steht das Monument als Mahnmal für die Gigantomanie und den ideologischen Zwang der Vergangenheit.

Architektonische und gesellschaftliche Reflexionen
Die Architektur Proras ist mehr als nur ein architektonisches Konzept – sie ist ein Spiegelbild der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die schiere Größe und Funktionalität des Gebäudekomplexes zeugen von einem Regime, das daran glaubte, durch monumentale Bauprojekte das Volk zu kontrollieren und zu formen. Die strengen Maße der Zweibettzimmer, die weiten Wandelgänge und die riesigen Speisesäle wurden nicht zufällig gewählt, sondern waren Teil eines Gesamtkonzepts, das den Massencharakter der nationalsozialistischen Ideologie widerspiegelte.

Die ideologische Prägung der Architektur zeigt sich auch in der propagandistischen Inszenierung des Baufortschritts. Jeder Ziegel, jede Wand und jeder Raum sollte den Fortschritt und die Macht des Regimes symbolisieren. Dabei wurde die Architektur zu einem Instrument der politischen Manipulation, das den Glanz der Idee überstrahlen sollte – ein Traum, der in den stählernen Fassaden und Betonklötzen seinen Ausdruck fand. Doch während die Architektur als solches beeindruckt, so bleibt sie doch ein trauriges Denkmal einer Epoche, in der der Mensch zum Mittel für politische Ziele degradiert wurde.

Nach Jahrzehnten der militärischen Nutzung und des Verfalls erlebte Prora in jüngster Zeit eine Renaissance – allerdings in einem völlig anderen Kontext. Seit 2004 werden die verbliebenen Blöcke schrittweise veräußert und zu Wohn- und Hotelanlagen umgebaut. Dieser Prozess der Umnutzung steht symbolisch für den Wandel der deutschen Gesellschaft, in der die Vergangenheit kritisch aufgearbeitet und gleichzeitig neu interpretiert wird. Prora wird so zu einem Ort, an dem sich die Erinnerung an ein dunkles Kapitel der Geschichte mit der modernen Suche nach Identität und Erneuerung verbindet.

Die Ambivalenz eines Mahnmals
Die Diskussionen um die zukünftige Nutzung Proras sind von einer tiefen Ambivalenz geprägt. Auf der einen Seite steht das Erbe des Nationalsozialismus, das in jedem Stein des Bauwerks mitschwingt. Kritiker bezeichnen Prora als „Bauwerk ohne Seele“, ein Monument, das einzig und allein als Mahnmal für die Gigantomanie und die Propaganda der NS-Zeit dient. Auf der anderen Seite bietet das Objekt, das in den Jahrzehnten nach 1945 als Kaserne, Sperrzone und Militärstützpunkt diente, auch Chancen für einen Neubeginn. Die gegenwärtigen Pläne, Prora als Wohn- und Hotelanlage zu nutzen, eröffnen Möglichkeiten, das Erbe der Vergangenheit in einen konstruktiven Dialog zu transformieren.

Diese doppelte Symbolik – zugleich Mahnmal und Objekt der Erneuerung – ist typisch für viele Monumente des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Prora steht exemplarisch für den Kampf zwischen Erinnerung und Neubeginn, zwischen der Last der Vergangenheit und dem Streben nach einem neuen, modernen Leben. Die Diskussionen über den Denkmalschutz, die künftige Nutzung und die Frage, inwieweit die Geschichte des Ortes in der neuen Funktion spürbar bleiben soll, spiegeln diesen inneren Konflikt wider.

Robert Ley und die Persönlichkeiten hinter Prora
Untrennbar mit der Geschichte Proras ist die Persönlichkeit von Robert Ley, dem Leiter der Organisation „Kraft durch Freude“. Ley stieg im nationalsozialistischen System rasch in die Hierarchien auf und spielte eine zentrale Rolle in der Umsetzung der Propagandapolitik, die auch Prora als Instrument der Massenmobilisierung und Erholung propagierte. Sein persönlicher Werdegang – geprägt von schnellem Aufstieg, aber auch zunehmender Alkoholabhängigkeit und Unberechenbarkeit – steht sinnbildlich für den moralischen Verfall, der den Nationalsozialismus in seinen letzten Jahren prägte.

Nach Kriegsende wurde Ley von den Alliierten verhaftet, und sein tragisches Ende in amerikanischer Haft, in der er Selbstmord beging, fügt dem Schicksal von Prora eine weitere dunkle Facette hinzu. Die Biographie Leys und die damit verbundenen politischen Intrigen und persönlichen Exzesse werfen ein Licht auf die Mechanismen eines Regimes, das sowohl auf grandiose Visionen als auch auf brutale Machtspiele setzte. Die Verquickung von Architektur, Propaganda und Persönlichkeitskult lässt sich in Prora eindrucksvoll nachvollziehen und macht den Ort zu einem faszinierenden, wenn auch beunruhigenden, Zeugnis einer vergangenen Epoche.

Prora im Kontext der deutschen Geschichtsaufarbeitung
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entwickelt. Monumente wie Prora stehen dabei im Zentrum hitziger Debatten. Einerseits gilt es, die Erinnerung an die Verbrechen und Ideologien des Nationalsozialismus wachzuhalten, andererseits besteht das Bestreben, aus der Geschichte konstruktive Lehren für die Zukunft zu ziehen. Prora, als eines der größten und zugleich unvollendeten Bauprojekte des Dritten Reichs, bietet hierbei ein besonderes Fallbeispiel: Es ist ein Objekt, das sowohl die Übermacht der Propaganda als auch die Zerbrechlichkeit menschlicher Ideale in sich vereint.

Die aktuelle Diskussion um den Erhalt, die Umnutzung und die Integration der historischen Vergangenheit in moderne Lebenskonzepte spiegelt einen breiteren gesellschaftlichen Wandel wider. Es geht dabei nicht nur um den materiellen Erhalt eines Bauwerks, sondern um die Frage, wie Geschichte in den Alltag integriert und gleichzeitig kritisch reflektiert werden kann. In diesem Kontext erscheint Prora als ein Ort, an dem die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht nur im Museumskontext stattfindet, sondern in einer lebendigen, urbanen Umgebung, in der alte und neue Nutzungen koexistieren.

Von der Investruine zum Ort des Neuanfangs?
Die fortschreitende Umgestaltung Proras in Wohn- und Hotelanlagen symbolisiert mehr als nur den materiellen Umbau eines Bauwerks. Sie steht für den Versuch, die Spuren der Geschichte zu bewahren, ohne in der Vergangenheit zu verharren. Der Umbau in zeitgemäße Wohn- und Erholungsräume zeugt von der Dynamik des gesellschaftlichen Wandels, in dem historische Kontinuitäten und moderne Lebensformen miteinander verschmelzen.

Dennoch bleibt die Frage bestehen: Wie kann ein Ort, der so tief in der Ideologie und Propaganda des Nationalsozialismus verwurzelt ist, heute als Lebensraum fungieren? Die Antwort liegt möglicherweise in einem offenen Dialog, in dem die dunklen Kapitel der Vergangenheit nicht verschwiegen, sondern aufgearbeitet und in die Neubewertung des historischen Erbes integriert werden. Der Erhalt von Prora als Denkmal, gepaart mit einer sinnvollen, zeitgemäßen Nutzung, könnte dazu beitragen, einen Raum zu schaffen, in dem sich Erinnerung und Zukunft konstruktiv begegnen.

Dabei spielen nicht nur Architekten, Historiker und Politiker eine Rolle, sondern auch die Bevölkerung, die sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen muss. Es bedarf eines kritischen Bewusstseins, das sich der dualen Bedeutung des Ortes – als Mahnmal und als potenzieller Lebensraum – bewusst ist. Nur so kann Prora von einem Symbol der Gigantomanie und des gescheiterten Totalurlaubs zu einem Ort des Dialogs, der Erinnerung und des Neuanfangs werden.

Prora ist weit mehr als nur ein verlassener Baukomplex an der Ostseeküste Rügens. Es ist ein lebendiges Zeugnis der deutschen Geschichte, das die Ideologie, den Machthunger und die Propagandastrukturen des Nationalsozialismus in seiner massiven Bauweise widerspiegelt. Die geplante Erholungsanlage, die als Symbol der Erneuerung und Stärkung des deutschen Volkes gedacht war, verwandelte sich im Angesicht des Krieges in ein Mahnmal des Scheiterns. Jahrzehntelang diente Prora verschiedenen militärischen Zwecken, bevor es in den Jahren nach 2004 wieder als Objekt privater Investitionen und moderner Nutzungsansätze in den Fokus rückte.

Die Ambivalenz Proras – als Monument einer dunklen Vergangenheit und als Chance für einen Neubeginn – ist repräsentativ für den Umgang mit der Geschichte in Deutschland. Die Diskussionen um Denkmalschutz, Umnutzung und die Integration historischer Narrative in moderne Lebenswelten machen deutlich: Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu leugnen, sondern aus ihr zu lernen und sie in die Zukunft zu tragen. Prora fordert uns auf, den Dialog über Erinnerungskultur, Architektur und gesellschaftliche Transformation fortzusetzen.

In einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zunehmend an Bedeutung gewinnt, bietet Prora einen Ort der Reflexion und des Diskurses. Es liegt an uns, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und Räume zu schaffen, in denen Erinnerung, Kritik und Fortschritt miteinander verbunden sind. Nur so kann ein Monument, das einst als Instrument der Massenbeeinflussung diente, heute zu einem Ort der Aufarbeitung und des Neuanfangs werden – ein Ort, der uns immer wieder an die Verantwortung erinnert, die wir für die Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft tragen.

Die Geschichte Proras bleibt ein eindrucksvoller, wenn auch mahnender Appell an die Macht der Architektur, an die Ideologien, die sie formen, und an die Verantwortung, die jede Generation trägt, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Ob als beeindruckende Reliktanlage, als Mahnmal oder als zukunftsweisender Lebensraum – Prora bleibt ein Ort, der in den Erzählungen der deutschen Geschichte fest verankert ist und uns immer wieder dazu aufruft, den Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft lebendig zu halten.

Der Bau des Berliner Fernsehturms als Symbol der DDR

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Von einem Projekt, das Stadtbild, Politik und Identität einer ganzen Ära prägte

Inmitten des pulsierenden Herzens Ost-Berlins, nahe dem Alexanderplatz, entstand in den 1960er Jahren ein Bauwerk, das weit mehr als nur technische Meisterleistung darstellte. Der Berliner Fernsehturm – ein schmaler Turm mit einer markanten, kugelförmigen Aussichtsplattform – avancierte schnell zu einem unverkennbaren Wahrzeichen der DDR und ist heute ein lebendiges Monument einer bewegten Zeit.

Die keimenden Ideen und der Wettstreit der Entwürfe
Bereits 1958 wurden in Ostberlin städtebauliche Ideenwettbewerbe ausgerufen, die das Ziel hatten, ein zentrales Bauwerk als Macht- und Identitätssymbol zu schaffen. Ursprünglich war ein Regierungsgebäude geplant, das dem Ministerrat und der Volkskammer als Sitz dienen sollte – ein Konzept, das die architektonischen und ideologischen Vorstellungen der DDR-Führung widerspiegeln sollte. In einem Klima der Konkurrenz, nicht nur gegenüber Westberlin, sondern auch innerhalb der eigenen Reihen der Architekten, stand die Frage: Welches Bauwerk verkörpert den sozialistischen Fortschritt und die Überlegenheit des Systems?

Professor Kosel, Staatssekretär und Präsident der Bauakademie, setzte mit seinem Entwurf auf eine monumentale Hochhaus-Dominante im sowjetischen Neoklassizismus. Doch ein anderer Ansatz fand bald Gehör. Professor Henselmann, der Chefarchitekt Ost-Berlins, schlug den „Turm der Signale“ vor – einen Fernsehturm als Leuchtfeuer, das Signale aussendet und gleichzeitig als Symbol der modernen Technik gelten sollte.

Technik, Ästhetik und die Kunst des Bauens
Der finale Entwurf des Fernsehturms war das Resultat intensiver technischer und künstlerischer Planungen. Mit der Kugel, die nach den Prinzipien des goldenen Schnitts positioniert wurde, verband der Bauherr Funktionalität mit einer präzise durchdachten Ästhetik.

Bereits in den ersten Skizzen fand sich das zentrale Motiv wieder: ein schlanker Turm, dessen obere Kugel nicht zufällig gewählt, sondern das Ergebnis jahrelanger Überlegungen und Praxis war. Der Bau sollte technisch gesehen nichts Wunderbares sein – vergleichbar mit dem Bau von Riesenschornsteinen, eine Technik, mit der die DDR bereits vertraut war. Dennoch waren die Rahmenbedingungen alles andere als gewöhnlich: Der Turm wurde de facto als „Schwarzbau“ begonnen, also ohne offizielle Genehmigung und mit improvisierten Kostenkalkulationen.

Ein Chefarchitekt, der in seinem persönlichen Bericht von den Herausforderungen und den Machtspielen innerhalb des Systems berichtet, beschreibt, wie politische Direktiven – auch in Form von zaghafter Zurückhaltung, Informationen zu veröffentlichen – den Bau begleitet haben. So blieb der Fortschritt lange Zeit ein Geheimtipp, bis der Turm schließlich als Symbol für Fortschritt, Stärke und Modernität präsentiert wurde.

Politische Intrigen und die Macht des Symbols
Die Bauzeit von 1965 bis 1969 fiel in eine Epoche intensiver politischer Umbrüche und Auseinandersetzungen. Der Entstehungsprozess des Fernsehturms spiegelte dabei das Spannungsfeld zwischen architektonischer Innovation und ideologischer Kontrolle wider. Der ursprüngliche Plan eines zentralen Hochhauses als Machtmanifestationsbauwerk musste – unter dem Einfluss der gestiegenen Baukosten und dem sich verändernden politischen Klima nach dem Mauerbau von 1961 – zugunsten des Fernsehturms aufgegeben werden.

Walter Ulbricht, der Inbegriff des sozialistischen Führungsstils in der DDR, bestand darauf, dass der Turm als Leuchtfeuer der sozialistischen Moderne im Zentrum Berlins stehen müsse. „Dieser Turm muss mitten im Zentrum der DDR-Hauptstadt stehen – als Signal auch nach Westberlin“, so die Überzeugung der Führung, die den Turm zu einem unverrückbaren Element im Berliner Stadtbild machen sollte.

Gleichzeitig zeigt der Bericht aber auch die Schattenseiten dieses Bauprojekts: Machtkämpfe, ideologische Präferenzen und auch die persönliche Betroffenheit jener, die maßgeblich am Entstehen beteiligt waren. Der Erzähler des Berichts berichtet offen von Kritik, persönlicher Enttäuschung und dem unvermeidlichen politischen Druck, der bei diesem „Arbeitsergebnis“ stets mitschwang.

Mehr als nur ein Bauwerk – Ein Zeichen der Zeit
Nach der feierlichen Einweihung am 3. Oktober 1969, passend zum 20. Jahrestag der DDR, strahlte der Fernsehturm bereits das erste Fernsehprogramm aus. Er war nicht nur ein technisches Wunderwerk und Dreh- und Angelpunkt für Rundfunkübertragungen, sondern auch ein Hort der Symbolik: Für die Bürger der DDR – und gleichwohl ein Blick in den Westen aus über 200 Metern Höhe – wurde der Turm zu einem Zeichen der Hoffnung, des Fortschritts und des Durchhaltevermögens.

Im Lauf der Jahre wandelte sich die Bedeutung des Turms. Während er in der frühen Zeit als Aushängeschild sozialistischer Ideologie und als Demonstration technischer Überlegenheit galt, avancierte er nach dem Fall der Mauer zu einem städtischen Wahrzeichen, das die Geschichte Berlins in all ihren Facetten symbolisiert. Sowohl als touristisches Highlight als auch als Mahnmal einer vergangenen Epoche erinnert der Turm bis heute an eine Zeit, in der Architektur, Politik und Gesellschaft untrennbar miteinander verwoben waren.

Rückblick und Ausblick
Der Bau des Berliner Fernsehturms war mehr als nur eine architektonische Herausforderung – er war ein Spiegelbild seiner Zeit. Zwischen den Visionen ambitionierter Bauherren, politischen Intrigen und einem Bestreben, ein Zeichen der nationalen Identität zu setzen, entstand ein Bauwerk, das bis heute fasziniert.

Heute, als integraler Bestandteil der Berliner Skyline, wird der Fernsehturm von Millionen Besuchern erklommen, die die Stadt und ihre wechselvolle Geschichte aus neuer Perspektive erleben wollen. Er erinnert an den Mut und den Innovationsgeist einer ganzen Generation, aber auch an die dunkleren Kapitel eines Systems, das stets zwischen Ideal und Realität schwankte.

Der Berliner Fernsehturm bleibt somit ein Symbol – für Fortschritt und Ambivalenz, für architektonische Brillanz und politische Inszenierung – und erzählt die Geschichte einer Stadt, die immer im Wandel begriffen ist.

Zerstörte Geschichte, neu gebautes Berlin – Der Kampf um das Stadtbild der DDR

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Zwischen Ideologie und Modernisierung: Der Abriss des Berliner Stadtschlosses und die systematische Zerstörung des historischen Stadtzentrums im Spiegel der SED-Stadtplanung.

Als am 7. September 1950 das Berliner Stadtschloss unter dem Donner der sozialistischen Sprengladungen in sich zusammenfiel, zerbröckelte weit mehr als nur Stein. Mit dem einstigen Herzstück Berlins wurde ein zentrales Symbol preußischer und deutscher Geschichte aus dem Stadtbild getilgt – ein Akt mit programmatischer Wucht, der die neue DDR-Stadtplanung für Jahrzehnte prägen sollte.

Eine ideologische Zäsur
Das Schloss, das Jahrhunderte lang Residenz der Hohenzollern war und ab 1918 staatliche Funktionen übernahm, war im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, aber nicht irreparabel zerstört. Zeitgenössische Gutachten bescheinigten gute Chancen auf Restaurierung. Doch das SED-Regime entschied sich gegen die Wiederherstellung – aus ideologischen Gründen.

Walter Ulbricht verkündete 1950:
„Das Zentrum unserer Hauptstadt […] muss zu dem großen Demonstrationsplatz werden, auf dem der Kampfwille und der Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck finden können.“

Die Schlossruine musste weichen, damit Platz geschaffen werden konnte für das „neue Zentrum“ einer sozialistischen Hauptstadt – einen Ort ohne „imperiale Altlasten“, stattdessen dominiert von Funktionsbauten, Paradeflächen und ideologisch aufgeladenen Monumenten.

Stadtplanung im Dienste der Utopie
Die Stadtplanung der DDR – besonders in den 1950er und 1960er Jahren – war nicht nur geprägt von praktischen Erwägungen wie Wohnraummangel und Verkehrsentlastung. Sie war ein zentrales Instrument zur Verwirklichung des sozialistischen Gesellschaftsideals. Die historische Stadt galt in vielen Teilen als Symbol der „bürgerlichen Vergangenheit“ und wurde durch eine radikale Neuplanung ersetzt.

Das Konzept des „sozialistischen Stadtzentrums“ zielte auf Sichtachsen, Großräume für Massenaufmärsche und moderne Funktionalität. Historische Gebäude wurden – sofern sie nicht prominent genug für eine „sozialistische Umdeutung“ waren – als Relikte einer ungewollten Vergangenheit betrachtet und systematisch beseitigt. Der Palast der Republik, das Staatsratsgebäude mit eingelassenem Schlüterportal, der Fernsehturm oder das Haus des Lehrers entstanden an Orten historischer Architektur.

Vernichtung kulturellen Erbes
Das Berliner Stadtschloss war nur der Anfang. In den folgenden Jahren wurden zahlreiche historische Bauwerke in Ost-Berlin abgerissen: das Schloss Monbijou, das Kronprinzenpalais, die Schinkelsche Bauakademie, die Garnisonkirche, ja ganze Straßenzüge wie der romantische Fischerkiez. Selbst restaurierte Gebäude wie das barocke Ermlerhaus oder die Rabe-Diele fielen der Abrissbirne zum Opfer – trotz Denkmalschutz und kulturellem Wert.

Während man in Warschau den systematischen Wiederaufbau des zerstörten Königsschlosses vorantrieb – als nationales Symbol –, wählte die DDR das Gegenteil: Vergessen durch Vernichtung.

Das historische Berlin als politisches Opfer
Der Umbau des Berliner Stadtzentrums war somit nicht nur ein städtebauliches Projekt, sondern ein kultureller Kahlschlag. Die städtebauliche Avantgarde der DDR, vertreten durch Akteure wie Jochen Nether oder Gerhard Kossak, verfolgte ein Konzept, das mit der Vergangenheit brach – zugunsten von Sichtbeton, Gleichförmigkeit und „Zukunft“.

Der Verlust an historischer Substanz wiegt bis heute schwer. Die ehemalige Altstadt Berlins, einst ein vielgestaltiges Ensemble aus Renaissance, Barock, Klassizismus und Gründerzeit, existiert nur noch in Bildern und Literatur. Ein Teil der kollektiven Identität wurde ausgelöscht – für eine architektonische Vision, die in vielen Teilen längst wieder abgerissen ist.

Späte Korrekturen – und neue Kontroversen
Mit der deutschen Wiedervereinigung begann auch eine städtebauliche Rückbesinnung. Das Humboldt Forum im wiedererrichteten Schlossbau markiert einen symbolischen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft. Doch nicht ohne Kritik: Gegner bemängeln den „Disneyfizierungseffekt“, den Versuch, verlorene Geschichte künstlich zu rekonstruieren.

Trotz allem: Die Debatte zeigt, wie tief das Trauma der verlorenen Stadt im Gedächtnis der Berliner und der deutschen Öffentlichkeit verankert ist.

Die Stadtplanung der DDR in Ost-Berlin war weit mehr als der Versuch, moderne Wohnungen zu schaffen oder Verkehrsströme zu lenken. Sie war ein ideologisches Projekt, das die Vergangenheit auslöschen wollte, um Platz für eine sozialistische Zukunft zu schaffen. Der Preis dafür war hoch: das unwiederbringliche Verschwinden einer historischen Stadtlandschaft, deren Verlust bis heute nachwirkt.

Kommunalpolitik zum Anfassen: Wie junge Menschen die Demokratie vor Ort stärken

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Erfurt/Nordhorn/Schweigen-Rechtenbach – Während vielerorts über Politikverdrossenheit geklagt wird, zeigen einige junge Menschen, dass es auch anders geht. Sie engagieren sich in Stadt- und Gemeinderäten, setzen sich für ihre Mitbürger ein – und beweisen, dass politische Teilhabe vor allem eines ist: konkret, lokal und wirksam.

Eine von ihnen ist Lilly Fischer, 25 Jahre alt, Stadträtin in Erfurt. Ihr politisches Engagement begann schon früh – im Schülerparlament. „Damals wollten wir eine Möglichkeit schaffen, wie Jugendliche bei Entscheidungen eingebunden werden“, erinnert sie sich. Heute kämpft sie im Stadtrat für die Belange junger Menschen in ihrer Heimatstadt. Ihr Antrieb: Politik nicht nur kritisieren, sondern mitgestalten.

Auch Kai Schmidt aus Nordhorn hat klare Ziele. Der Ratsherr des Bürgerforums möchte „die Kommunalpolitik aus dem Rathaus herausholen“. Für ihn gehört der direkte Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern zur politischen Grundausstattung. Sitzungen allein reichten nicht aus, um die Lebensrealität der Menschen zu verstehen.

Mohammed Sami Augustin, Gemeinderat in Schweigen-Rechtenbach, betont die Rolle des Ehrenamts. „Ich will meinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Kommune leisten“, sagt er. Für ihn ist kommunale Politik mehr als trockene Verwaltung – sie ist ein Ausdruck von Heimatverbundenheit.

Demokratie beginnt vor der Haustür
Was alle drei eint: das tiefe Verständnis für die Bedeutung der kommunalen Ebene. Entscheidungen im Stadtrat oder Gemeinderat haben unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der Menschen – ob es um Schulen, Verkehr, Vereinsförderung oder Jugendprojekte geht. „Man merkt die Entscheidungen direkt vor der eigenen Haustür“, sagt Fischer.

Doch nicht nur Entscheidungen, auch die Art und Weise, wie Politik kommuniziert wird, ist entscheidend. Viele Mandatsträger setzen auf niedrigschwellige Formate: Videos, kurze Erklärtexte, einfache Sprache. „Wir wollen zeigen, warum wir wie abgestimmt haben“, erklärt Fischer. Es gehe darum, politische Arbeit transparent und verständlich zu machen – besonders für junge Menschen.

Politik zum Mitmachen
„Machen ist besser als Motzen“ – so bringt es Lilly Fischer auf den Punkt. Wer unzufrieden mit der Politik ist, solle nicht nur kritisieren, sondern überlegen, wie er oder sie selbst Teil der Lösung sein kann. Doch sie macht auch klar: Kommunalpolitik ist kein Selbstläufer. Zeit, Geduld, die Bereitschaft zum Zuhören – all das braucht es.

Der Schlüssel: ein Thema finden, für das man brennt. „Nicht alles ein bisschen, sondern eines richtig“, rät Fischer. Denn nur so könne man wirklich etwas bewegen – und auch langfristig motiviert bleiben.

„Schule der Demokratie“
Für viele ist die kommunale Ebene der erste Berührungspunkt mit politischem Engagement – und damit ein idealer Ort, um Demokratie zu lernen. Kai Schmidt sieht darin sogar einen Bildungsauftrag: „Kommunale Politik ist die direkteste Form, politische Zusammenhänge zu verstehen.“

Die Beteiligung junger Menschen sei dabei essenziell. Sie bringen neue Perspektiven ein – und helfen, eingefahrene Strukturen aufzubrechen. „Ein Rad funktioniert nur, wenn man es von allen Seiten betrachtet“, so Schmidt.

Politik lebt vom Mitmachen
In einer Zeit, in der viele das Vertrauen in politische Prozesse verlieren, setzen engagierte Stadt- und Gemeinderäte ein starkes Zeichen: Demokratie lebt – und zwar vor Ort. Sie braucht Menschen, die zuhören, erklären, handeln. Junge, motivierte Engagierte wie Fischer, Schmidt und Augustin zeigen: Es gibt Alternativen zur Resignation. Man muss sie nur ergreifen.

Fischland-Darß um 1965: Eine kleine Welt zwischen Ostsee und Bodden

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Das Fischland-Darß, eine langgestreckte Halbinsel an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns, war um 1965 ein einzigartiger Mikrokosmos. Hier, zwischen dem endlosen Blau der Ostsee und den stillen Gewässern des Boddens, fand sich eine Mischung aus unberührter Natur, traditionellem Handwerk und aufkeimendem Tourismus, die den besonderen Reiz dieser Region ausmachte.

Prerow: Ein Naturparadies im Wandel
Prerow, eingebettet in den Darßer Wald und bekannt für seinen kilometerlangen Sandstrand, war um 1965 ein beschauliches Ostseebad. Die Strandpromenade, damals noch wenig erschlossen, zog vor allem naturnahen Tourismus an. Urlauber kamen, um die frische Ostseeluft zu genießen und in einfachen Ferienunterkünften zu entspannen. Der Darßer Ort, die nordwestlichste Spitze des Darßes, lockte Naturliebhaber mit seinen wilden Küsten und der Vogelwelt. Die Fischerei spielte weiterhin eine zentrale Rolle im Ort, doch auch der Tourismus begann sich langsam als Einnahmequelle zu etablieren.

Zingst: Zwischen Tradition und Moderne
Zingst war um diese Zeit ein Ort im Umbruch. Die kleine Gemeinde, gelegen zwischen Ostsee und Zingster Strom, lebte von der Landwirtschaft, der Fischerei und zunehmend auch vom Tourismus. Die DDR-Regierung förderte den Ausbau von Ferienheimen für Werktätige, was dem Ort eine neue wirtschaftliche Perspektive gab. Dennoch blieb Zingst stark mit seinen Traditionen verbunden. Die typischen Rohrdachhäuser und das Leben in der Gemeinschaft prägten das Dorf, das von der Weite der umliegenden Salzwiesen eingerahmt war.

Ahrenshoop: Die Künstlerkolonie am Hohen Ufer
Ahrenshoop war bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts als Künstlerkolonie bekannt. Auch 1965 lebte der Ort von seiner besonderen Aura. Das Hohe Ufer, eine imposante Steilküste, bot Malern und Fotografen eine unvergleichliche Kulisse. Der Ort zog kreative Köpfe aus der DDR an, die in den reetgedeckten Häusern Inspiration fanden. Gleichzeitig war Ahrenshoop ein Magnet für Individualreisende, die den Charme dieses Küstendorfs suchten. Trotz der politischen Restriktionen jener Zeit blieb Ahrenshoop ein Ort, an dem sich Künstler frei entfalten konnten – zumindest im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten.

Wustrow: Ein Ostseebad mit maritimer Seele
Das Ostseebad Wustrow, am Übergang vom Fischland zum Darß gelegen, war um 1965 ein traditionelles Fischerdorf, das sich behutsam dem Tourismus öffnete. Der alte Hafen und die Schifferkirche erzählten von der langen Seefahrertradition des Ortes. Viele Familien hatten Verbindungen zur Seefahrt, und die maritime Kultur prägte das Leben. Wustrow war beliebt bei Familien, die Ruhe und Erholung suchten. Der Strand, von Kiefern gesäumt, bot ein idyllisches Umfeld für unbeschwerte Urlaubstage.

Ribnitz-Damgarten: Die Torstadt zur Halbinsel
Die Kreisstadt Ribnitz-Damgarten, das „Tor zum Fischland“, war das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Region. Bekannt als „Bernsteinstadt“, war sie ein bedeutender Standort für die Verarbeitung des „Golds der Ostsee“. Das Deutsche Bernsteinmuseum, damals noch in den Anfängen seiner heutigen Bedeutung, zog erste Interessierte an. Ribnitz-Damgarten war zudem ein Verkehrsknotenpunkt, von dem aus Besucher die Halbinsel erkunden konnten. Die Stadt lebte von einer Mischung aus traditionellem Handwerk und moderner Industrie, die in der DDR systematisch ausgebaut wurde.

Alltag und Lebenswelt auf Fischland-Darß
Das Leben auf Fischland-Darß um 1965 war geprägt von der natürlichen Umgebung und den Bedingungen der DDR. Viele Einwohner lebten von der Fischerei, der Landwirtschaft oder arbeiteten in den kleinen Manufakturen und Betrieben. Der aufkommende Tourismus brachte erste Veränderungen, doch der große Boom lag noch in der Zukunft. Die Menschen lebten einfach, aber eng mit der Natur verbunden. Kinder spielten am Strand oder in den Wäldern, während Erwachsene bei der Arbeit oder in der Dorfgemeinschaft eingebunden waren. Die Abgeschiedenheit der Region war einerseits eine Herausforderung, bot andererseits aber auch Schutz vor den Einflüssen der politischen Spannungen jener Zeit.

Fazit: Eine besondere Zeit
Das Fischland-Darß um 1965 war eine kleine Welt für sich. Zwischen Tradition und Wandel bewahrte die Region ihren unverwechselbaren Charakter. Die Mischung aus beeindruckender Natur, kultureller Vielfalt und den Eigenheiten des Lebens in der DDR machten die Halbinsel zu einem einzigartigen Ort. Heute erinnert vieles an diese Zeit, doch die Spuren von damals verblassen allmählich, während sich Fischland-Darß zu einer der beliebtesten Ferienregionen Deutschlands entwickelt hat.

Die Unsichtbaren der DDR: Fallschirmjäger zwischen Elite und Staatsauftrag

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Von der verdeckten Spezialeinheit zum lebendigen Andenken – wie die Fallschirmjäger der DDR Vergangenheit und Gegenwart verbinden.

Magdeburg, Frühjahr 2009. Eine Antonow 28 zieht ihre Bahn am Himmel, darunter: Männer, die einst zu den geheimsten Elitesoldaten der DDR gehörten. Heute springen sie wieder – aus Freude, aus Nostalgie, aus einem Gefühl von Zusammengehörigkeit. Renato Pitsch und seine Kameraden inszenieren ihre Vergangenheit für das Publikum, doch ihre Geschichte ist mehr als ein Spektakel. Sie erzählt von Idealismus, Disziplin – und dem Missbrauch militärischer Stärke durch ein untergehendes Regime.

Fallschirmjäger – ein Mythos in Uniform.
Als „Leistungssportler in Uniform“ beschrieben, wurden DDR-Fallschirmjäger ab den 1960er Jahren zu einer militärischen Eliteeinheit aufgebaut. Auf der Insel Rügen, im Schatten der monumentalen NS-Bauten von Prora, begann ihre geheime Ausbildung: Nahkampf, Fallschirmspringen, Bergsteigen, Skifahren – ein Programm, das kaum ein anderer Soldat der DDR absolvierte.

Doch trotz all ihrer Tarnung ließ sich die Existenz der Einheit nie ganz verbergen. Spätestens als SED-Chef Erich Honecker 1972 dem Truppenteil einen offiziellen Besuch abstattete, war der Schleier des Geheimnisses gelüftet. Öffentlich aber blieb ihr Können weiterhin tabu – der politische Charakter der Einheit stand im Vordergrund: Parteitreue und „sozialistische Persönlichkeitsbildung“ waren ebenso Pflicht wie körperliche Höchstleistung.

Kämpfer gegen das eigene Volk.
1989 – die DDR steht am Rand des Zusammenbruchs. Der Kalte Krieg war nicht heiß geworden, doch die größte Herausforderung für die Fallschirmjäger sollte nicht der NATO-Gegner sein, sondern das eigene Volk. Als die Proteste in Leipzig anschwollen, erhielten sie als erste Einheit den „Fechtsalarm“. „Genossen, die Konterrevolution ist im Anmarsch“ – ein Satz, der dem ehemaligen Gefreiten Matthias Schauch bis heute im Gedächtnis geblieben ist.

Es blieb beim Alarm – die Geschichte entschied sich gegen den Einsatz von Gewalt. Doch der Schock, gegen das eigene Volk antreten zu sollen, ließ viele nicht los. Der Mythos der Elite bekam Risse.

Einsätze im Stillen.
In der Öffentlichkeit trat die Truppe selten auf – wenn überhaupt, dann als Katastrophenhelfer. Im Winter 1978 etwa: Rügen versank unter Schneemassen. Die Fallschirmjäger, mit Skiern unterwegs, versorgten eingeschlossene Bauernhöfe mit Lebensmitteln. Ein seltenes Beispiel dafür, wie ihre Fähigkeiten für zivile Zwecke eingesetzt wurden – und ein Moment echter Anerkennung durch die Bevölkerung.

Leben nach dem Dienst.
Nach der Entlassung wurden viele der Soldaten umworben – vom Ministerium für Staatssicherheit, von der Polizei oder Transportpolizei. Ihre Ausbildung war gefragt, ihr Schweigen ebenso. Doch auch Jahrzehnte später leben viele noch in der Vergangenheit: In Sprüngen, Märschen, Kameradschaftsabenden. Die Schattenseiten der Armee – Drill, politische Indoktrination, psychische Belastung – rücken oft in den Hintergrund. „Man vergisst ja eigentlich die schlechten Sachen“, sagt Renato Pitsch. „Man erinnert sich nur an die guten.“

Zwischen Vergangenheit und Selbstvergewisserung.
Heute pflegen ehemalige DDR-Fallschirmjäger ihre Geschichte als Traditionsgemeinschaft. Ihre Aktivitäten sind Ausdruck einer Identität, die tief mit einem untergegangenen Staat verwoben ist. Zwischen sportlicher Herausforderung und nostalgischer Verklärung steht dabei stets die Frage im Raum: Was bleibt vom Mythos, wenn die Uniform gefallen ist?

Ulbrichts Traum vom Wirtschaftswunder – Als die DDR auf Technik als Heilmittel setzte

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Ein Rückblick auf die technikeuphorische DDR der 1960er Jahre – zwischen Kybernetik, Lochkarten und sozialistischen Utopien.

Als der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin 1961 als erster Mensch ins All flog, war das nicht nur ein Meilenstein für die Raumfahrt. Für die DDR wurde dieser Moment zum Startschuss eines regelrechten Technikfiebers. Angetrieben vom sowjetischen Fortschritt und getrieben von der Idee, den Westen wirtschaftlich und technologisch zu überholen, entwarf Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats, seine Vision eines sozialistischen Wirtschaftswunders – mit Wissenschaft und Technik als Motoren einer besseren Zukunft.

Die technologische Offensive
„Überholen, ohne einzuholen“ – dieses paradoxe Mantra bestimmte fortan die wirtschaftliche Strategie der DDR. Mit dem „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung“ (NÖS), das 1963 vorgestellt wurde, wollte man die erstarrte Planwirtschaft modernisieren. Betriebe erhielten etwas mehr Eigenverantwortung, Leistung wurde durch Prämien belohnt, und erstmals durfte auch über Gewinne gesprochen werden – innerhalb sozialistischer Grenzen, versteht sich.

Kybernetik, zuvor als bourgeoise Spinnerei abgetan, wurde plötzlich als Wunderwaffe gefeiert. Sie sollte helfen, den Sozialismus effizient zu steuern – mit Hilfe von Rechenmaschinen, Lochkarten und Algorithmen. Der Computer „Robotron 300“ wurde zum Vorzeigeprojekt, neue Ausbildungsberufe wie „Facharbeiter für Datenverarbeitung“ etabliert. In den Büros surrten Rechenmaschinen, in Klassenzimmern träumten Schüler von Weltraumspaziergängen.

Technik als Zukunftsversprechen
Die technikverliebte Propaganda machte auch vor der Kultur nicht halt. Science-Fiction-Filme und -Literatur malten eine glorreiche Zukunft aus, in der Maschinen das Leben erleichtern und der Mensch, befreit von Not und Ausbeutung, seiner kreativen Arbeit nachgehen konnte. Technik war in der DDR kein bloßes Mittel – sie wurde zum Versprechen einer besseren, kommunistischen Welt.

Und tatsächlich: In den 60er Jahren verbesserten sich vielerorts die Lebensbedingungen. Die Regale in den Geschäften füllten sich, die Infrastruktur wuchs, Renten und Urlaubszeiten stiegen. Vorzeigestädte wie Eisenhüttenstadt sollten zeigen, dass der Sozialismus nicht nur funktionierte, sondern auch modern war.

Ein Traum mit Rissen
Doch die Euphorie hielt nicht lange. Trotz aller Reformversuche blieb das System unfrei – Preise wurden weiter zentral bestimmt, Betriebe litten unter Rohstoffmangel, insbesondere nach dem Rückgang sowjetischer Erdöllieferungen. Mit dem mysteriösen Tod des Reformarchitekten Erich Apel 1965 verlor das NÖS seinen wichtigsten Vordenker. Die Reformen stockten, und bald zeigte sich: Ein bisschen Markt im Sozialismus macht noch keinen Fortschritt.

Was folgte, war ein Rückzug. 1971 übernahm Erich Honecker die Führung, Ulbricht wurde abgesetzt, das NÖS abgeschafft. Statt technologischem Aufbruch setzte die neue Linie auf soziale Wohltaten, finanziert durch westliche Kredite – ein fragiles System mit Ablaufdatum.

Rückblick auf eine technikbesessene Utopie
Heute wirkt die technikeuphorische DDR der 60er Jahre wie ein Relikt aus einer alternativen Zukunft – ein Ort, an dem Planwirtschaft und Computer, Sozialismus und Science-Fiction, Maschinen und Marx Hand in Hand gehen sollten. Es war ein Traum von der Überlegenheit des Fortschritts, geboren aus Hoffnung, Ideologie und einer gehörigen Portion Größenwahn. Doch am Ende blieb davon nur ein Stapel Lochkarten, einige Science-Fiction-Romane – und die Erkenntnis, dass selbst die modernste Technik keinen Systemfehler aushebeln kann.

35 Jahre nach der Einheit: Ostdeutsche Wut, westdeutsche Eliten!

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35 Jahre nach dem Mauerfall sind Führungspositionen im Osten Deutschlands fest in westdeutscher Hand. Die Gründe liegen tief – und die Folgen reichen bis ins demokratische Fundament des Landes.

Als Angela Merkel 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, war das für viele Ostdeutsche ein Symbol der Hoffnung. Eine von ihnen hatte es geschafft. Doch auch fast zwei Jahrzehnte später bleibt sie eine Ausnahme. In den Führungsetagen von Wirtschaft, Justiz und Verwaltung in Ostdeutschland sind Menschen mit DDR-Biografie selten – zu selten, wie viele sagen. Der Elitenmonitor zeigt: Noch immer stammen rund drei Viertel der ostdeutschen Führungskräfte aus dem Westen.

Ein Elitenwechsel mit Ansage
Die Antwort beginnt in den Umbrüchen nach 1989. Damals brach das DDR-System über Nacht zusammen. In den Behörden, Gerichten und Staatsbetrieben wurde ein komplettes Personal- und Systemupdate vollzogen – mit westdeutschem Know-how. „Die Justiz musste neu aufgebaut werden. Es gab kaum Richter, die ohne SED-Vergangenheit oder linientreue Urteile durch die Wende kamen“, sagt Iris Goerke-Berzau, eine Richterin aus Westdeutschland, die 1990 nach Sachsen-Anhalt kam. Sie blieb – wie viele ihrer Kollegen.

Ein vergleichbares Bild zeigt sich in der Wirtschaft. Ludwig Koehne, Oxford-Absolvent aus Westdeutschland, kam 1992 in den Osten, arbeitete für die Treuhandanstalt – und übernahm später den VEB „Schwermaschinenbau S.M. Kirow“ in Leipzig. Heute exportiert das Unternehmen Eisenbahnkrane in alle Welt. Ohne westliches Kapital und Wissen, so Koehne, wäre das unmöglich gewesen.

Ein Gefühl der Fremdbestimmung
Doch was für die einen Aufbauhilfe war, empfanden andere als Übernahme. Viele Ostdeutsche sahen sich nicht nur wirtschaftlich abgehängt, sondern gesellschaftlich entmündigt. Von rund 14.000 Treuhand-Verkäufen gingen nur 5 Prozent an ostdeutsche Investoren – oft aus Kapitalmangel. Die Führungsrollen übernahmen in der Regel Westdeutsche. Und sie blieben.

„Wenn man heute einen Polizeipräsidenten oder Richter in Ostdeutschland trifft, ist der Dialekt oft westdeutsch“, sagt Dirk Oschmann, Literaturprofessor aus Leipzig und Autor des Bucherfolgs „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Sein Werk, das sich 2023 über 170.000 Mal verkaufte, brachte ein lange unterdrücktes Gefühl auf den Punkt: Ostdeutsche erleben sich nicht als gleichberechtigte Bürger, sondern als Menschen zweiter Klasse – und das auf Basis realer Benachteiligungen.

Strukturelle Schieflage
Zahlen belegen diese Wahrnehmung: Kein einziger General der Bundeswehr stammt aus Ostdeutschland. Unter den über 300 Bundesrichtern finden sich gerade einmal 15 Ostdeutsche. Der einzige ostdeutsche Milliardär – Holger Leclerc – steht auf Platz 337 der reichsten Deutschen. Selbst in ostdeutschen Landesgerichten urteilen in letzter Instanz häufig westdeutsche Richter.

Warum ist das so geblieben? Ein Grund liegt in der Reproduktion von Eliten über Netzwerke. Wer aus dem Westen kam, hatte oft die richtigen Kontakte, das Kapital und das Selbstbewusstsein. Wer aus dem Osten kam, fehlte oft in genau diesen Kategorien – eine Folge der systematischen Diskreditierung ostdeutscher Biografien nach der Wende.

„Viele Ostdeutsche trauen sich gar nicht erst, sich für Laufbahnen wie meine zu bewerben“, sagt Manja Kliese, die im Auswärtigen Amt das Krisenreaktionszentrum leitet. Auch dort seien Ostdeutsche unterrepräsentiert – ein Phänomen, das sich durch Ministerien, Medien, Hochschulen und Unternehmen zieht.

Folgen für Demokratie und Zusammenhalt
Die gesellschaftlichen Folgen sind spürbar. In den Wahlergebnissen vieler ostdeutscher Bundesländer spiegeln sich Wut und Enttäuschung. Populistische Parteien wie die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht gewinnen an Zustimmung – auch, weil sie das Thema der westdeutschen Dominanz offen ansprechen. Wagenknecht fordert sogar eine Ostquote im öffentlichen Dienst.

Ob solche Quoten rechtlich möglich oder gesellschaftlich klug sind, ist umstritten. Doch das Problem bleibt: Wenn sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung dauerhaft unterrepräsentiert fühlt, droht eine Entfremdung von demokratischen Institutionen.

Ein gesamtdeutscher Auftrag
Ludwig Koehne, der westdeutsche Unternehmer im Osten, warnt vor Schuldzuweisungen allein Richtung Westen. „Auch die Ostdeutschen müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.“ Es brauche mehr Selbstbewusstsein, mehr Beteiligung, mehr Mut.

Gleichzeitig aber sind gezielte Förderprogramme gefragt: Stipendien, Mentoring-Initiativen, Sichtbarkeit ostdeutscher Vorbilder. Nur wenn Ostdeutsche ihre Erfahrungen und Perspektiven in die Eliten einbringen können, entsteht ein wirklich vereintes Land – nicht nur auf der Landkarte, sondern auch in den Köpfen.

Denn was einmal als Übergang gedacht war, droht zum Dauerzustand zu werden.

DDR-Offiziere in Moskau: Zwischen politischer Schulung und Gefechtsausbildung

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Wenn DDR-Offiziere in Moskau eintreffen, ist es kein gewöhnlicher Besuch – es ist ein Auftrag im Sinne des Bündnisses zweier Staaten, das sich nicht nur als militärische Kooperation, sondern als weltanschauliche Schicksalsgemeinschaft versteht. In den 1980er-Jahren war es fast alltäglich, dass Angehörige der Nationalen Volksarmee (NVA) über den Flughafen Sheremetyevo in die sowjetische Hauptstadt reisten – und doch war jeder Aufenthalt ein Baustein in der Festigung eines Systems, das militärisches Denken, ideologische Schulung und politische Loyalität eng miteinander verzahnte.

Rund 3.000 DDR-Offiziere haben bis zum Ende der DDR an sowjetischen Militärakademien studiert – ein Studium, das mehr bedeutete als den Erwerb strategischer Fähigkeiten. „Wir sind hier, um das Bündnis unserer Völker zu stärken und uns zu erarbeiten, was friedliche Arbeit heute mehr denn je braucht: den sicheren Weltschutz“, hieß es in einem zeitgenössischen Beitrag über das Leben an der Moskauer Militärakademie Frunze.

Vom Fallschirmjäger zum Diplomierten Kommandeur
Einer von ihnen war Klaus-Dieter Krug. Als junger Hauptmann kam er an die Akademie Frunze, wo vor allem zukünftige Truppenkommandeure ausgebildet wurden. Heute erinnert er sich als Major an die besondere Atmosphäre der Lehranstalt: „Das riesengroße Glück war, an der ältesten Militärakademie der Sowjetunion zu studieren – und direkt an der Praxis zu lernen.“ Gemeint war die Praxis des Gefechts, der Führung unter realitätsnahen Bedingungen, stets unter dem Primat der sowjetischen Militärdoktrin.

Für Krug bedeutete das Studium nicht nur Taktik und Technik, sondern auch den ideologischen Schulterschluss: „Ich kann einschätzen, dass das, was wir an Theorie dort gelehrt bekommen haben, ausreichend war, um die Aufgaben zu erfüllen.“ Doch auch er räumt ein: Die eigentliche Herausforderung wartete in der Heimat, „insbesondere in der Menschenführung im Truppenteil“.

Militär, Politik und persönliche Netzwerke
Ein zentraler Aspekt der Ausbildung in Moskau war die politische Erziehung. Ziel war es, nicht nur Fachleute heranzubilden, sondern „charakterlich und politisch gefestigte Persönlichkeiten“. In einer Welt, in der das Militär stets auch Träger der sozialistischen Idee war, musste jeder Kommandeur auch ideologischer Vorbild sein.

Diese Schulung hinterließ Spuren – auch im persönlichen Verhältnis zu sowjetischen Offizieren. Krug beschreibt die Freude, nach seiner Rückkehr in DDR-Kasernen auf Kameraden aus der Studienzeit zu treffen: „Das Verständnis bei der Ausbildung im Leben und – wenn es sein muss – auch im Gefechtsfeld ist dadurch gegeben.“

Rituale der Zugehörigkeit
Den Abschluss dieser engen Verbindung zwischen Militär und Staat bildeten symbolische Akte wie die alljährliche Parade am 7. Oktober, dem Tag der Republik. „Diese 24 Sekunden der Vorbeifahrt entschädigen für die viele Arbeit“, so Krug, der mehrfach an der Parade teilnahm – als Offizierschüler, als Leutnant, als Oberleutnant. „Es ist ein Gefühl der Freude, aber auch des Stolzes, dort mit den anderen Truppenteilen die Geschlossenheit unserer Armee zu demonstrieren.“

Rückblick auf eine vergangene Welt
Heute, im Rückblick, erscheint diese Welt fern – nicht nur räumlich, sondern auch geistig. Die Sprache, die Bilder und das Pathos solcher Berichte wirken wie aus einer anderen Zeit. Und doch erlauben sie einen tiefen Einblick in das Selbstverständnis einer Armee, die sich als Teil eines größeren Ganzen verstand – des Weltsozialismus unter sowjetischer Führung.

Das Beispiel von Major Krug steht stellvertretend für ein Kapitel deutsch-sowjetischer Militärgeschichte, das – fernab von Manövern und Marschmusik – auch eine Erzählung von Loyalität, Ausbildung und gegenseitigem Vertrauen war. Und von einem Anspruch, der weit über das Gefechtsfeld hinausging.