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Als Jena für die Freiheit aufstand

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Es war ein warmer Junimorgen, als die Unruhe in den Werkshallen von Carl Zeiss und Schott in offenen Zorn umschlug. Die von Berlin verordnete Erhöhung der Arbeitsnormen um 10 Prozent brachte das Fass zum Überlaufen. Doch in Jena ging es schnell um mehr als nur um Löhne. Arbeiter strömten aus den Toren, vereinigten sich zu Demonstrationszügen und marschierten in das Stadtzentrum. Gegen 9:00 Uhr hatten sich rund 20.000 Menschen auf dem Holzmarkt versammelt – eine Menschenmasse, die in ihrer schieren Größe die lokalen Machthaber in Schockstarre versetzte.

Die Forderungen radikalisierten sich minütlich: Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Abschaffung der Kasernierten Volkspolizei. In dieser aufgeheizten Atmosphäre bewies der junge Autoschlosser Alfred Diener außerordentlichen Mut. Er wurde Teil einer dreiköpfigen Delegation, die in das Gebäude der SED-Kreisleitung vordrang, um den Ersten Sekretär zur Rede zu stellen. Als dieser den Dialog verweigerte, sprach Diener vom Fenster zu der Menge. Es war der Funke, der den Sturm auf die Parteizentrale auslöste. Akten flogen auf die Straße, Symbole der Macht wurden zerstört – für wenige Stunden herrschte das Volk.

Doch die Antwort des Regimes kam auf Ketten. Am frühen Nachmittag rollten sowjetische T-34-Panzer in die Innenstadt. Die Jenaer versuchten verzweifelt, sie mit Sitzblockaden und quergestellten Straßenbahnen aufzuhalten, doch gegen die militärische Übermacht waren sie chancenlos. Mit dem Kriegsrecht begann die Jagd auf die „Rädelsführer“. Alfred Diener wurde verhaftet und in die Kaserne Löbstedt verschleppt. Um ein Exempel zu statuieren, verurteilte ihn ein sowjetisches Militärtribunal in einem Schnellverfahren zum Tode. Am Morgen des 18. Juni 1953, einen Tag vor seiner geplanten Hochzeit, wurde Alfred Diener hingerichtet. Sein Tod blieb über Jahrzehnte ein Trauma der Stadt, ein blutiges Mahnmal dafür, wie weit die Diktatur zu gehen bereit war, um ihre Macht zu sichern.

Alarmstufe Rot im Osten: Kanzler ohne Rezept gegen die 40-Prozent-AfD

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Berlin, 17. Dezember 2025 – Es ist ein Auftritt, der Stärke demonstrieren soll, aber vor allem die Fragilität der aktuellen Lage offenbart. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) skizzierte im ZDF-Interview „Was nun?“ eine Welt im Umbruch, in der alte Gewissheiten nicht mehr gelten.

Der außenpolitische Paukenschlag kam gleich zu Beginn: Ein möglicher Waffenstillstand in der Ukraine, abgesichert durch US-Sicherheitsgarantien. Merz verkauft das „Einfrieren“ des Konflikts entlang der aktuellen Frontlinie als Erfolg westlicher Diplomatie. Dass Kiew dafür faktisch auf Gebiete verzichten muss, umschreibt der Kanzler als „schmerzhafte Realität“. Es ist der Versuch, Realpolitik als Sieg zu verkaufen – eine Wette darauf, dass Donald Trump Wort hält und Europa nicht allein lässt.

Doch während Merz auf der Weltbühne den Staatsmann gibt, bröckelt es an der Heimatfront. Die Wirtschaft ist ungeduldig. BDI-Kritik an der schleppenden Energiepolitik wehrte Merz defensiv ab: Schuld seien Brüssel und das Erbe der Ampel-Regierung. Diese Argumentation verfängt im zweiten Regierungsjahr jedoch immer weniger. Besonders beim Reizthema Rente zeigt sich der Riss durch die Koalition. Der geplante Umbau hin zur Kapitaldeckung stockt, die SPD bremst. Merz‘ Appell an „Geduld“ klingt angesichts der drängenden Probleme fast flehentlich.

Am bedrohlichsten wirkt jedoch der Blick nach Osten. Mit prognostizierten 40 Prozent für die AfD in Sachsen-Anhalt steht das politische System der neuen Bundesländer vor einer Zerreißprobe. Merz‘ Strategie bleibt die der strikten Ausgrenzung, angelehnt an das „Brandenburger Modell“ der Polarisierung. Doch ob diese Taktik bei solchen Werten noch greift, ist fraglich. Der Kanzler wirkt hier weniger als Gestalter, sondern als Getriebener einer Welle, die er nicht zu brechen vermag.

Friedrich Merz geht „ausgeruht“ ins neue Jahr, wie er sagt. Er wird die Kraft brauchen. 2026 soll das „wichtigste Reformjahr“ werden. Scheitert er, droht nicht nur das Ende der Koalition, sondern eine tiefe Krise der politischen Mitte – besonders im Osten.

Der Gaukler, der den Minister nicht küssen wollte

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Mit 94 Jahren (2024) sitzt Armin Mueller-Stahl in der Kulisse seiner Ausstellung „Beyond the Symbols“ und blickt auf ein Leben zurück, das für drei Biografien reichen würde. Er wirkt nicht wie jemand, der sich zur Ruhe setzt, sondern wie ein Beobachter, der seine Rollen noch immer präzise analysiert. Wenn er spricht, schwingt die Melodie des ausgebildeten Geigers mit, der er einst werden wollte, bevor er zum gefeierten Mimen in Ost und West und schließlich zum Maler in der kalifornischen Garage wurde. Es ist ein Gespräch über Kunst, die Brücken baut, und über die feinen Linien des Widerstands in einer Diktatur.

Der Weg zur Schauspielerei war dabei keineswegs vorgezeichnet, sondern eher das Ergebnis eines trotzköpfigen Geistes. Nachdem er 1948 mit nichts als einem Geigenkasten unter dem Arm aus dem zerbombten Prenzlau nach Berlin kam, flog er nach nur einem Jahr von der Schauspielschule. Das Urteil der Dozenten lautete damals vernichtend auf „Talentlosigkeit“. Mueller-Stahl vermutet heute, fast ein dreiviertel Jahrhundert später, dass es vielmehr sein ausgeprägter Widerspruchsgeist war, der nicht in das Raster der frühen DDR-Kulturpolitik passte. Doch genau diese Widerborstigkeit sollte später sein Markenzeichen werden.

In der DDR avancierte er dennoch zum Superstar, vor allem durch die Serie „Das unsichtbare Visier“. Als Stasi-Agent Achim Detjen fegte er die Straßen leer und wurde fünfmal zum beliebtesten Schauspieler des Landes gewählt. Doch die Ironie des Schicksals wollte es, dass ausgerechnet die Ehrung für diese Rolle zum Bruch führte. Die Realität des Systems kollidierte mit der künstlerischen Darstellung, als die Fiktion des heldenhaften Kundschafters auf die bürokratische Härte des Ministeriums für Staatssicherheit traf.

Die Anekdote, die Mueller-Stahl dazu erzählt, ist ein Lehrstück über Macht und Distanz. Anlässlich des 25. Jahrestags des MfS sollte er geehrt werden. Erich Mielke, der mächtige Minister für Staatssicherheit, wollte den Schauspieler in einer Geste der Vereinnahmung an seine mit Orden behangene Brust ziehen und küssen. Mueller-Stahl, der die Vereinnahmung spürte, rief laut: „Vorsicht, der Bart fusselt!“ Der Satz hing unheilvoll im Raum. Das Lachen blieb aus, die Umstehenden erstarrten. Aus dem gefeierten Helden wurde in Sekundenbruchteilen ein gedemütigter Liebhaber, der sich der körperlichen Nähe der Macht verweigerte.

Diese Episode markierte den inneren Ausstieg. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnete Mueller-Stahl die Protestresolution und erhielt faktisch Berufsverbot. Zwei Jahre lang saß er zwangsweise zu Hause, eine Zeit, die er nutzte, um seine Autobiografie „Verordneter Sonntag“ zu schreiben. Der Wechsel in den Westen 1980 war kein einfacher Schritt, doch er öffnete die Tür zu einer Weltkarriere, die für einen deutschen Schauspieler dieses Alters eigentlich unmöglich schien.

In Hollywood erfand er sich neu, oft in der Rolle jüdischer Charaktere oder Väter, die dunkle Geheimnisse aus der Nazizeit hüten. Filme wie „Music Box“ oder „Avalon“ brachten ihm Oscar-Nominierungen und internationale Anerkennung. Es ist eine bizarre Wendung der Geschichte, dass der Mann, der vor den Nazis floh und später vor den Kommunisten, in Amerika oft für einen Juden gehalten wurde. Als er dies einem Journalisten gegenüber verneinte, legte dieser ihm die Hand auf die Schulter und sagte nur: „Noch nicht.“

Heute, im hohen Alter, hat er die Schauspielerei hinter sich gelassen. Das Zeichnen und Malen ist ihm wichtiger geworden, es kommt „aus dem Bauch“, wie er sagt, während das Schauspielern reine Kopfarbeit sei. In seinen Porträts, oft von jüdischen Weggefährten oder Politikern wie Gorbatschow und Steinmeier, sucht er nach dem Menschlichen hinter der Fassade. Sein Credo bleibt dabei so aktuell wie zu Zeiten des Kalten Krieges: Wenn die Politik Gräben aufreißt, ist es die Aufgabe der Kunst, Brücken zu bauen.

Der letzte Versuch: Wie aus der Staatspartei die SED-PDS wurde

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Es ist ein kühles Wochenende im Dezember 1989 in Berlin, an dem sich das Schicksal der einst allmächtigen Staatspartei entscheiden soll. Die Atmosphäre im Tagungsgebäude ist geladen, eine Mischung aus Existenzangst und trotzigem Aufbruchswillen liegt in der Luft. Während auf den Straßen der DDR die Rufe nach Wiedervereinigung immer lauter werden, versammeln sich die Delegierten zu einem außerordentlichen Parteitag, der später als historischer Wendepunkt in die Geschichtsbücher eingehen wird. Es geht nicht mehr um den alleinigen Machtanspruch, sondern um das nackte politische Überleben in einem Land, das sich rasant verändert.

In einer geschlossenen Sitzung ringen die Anwesenden um ihre Identität. Der Name „SED“ ist für viele Bürger unwiderruflich verbrannt, verbunden mit Unrecht und Misswirtschaft. Doch eine komplette Aufgabe der eigenen Wurzeln wagen die Delegierten noch nicht. Mit großer Mehrheit entscheiden sie sich für einen Kompromiss, der den Übergang markieren soll: Die Partei wird „bis auf weiteres“ den Doppelnamen SED-PDS tragen. Es ist der Versuch, die alte Stammwählerschaft nicht zu verprellen und gleichzeitig ein Signal der Erneuerung an die kritische Öffentlichkeit zu senden.

Im Zentrum dieses Sturms steht Gregor Gysi. Der Rechtsanwalt, der nun als Parteivorsitzender die Geschicke lenkt, wählt in seinem Referat „Zu aktuellen Aufgaben der Partei“ Worte, die sich deutlich vom hölzernen Politik-Sprech der Honecker-Ära abheben. Er malt das Gespenst eines „politischen Vakuums“ an die Wand, das entstehen könnte, wenn sich die Linken zurückziehen. Gysi appelliert an den Kampfgeist der Genossen: Man müsse verhindern, dass „rechte Kräfte“ diesen Raum besetzen. Seine Rhetorik zielt darauf ab, die Reihen zu schließen und den demoralisierten Mitgliedern neuen Mut einzuhauchen.

Inhaltlich vollzieht die Partei eine Gratwanderung. Das neu verabschiedete vorläufige Statut definiert die SED-PDS weiterhin als „marxistische sozialistische Partei“, versucht aber gleichzeitig, sich von den Fehlern der Vergangenheit zu distanzieren. Man schwört dem „administrativ-bürokratischen Sozialismus“ ab und wirbt für einen „neuen menschlichen, demokratischen Sozialismus“. Es ist das Bekenntnis zu einer Utopie jenseits von stalinistischer Unterdrückung und kapitalistischer Profitwirtschaft, ein dritter Weg, der in der Theorie verlockend klingt, aber in der Realität des Winters 1989 auf harte Skepsis stößt.

Ein zentraler Punkt der neuen Strategie ist das unbedingte Festhalten an der Eigenstaatlichkeit der DDR. Die Delegierten verabschieden einen Appell, der die „soziale Sicherheit unserer Werktätigen“ eng mit der Existenz des Staates verknüpft. Die Botschaft ist klar: Wer die DDR aufgibt, gibt auch den sozialen Schutzschirm auf. Damit positioniert sich die SED-PDS als Anwalt derer, die im schnellen Wandel unter die Räder zu kommen fürchten. Stabilität und Frieden in Europa, so die Argumentation, hingen vom Fortbestand des zweiten deutschen Staates ab.

Trotz der massiven Proteste im Land gibt sich die Parteiführung keineswegs geschlagen oder bereit für die Oppositionsbank. „Wir sind nicht so schwach, wie manche glauben“, ruft Gysi den Delegierten zu. Die Partei signalisiert offen ihre Bereitschaft, weiterhin Regierungsverantwortung zu tragen. Man ist bereit für Koalitionen mit allen Kräften, die ebenfalls die Eigenstaatlichkeit der DDR bewahren wollen. Es ist eine Kampfansage für den beginnenden Wahlkampf, der zeigen soll, wie viel Rückhalt die gewendete Partei im Volk noch besitzt.

Der Parteitag endet am Sonntagnachmittag mit der Verabschiedung des Gysi-Referats als Arbeitsgrundlage. Einmütig werden Positionspapiere und Appelle beschlossen, die den Weg in die Zukunft weisen sollen. Was an diesem Wochenende in Berlin geschieht, ist der Versuch einer Operation am offenen Herzen: Die Umwandlung eines starren Machtapparats in eine wettbewerbsfähige Partei des demokratischen Sozialismus. Ob dieser Spagat gelingen kann, werden erst die kommenden Monate und die freien Wahlen im Frühjahr 1990 zeigen.

Die verlorenen Kinder des Wilhelm Pieck

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Wilhelm Pieck, der gütige Großvater der DDR, lächelt von Briefmarken und aus Schulbüchern auf eine ganze Generation herab. Doch hinter der Fassade des Landesvaters verbirgt sich eine familiäre Leere, die der Öffentlichkeit verborgen blieb. Während die Nation ihn als Symbol verehrte, erlebten seine Kinder einen Vater, der vor allem durch Abwesenheit glänzte und dessen politische Mission keinen Raum für familiäre Nähe ließ.

Die Kindheit von Arthur, Werner und ihren Schwestern war geprägt von ständiger Flucht und der allgegenwärtigen Angst vor Entdeckung durch politische Gegner. In den Jahren des Exils, unter anderem in Frankreich und der Sowjetunion, lernten sie früh, dass blindes Vertrauen tödlich sein kann. Ein gepackter Koffer war ihnen vertrauter als ein stabiles Zuhause, und die Loyalität zur Partei wog schwerer als die Bindung zu den Eltern.

Arthur Pieck, der älteste Sohn, wuchs direkt in die strengen Strukturen der Ideologie hinein, fand aber nie seinen Frieden damit. Er engagierte sich in kommunistischen Organisationen und blieb doch stets eine Randfigur im großen Spiel der Macht. Sein Leben war ein ständiger Spagat zwischen dem privilegierten Status als Sohn und dem tiefen Misstrauen der stalinistischen Ära, das auch vor der eigenen Familie nicht Halt machte.

Ganz anders erging es Werner Pieck, der den Weg der bedingungslosen Anpassung an den Apparat wählte. Er arbeitete loyal in staatlichen Einrichtungen und erfüllte die an ihn gestellten Erwartungen mit einer fast schmerzhaften Perfektion. Doch dieser Gehorsam hatte einen hohen Preis: Werner entwickelte kaum eine eigene Identität, sondern fungierte als bloßes Rädchen im System, erdrückt von der Last seines berühmten Nachnamens.

Die Töchter des ersten Präsidenten, wie Elly Winter, wurden fast vollständig aus dem Licht der Öffentlichkeit verbannt. Sie lebten eine Existenz im Verborgenen, da private Geschichten das sorgsam polierte Bild des unfehlbaren Staatsmannes hätten stören können. Ihr Schweigen war keine freie Wahl, sondern eine politische Überlebensstrategie, die sie unsichtbar machte, während ihr Vater im Rampenlicht stand.

Mit dem Tod Wilhelm Piecks im Jahr 1960 verloren die Kinder nicht nur ihren Vater, sondern auch ihren wichtigsten politischen Schutzschild. Die neue Führungselite der DDR benötigte die Familie nicht mehr als Symbol, und so schwanden die Privilegien rasch dahin. Sie blieben als lebende Relikte einer vergangenen Epoche zurück, weder Teil der neuen Machtzirkel noch fähig, sich in der Opposition zu verorten.

Nach dem Mauerfall 1989 endete die historische Rolle der Familie endgültig und wich einer ernüchternden Bedeutungslosigkeit. In der vereinten Bundesrepublik war der Name Pieck kein Türöffner mehr, sondern wurde oft als Belastung empfunden. Die Nachkommen zogen sich ins Private zurück, entfremdet von einer Gesellschaft, die ihre Biografie als historisches Kuriosum betrachtete, ohne die Menschen dahinter zu sehen.

Der Preis der Freiheit: Von der Grenze nach Bautzen II

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Es beginnt als harmloser Campingausflug im September 1983, bei dem zwei Männer scheinbar zum Pilzesuchen in den Wald aufbrechen. Doch die Körbe bleiben leer, denn das Ziel von Gerhard Valdiek und seinem Begleiter sind nicht die Wälder, sondern die Freiheit jenseits des Eisernen Vorhangs. Dieser Moment markiert den Übergang von einem staatlich dirigierten Leben in der DDR zu einem lebensgefährlichen Wagnis an der tschechischen Grenze, das blutig endet und das Leben der beiden Familien für immer verändert.

Die Entscheidung zur Flucht reift bei Valdiek nicht über Nacht, sondern ist das Resultat jahrelanger staatlicher Gängelung. Er beschreibt das beklemmende Gefühl, keine wesentlichen Entscheidungen über das eigene Leben treffen zu dürfen, als den Punkt, an dem das Maß endgültig voll war. Reisen waren unmöglich, der Alltag von oben bestimmt. Zusammen mit einem Freund plant er monatelang die Details, studiert Karten und wählt eine Route über die Tschechoslowakei, um das System der DDR dauerhaft hinter sich zu lassen.

Fünfzehn Kilometer legen die beiden Flüchtenden zu Fuß zurück, überwinden Zäune und durchschneiden Drähte mit mitgebrachtem Werkzeug. Sie wähnen sich fast in Sicherheit, als im Niemandsland plötzlich Schüsse fallen. Valdiek wird schwer getroffen: Eine Kugel verletzt sein rechtes Auge, eine andere streift seine Brust. Statt in die erhoffte Freiheit führt sein Weg nun schwerverletzt in die Hände tschechischer Sicherheitskräfte und noch in derselben Nacht zurück zur Staatssicherheit der DDR.

Nach Wochen in strenger Einzelhaft und der Verurteilung zu zwei Jahren und vier Monaten Haft landet Valdiek in der berüchtigten Sonderhaftanstalt Bautzen II. Der Alltag dort ist geprägt von Isolation und strenger Taktung. Er muss im Schichtsystem Zwangsarbeit für die Elektronikindustrie leisten, abgeschottet in kalten Kellerräumen. Die Zelle misst kaum acht Quadratmeter, die Gesellschaft ist erzwungen, und die psychische Belastung durch die Ungewissheit wiegt oft schwerer als die physischen Einschränkungen der Haft.

Kontakte zur Außenwelt werden in Bautzen systematisch unterbunden oder streng reglementiert. Ein einziger Brief pro Monat ist erlaubt, doch oft erreichen die Zeilen die Angehörigen nicht, weil sie angeblich unleserlich geschrieben sind. Besuche der Ehefrau finden unter ständiger Aufsicht eines Offiziers statt, ohne Berührung, ohne Intimität. Ein kurzer Händedruck zur Begrüßung ist das Maximum an menschlicher Nähe, das das Regime in diesen kontrollierten dreißig Minuten zulässt.

Im Juni 1984 ändert sich die Situation schlagartig. Ohne Vorwarnung wird Valdiek an einem Morgen aus seiner Zelle geholt und zusammen mit rund 40 anderen Häftlingen in Busse verfrachtet. Der Konvoi, angeführt von einem goldenen Mercedes, bringt die Gefangenen in den Westen. Es ist der Moment des Häftlingsfreikaufs durch die Bundesrepublik, ein politisches Geschäft mit Menschen, das für Valdiek jedoch die langersehnte Rettung aus der politischen Haft bedeutet.

Das Versprechen des Anwalts Wolfgang Vogel bewahrheitet sich schließlich: Exakt sechs Wochen nach seiner eigenen Ankunft im Westen folgt die Familie nach. Am Bahnhof in Bielefeld wartet Valdiek auf den Zug, der seine Frau und seinen Sohn bringt. Es ist das Ende einer traumatischen Trennung und der Beginn eines neuen Lebens in einer Gesellschaft, in der die Freiheit der persönlichen Entfaltung nicht mehr an einer Grenze mit Waffengewalt endet.

Ein Jahr Brombeere in Erfurt: Von nächtlichen Telefonaten und einem grünen Herzen

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Es ist ein sonniger Freitagmorgen in Erfurt, als sich die Regierungsspitze den Medien stellt. Das Wetter draußen passt zur Stimmung, die Ministerpräsident Mario Voigt (CDU), seine Stellvertreterin Katja Wolf (BSW) und Innenminister Georg Maier (SPD) drinnen verbreiten wollen. Vor genau einem Jahr trat dieses ungewöhnliche Bündnis, das als „Brombeer-Koalition“ bekannt wurde, mit dem Versprechen an, den politischen Stillstand zu beenden. Was damals viele Beobachter als Experiment mit kurzer Halbwertszeit abtaten, präsentiert sich heute als pragmatische Arbeitsgemeinschaft, die den Fokus auf Sacharbeit statt Ideologie legt.

Die drei Protagonisten machen keinen Hehl daraus, dass der Weg hierher nicht immer geräuschlos verlief. Katja Wolf berichtet offen von nächtlichen Telefonaten und Momenten der Übellaunigkeit, besonders während der intensiven Haushaltsverhandlungen. Doch genau diese Reibung scheint notwendig gewesen zu sein, um drei völlig unterschiedliche Parteikulturen unter einen Hut zu bekommen. Das Ergebnis dieser Mühen ist ein Doppelhaushalt, der nicht nur steht, sondern auch Planungssicherheit für die kommenden zwei Jahre bietet. Man betont das Verbindende: Vertrauen und Verantwortung als Währung in einer Zeit politischer Polarisierung.

Ein zentraler Pfeiler der Bilanz ist das kommunale Investitionsprogramm. Eine Milliarde Euro soll in die Städte und Gemeinden fließen – laut Finanzministerin Wolf die größte Investition dieser Art seit der Wende. Das Geld ist zweckgebunden für Schulen, Straßen und digitale Infrastruktur, soll aber unbürokratisch und mit großem Vertrauen in die kommunale Selbstverwaltung vergeben werden. Es ist der Versuch, den Investitionsstau im Land aufzulösen und gleichzeitig der kriselnden Bauwirtschaft unter die Arme zu greifen, auch wenn der Rechnungshof die Finanzierung über Kredite durchaus kritisch sieht.

Auch beim emotionalen Thema Bildung und Personal sieht die Regierung eine Trendwende. Erstmals seit Langem wurden in Thüringen mehr Lehrkräfte eingestellt, als in den Ruhestand gingen. Der Unterrichtsausfall sei auf rund neun Prozent gesunken. Voigt spricht von einem Ende des Verwaltens und einem Beginn des Gestaltens. Parallel dazu verweist Innenminister Maier auf die innere Sicherheit: Die Zuzugszahlen im Migrationsbereich wurden halbiert, die Abschiebehaft konsequent angewandt und gleichzeitig massiv in die Ausbildung der Polizei und Feuerwehr investiert, etwa am Standort Meiningen.

Die wirtschaftliche Lage dient der Koalition als weiterer Beleg für den Erfolg ihres Kurses. Thüringen finde sich beim Wirtschaftswachstum wieder in der Spitzengruppe der Bundesländer und habe sich vom Bundestrend abgekoppelt. Großansiedlungen wie die von X-Fab werden als Beweis für die wiedergewonnene Attraktivität des Standorts angeführt. Voigt verbindet dies mit einer Erzählung von neuem Stolz: Die Identifikation der Bürger mit ihrem „Grünen Herz“ liege bei 88 Prozent – Werte, die der Ministerpräsident augenzwinkernd mit der Markenbindekraft von Coca-Cola vergleicht.

Doch nicht alles ist eitel Sonnenschein. Die Umfragewerte des Bündnispartners BSW haben sich im letzten Jahr fast halbiert und liegen nur noch bei sieben Prozent. Katja Wolf führt dies auf bundespolitische Turbulenzen zurück, sieht es aber auch als Ansporn, die Regierungsarbeit sichtbarer zu machen. Kritik der Opposition, etwa der Linken, die von einer „Show“ spricht, oder der AfD, die gegen den Haushalt klagen will, wird von der Regierungsbank mit einer Mischung aus Gelassenheit und Angriffslust pariert: Man habe 10 Jahre Stillstand aufzuräumen.

Am Ende dieses ersten Jahres steht der Anspruch, Thüringen von einem Nehmer- zu einem Geberland zu entwickeln. Die Koalitionäre wirken dabei weniger wie eine Zweckgemeinschaft, sondern eher wie Partner, die sich zusammengerauft haben. Ob die Harmonie der Pressekonferenz auch den Stürmen der kommenden Legislaturhälfte standhält, wird sich zeigen müssen. Für den Moment jedoch dominiert das Bild einer Regierung, die – wie Georg Maier es formuliert – nicht per Richtlinienkompetenz, sondern auf Augenhöhe agiert.

Das Kollektiv zwischen Zwang und Zuflucht: Die Brigadefeier

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In den Pausenräumen der Volkseigenen Betriebe roch es an Freitagnachmittagen oft nach Zigarettenrauch, Bohnenkaffee und dem süßlichen Duft von „Rotkäppchen“-Sekt. Was auf den ersten Blick wie eine spontane Flucht aus dem grauen Arbeitsalltag wirkte, folgte einer strengen Choreografie, die staatliche Vorgaben und privates Vergnügen untrennbar miteinander verwob. Die Brigadefeier war in der DDR weit mehr als nur Geselligkeit; sie war ein politisch gewolltes Ritual.

Der staatliche Anspruch lautete „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben“. Diese Losung aus dem Jahr 1959 machte den Arbeitsplatz zum zentralen Sozialisationsort. Wer den begehrten Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ und die damit verbundene Geldprämie ergattern wollte, musste nicht nur den Plan erfüllen, sondern auch gemeinsam ins Theater gehen oder wandern. Die Feier wurde so zur ökonomischen Notwendigkeit für den Geldbeutel jedes Einzelnen.

Ein einzigartiges Zeugnis dieser Zeit sind die Brigadetagebücher, die heute in Museen lagern. In akkurater Schönschrift und mit eingeklebten Urkunden dokumentierten sie das vermeintlich perfekte kollektive Leben. Doch zwischen den Zeilen der ideologischen Phrasen klaffte oft eine Lücke zur Realität. Während der Text brav von politischer Weiterbildung berichtete, zeigten die eingeklebten Fotos ausgelassene Schnappschüsse, die wenig mit Parteidisziplin zu tun hatten.

Innerhalb dieser staatlichen Strukturen bildete sich das, was der Soziologe Günter Gaus als „Nischengesellschaft“ bezeichnete. Die Brigade fungierte als Tauschnetzwerk in der Mangelwirtschaft. Auf den Feiern wurden keine politischen Parolen diskutiert, sondern Autoteile organisiert und Handwerkerleistungen vermittelt. Der Alkohol löste hierbei die Zungen und schuf eine vertraute Intimität, die Kritik an der Obrigkeit im geschützten Raum zuließ.

Besonders der Internationale Frauentag am 8. März stach im Jahreskalender hervor. In einer Art karnevalesker Umkehrung der Verhältnisse bedienten die Männer an diesem Tag ihre Kolleginnen, kochten Kaffee und schenkten Alkohol aus. Diese ritualisierten Exzesse, oft begleitet von reichlich „Goldbrand“, waren ein Ventil für den Druck der Doppelbelastung, unter dem viele Frauen in der DDR-Arbeitswelt standen, und stärkten den internen Zusammenhalt enorm.

Wie brisant diese Feierkultur war, zeigte der Skandal um Sighard Gilles Gemälde „Brigadefeier – Gerüstbauer“ im Jahr 1977. Statt heroischer Arbeiter malte er eine chaotische Partygesellschaft mit geröteten Gesichtern und schief hängenden Lampions. Die Funktionäre waren empört über diese Darstellung des „Dampfablassens“, doch das Bild fing genau jene ungeschminkte Realität ein, die in den offiziellen Berichten der Brigadebücher meist verschwiegen wurde.

Mit dem Mauerfall 1989 endete diese Ära abrupt. Die Kombinate wurden zerschlagen, die soziale Sicherheit wich der Konkurrenz, und die Brigadebücher brachen oft mitten im Satz ab. Was bleibt, ist die ambivalente Erinnerung an eine Zwangsgemeinschaft, die vielen dennoch als soziale Heimat diente. Die Brigadefeier war der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Diktatur und Alltag, ein Ort, an dem die große Politik oft einfach im Alkohol ertränkt wurde.

Der teuerste Umzug der Geschichte: Als die Rote Armee ging

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31. August 1994. Die Sonne brennt, als der russische Präsident Boris Jelzin, sichtlich beschwingt, dem Dirigenten des Polizeiorchesters den Taktstock aus der Hand reißt. Eine Szene für die Geschichtsbücher, halb peinlich, halb befreiend. Sie markiert den schrillen Schlussakkord einer Besatzung, die 49 Jahre dauerte. Doch hinter diesem bizarren Festakt verbirgt sich eine logistische und menschliche Tragödie, deren Spuren bis heute in den sandigen Böden Brandenburgs und den zerstörten Städten der Ukraine zu finden sind.

Es war eine Operation der Superlative, die im Schatten der Wiedervereinigung fast geräuschlos abgewickelt wurde. Über eine halbe Million Menschen – Soldaten, Zivilangestellte, Familien – mussten zurück in ein Reich, das gerade zerfiel. Mit ihnen reisten 4.000 Panzer und unzählige Tonnen Munition. Die „Westgruppe der Truppen“, einst der stählerne Stolz Moskaus und die Faust gegen die NATO, wurde nicht militärisch geschlagen, sondern vertraglich abgewickelt und per Bahn und Schiff nach Osten verfrachtet.

Das logistische Nadelöhr für diesen Rückzug lag auf der Insel Rügen. Im Fährhafen Mukran, gebaut für den Krieg, rollten nun Panzer in den Frieden. Breitspur-Waggons verschwanden in den Bäuchen riesiger Fähren Richtung Klaipeda, um den mühsamen Spurwechsel an der polnischen Grenze zu umgehen. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, getrieben von einem engen Zeitplan, der keine Rücksicht auf die chaotischen Zustände in der Heimat der Soldaten nahm, wo oft weder Kasernen noch eine Zukunft auf sie warteten.

Um diesen Abzug überhaupt möglich zu machen, griff die Bundesregierung tief in die Tasche. Rund 12 Milliarden D-Mark flossen nach Moskau, ein „Schweigegeld“ für die Freiheit, wie Spötter meinten. Der größte Posten: Ein gigantisches Wohnungsbauprogramm. Deutsche Firmen stampften in Russland, Belarus und der Ukraine ganze Stadtviertel aus dem Boden. Moderne Siedlungen mit Schulen und Polikliniken sollten den entwurzelten Offizieren eine neue Heimat bieten und sozialen Sprengstoff entschärfen.

Die Ironie der Geschichte zeigt sich heute an Orten wie Krywyj Rih oder Charkiw in der Ukraine. Dort stehen jene mit deutschen Milliarden finanzierten „Friedenssiedlungen“, die einst für die Rückkehrer der Roten Armee gebaut wurden. In den aktuellen Kriegsnachrichten tauchen sie wieder auf – nun als Ziele russischer Angriffe. Was als Instrument der Stabilisierung gedacht war, ist heute Teil eines Schlachtfelds, auf dem die Enkel der damaligen Abzügler einen brutalen Krieg führen.

Während die Soldaten gingen, blieb ihr toxisches Erbe im Boden zurück. Die ökologische Bilanz der Besatzung war verheerend. In Lärz oder Parchim schwammen riesige Kerosinseen auf dem Grundwasser, Hinterlassenschaften undichter Tanks und achtloser Betankungen. Ganze Wälder rund um Jüterbog sind bis heute Sperrzonen, weil dort tonnenweise Munition im Sand liegt. Wenn es dort brennt, kann die Feuerwehr oft nur zusehen, weil das Betreten der „verbrannten Erde“ lebensgefährlich ist.

Für die russischen Offiziere selbst war der Abzug oft eine Demütigung. Sie kamen als Sieger des Zweiten Weltkriegs und gingen als Verlierer des Kalten Krieges, oft degradiert zu Händlern auf Flohmärkten, wo sie Uniformteile und Ausrüstung für Westmark verramschten. Ihr Oberkommandierender Burlakow wollte als Letzter gehen, doch die politische Inszenierung in Berlin stahl ihm die Show. Zurück blieben Geisterstädte wie Wünsdorf, wo Lenin-Statuen noch lange einsam Wache hielten.

Die DDR als Sehnsuchtsort – warum wir uns Geschichte heute schönreden

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Wer auf Facebook viele Klicks will, muss die DDR heute nur noch als Sehnsuchtsort erzählen. Billig, überschaubar, menschlich. Je weniger man über Kontrolle, Anpassung und Abhängigkeit spricht, desto besser läuft der Beitrag. Das Harte wird im Nachhinein verklärt, das Schwierige relativiert, das Unbequeme ausgeblendet.

Was dabei oft verloren geht, ist Realität. Erinnerung wird zur Wohlfühlkulisse, Geschichte zur Gefühlsfrage. Wer einwirft, dass es eben nicht nur warm, sondern auch eng war, gilt schnell als Spielverderber oder „Wessi-Narrativ“-Wiederholer.
Auffällig ist, wie professionell diese Verklärung inzwischen betrieben wird. KI-Bilder zeigen eine DDR, die aufgeräumter, freundlicher und schöner wirkt als sie je war. Das ist keine Erinnerung mehr, das ist Rekonstruktion nach Wunsch. Und sie funktioniert – algorithmisch wie emotional.

Natürlich hatten Menschen gute Momente, Freundschaften, Lebensfreude. Das stellt niemand infrage. Aber daraus ein Gesamtbild zu machen, das politische Realität, Machtverhältnisse und Zwänge ausblendet, ist nicht harmlos. Es verschiebt Maßstäbe – und am Ende auch die Debatte über Freiheit, Verantwortung und Wahrheit.

Problematisch wird es dort, wo jede Kritik mit dem Satz abgewehrt wird: „So schlimm war das doch alles gar nicht.“ Dieser Satz beendet keine Diskussion, er verhindert sie. Er schützt die eigene Erinnerung – auf Kosten der historischen Einordnung.

Vielleicht ist es unbequem, sich einzugestehen, dass man in einem System gelebt hat, das man sich heute so nicht mehr wünschen würde. Aber genau diese Ehrlichkeit wäre der erste Schritt zu einer erwachsenen Erinnerungskultur.
Was mich interessiert: Geht es hier wirklich um die DDR – oder um die Sehnsucht nach einer einfachen Vergangenheit, weil die Gegenwart zu kompliziert geworden ist?