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Die DDR als Sehnsuchtsort – warum wir uns Geschichte heute schönreden

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Wer auf Facebook viele Klicks will, muss die DDR heute nur noch als Sehnsuchtsort erzählen. Billig, überschaubar, menschlich. Je weniger man über Kontrolle, Anpassung und Abhängigkeit spricht, desto besser läuft der Beitrag. Das Harte wird im Nachhinein verklärt, das Schwierige relativiert, das Unbequeme ausgeblendet.

Was dabei oft verloren geht, ist Realität. Erinnerung wird zur Wohlfühlkulisse, Geschichte zur Gefühlsfrage. Wer einwirft, dass es eben nicht nur warm, sondern auch eng war, gilt schnell als Spielverderber oder „Wessi-Narrativ“-Wiederholer.
Auffällig ist, wie professionell diese Verklärung inzwischen betrieben wird. KI-Bilder zeigen eine DDR, die aufgeräumter, freundlicher und schöner wirkt als sie je war. Das ist keine Erinnerung mehr, das ist Rekonstruktion nach Wunsch. Und sie funktioniert – algorithmisch wie emotional.

Natürlich hatten Menschen gute Momente, Freundschaften, Lebensfreude. Das stellt niemand infrage. Aber daraus ein Gesamtbild zu machen, das politische Realität, Machtverhältnisse und Zwänge ausblendet, ist nicht harmlos. Es verschiebt Maßstäbe – und am Ende auch die Debatte über Freiheit, Verantwortung und Wahrheit.

Problematisch wird es dort, wo jede Kritik mit dem Satz abgewehrt wird: „So schlimm war das doch alles gar nicht.“ Dieser Satz beendet keine Diskussion, er verhindert sie. Er schützt die eigene Erinnerung – auf Kosten der historischen Einordnung.

Vielleicht ist es unbequem, sich einzugestehen, dass man in einem System gelebt hat, das man sich heute so nicht mehr wünschen würde. Aber genau diese Ehrlichkeit wäre der erste Schritt zu einer erwachsenen Erinnerungskultur.
Was mich interessiert: Geht es hier wirklich um die DDR – oder um die Sehnsucht nach einer einfachen Vergangenheit, weil die Gegenwart zu kompliziert geworden ist?

Die SED sucht ihr Heil in der Umweltpolitik am Grünen Tisch

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Es ist ein Samstag, an dem die Luft in der DDR vor Spannung vibriert und der erste Schnee politischer Veränderungen fällt. Während die Bürger auf den Straßen längst Fakten geschaffen haben, versucht die alte Führung verzweifelt, den Anschluss nicht gänzlich zu verlieren. In den Amtsstuben der SED rauchen die Köpfe, wie man die Macht noch retten kann.

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands setzt an diesem 16. Dezember 1989 auf eine neue Karte: den Umweltschutz. Mit der Einladung an alle demokratischen Kräfte zu einem „Grünen Tisch“ will sie Handlungsfähigkeit demonstrieren. Im ehemaligen Haus des Zentralkomitees soll ein Treffpunkt entstehen, um den ökologischen Kollaps des Landes zu diskutieren.

Doch die Realität hat die Planer längst überholt. In Berlin versammeln sich Vertreter der neuen Oppositionsgruppen, um die zweite Sitzung des zentralen Runden Tisches vorzubereiten. Überall im Land entstehen Fakten: In Ilmenau gründet sich die Grüne Partei, und in den Betrieben bilden sich unabhängige Gewerkschaften, die sich von der alten Bevormundung lösen.

Ein historisches Ereignis wirft seine Schatten voraus und elektrisiert die Menschen. In Dresden laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren für den Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl. Erste Gespräche finden statt, um den Rahmen abzustecken für einen Moment, der in wenigen Tagen als entscheidender Wendepunkt in die deutsch-deutschen Geschichtsbücher eingehen wird.

Mahnende Worte kommen derweil aus Hamburg von Altkanzler Helmut Schmidt. Er warnt in der „Zeit“ eindringlich vor nationalen Alleingängen und fordert Weitsicht. Die Anerkennung der polnischen Westgrenze müsse ohne juristische Spitzfindigkeiten erfolgen, um die Ängste der europäischen Nachbarn vor einer neuen deutschen Dominanz zu zerstreuen.

Während die große Politik über Grenzen verhandelt, spüren die Kommunen im Westen die Last der Freiheit ganz praktisch. München streicht das zusätzliche Begrüßungsgeld, da der Ansturm die Stadtkassen sprengt. Es ist ein Tag des Umbruchs, an dem Euphorie und Sorge, taktisches Kalkül und echter Aufbruch in Ost und West eng beieinanderliegen.

Aufstand gegen Hermann Kant: Berliner Autoren fordern Wandel

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Der Zigarettenrauch hängt tief im Klub der Kulturschaffenden, doch die Luft ist klarer denn je. Es ist der 15. Dezember 1989 in Berlin. Während auf den Straßen das Machtmonopol der SED längst Geschichte ist, klammern sich in den Amtsstuben der Kulturfunktionäre die alten Kader noch immer an ihre Sessel. Vierundzwanzig Autoren haben genug von diesem Stillstand und verfassen ein Dokument, das die literarische Landschaft der DDR erschüttern wird.

Im Zentrum der harschen Kritik steht Hermann Kant. Der gefeierte Autor von „Der Aufenthalt“ und langjährige Präsident des Schriftstellerverbandes gilt den Unterzeichnern längst nicht mehr als ihr legitimer Vertreter. Seine jüngste Bestätigung durch den Vorstand empfinden sie als offene Provokation. Kant hatte zuvor gegen eine wichtige Resolution gestimmt, die Veränderungen in der DDR einforderte, und damit seinen Rückhalt verspielt.

Der Ton des verfassten Papiers ist schneidend scharf und duldet keinen Widerspruch mehr. „Wir haben weder Zeit noch Lust“, heißt es in der Erklärung, sich durch veraltete Statuten bremsen zu lassen. Die Geduld für taktische Spielchen ist am Ende. Es geht den Verfassern nicht mehr um kleine kosmetische Korrekturen, sondern um gravierende, strukturelle Veränderungen im Berufsverband, die keinen Aufschub mehr dulden.

Die Liste der Unterzeichner liest sich wie ein Querschnitt durch die unangepasste Literaturlandschaft. Neben der Lyrikerin Elke Erb und der später gefeierten Helga Schubert finden sich auch Science-Fiction-Autoren wie das Ehepaar Steinmüller. Sie alle eint an diesem Dezembertag die Weigerung, sich weiter von einer funktionärshörigen Führung bevormunden zu lassen. Es ist ein Bündnis quer durch alle Genres gegen den Apparat.

Der Bruch hatte sich bereits im Frühherbst angekündigt. Schon am 14. September, noch vor den entscheidenden Leipziger Demonstrationen, hatte der Berliner Verband eine mutige Resolution verfasst. Dass Kant diese damals ablehnte, zerschnitt das letzte Band des Vertrauens. Nun, drei Monate später, vollziehen die Berliner Autoren die logische Konsequenz und kündigen dem Präsidenten öffentlich die Loyalität auf.

Dieses Dokument markiert einen Akt der ultimativen Selbstermächtigung einer Berufsgruppe. Lange Zeit galt Literatur in der DDR als „Waffe im Klassenkampf“ oder staatlich gelenktes Erziehungsinstrument. Mit ihrer Unterschrift erklären diese Schriftsteller ihre Unabhängigkeit und degradieren die alten Machtstrukturen zu bedeutungslosen Hüllen, die den Geist der neuen Zeit nicht mehr repräsentieren können.

Die Erklärung ist der Anfang vom Ende des zentralistischen Schriftstellerverbandes der DDR. Nur wenige Monate später wird sich die Organisation in ihrer alten Form auflösen. Was an diesem Dezembertag im Klub der Kulturschaffenden begann, war der entscheidende Schritt hin zu einer freien, demokratisch organisierten Interessenvertretung ohne ideologische Fesseln und staatliche Gängelung.

Geralf Pochop und der Punk-Widerstand in der DDR

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Das West-Radio bringt 1977 die ersten schnellen Akkorde in die DDR und entfacht eine Sehnsucht, die der Staat nicht dulden will. Für Geralf Pochop beginnt eine Reise, die ihn ins Visier der Staatssicherheit führt. Was als harmlose Jugendkultur beginnt, wird durch den Druck des Regimes schnell zu bitterem politischem Ernst.

Im Jahr 1983 erklärt Stasi-Chef Erich Mielke die Punk-Bewegung zum Hauptfeind. Öffentliche Plätze sind für Jugendliche mit falscher Kleidung plötzlich tabu. Wer mit Irokesenschnitt erwischt wird, muss mit hohen Geldstrafen rechnen, die sich theoretisch mehrmals täglich summieren können, um die Rebellion finanziell zu ersticken.

Die Szene lässt sich nicht verbieten und sucht Schutz in Kirchenräumen. Unter harmlosen Tarnnamen wie „Orgelclub“ finden wilde Konzerte statt. Bauarbeiter im Publikum entpuppen sich als Punks, die ihre Arbeitskluft abwerfen, sobald die ersten Töne erklingen. Es ist ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel mit der sozialistischen Obrigkeit.

Die Methoden der Zersetzung werden brutaler. Mitten im Winter entführen Stasi-Mitarbeiter Pochop in ein Waldstück bei Halle, um ihn als Informanten anzuwerben. Trotz massiver Drohungen gegen seine Freiheit und Gesundheit bleibt er standhaft und verweigert die geforderte Unterschrift für die Zusammenarbeit konsequent.

Am 7. Oktober 1987, dem Jahrestag der Republik, greift der Staat endgültig durch. Pochop wird verhaftet, kahlgeschoren und landet in Isolationshaft. Der Vorwurf der öffentlichen Herabwürdigung führt zu einer sechsmonatigen Haftstrafe, die er teils mit Schwerverbrechern verbringen muss, was ihn nur weiter radikalisiert.

Aus dem Musikfan wird ein politischer Aktivist, der Flugblätter schreibt und Widerstand leistet. Doch der Druck bleibt enorm. Wenige Tage vor dem Mauerfall im November 1989 wird er zwangsausgebürgert. Er sitzt in einem Sonderzug gen Westen, während hinter ihm ein System zusammenbricht, das ihn eigentlich brechen wollte.

Wie ein kirchlicher Sozialarbeiter die Treuhand überzeugte

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In den Wirren der Nachwendezeit, als viele Betriebe im Osten stillstanden, herrschte in Leisnig eine bedrückende Stille. Die Treuhand hatte das Urteil über die Spielzeugfabrik gefällt, und mit der Abwicklung verloren nicht nur die regulären Angestellten ihre Arbeit. Besonders hart traf es jene, die auf den geschützten Plätzen tätig waren.

Ein engagierter Sozialarbeiter der Kirche sah in den verlassenen Hallen kein Industriedenkmal, sondern eine Zukunft für hunderte Menschen. Die kleine Tagesstätte mit ihren zwölf Plätzen reichte längst nicht mehr aus, um den Bedarf in der neuen Realität zu decken. Der Plan war riskant: Man wollte nicht neu bauen, sondern Bestand nutzen.

Der Kaufpreis von 300.000 Mark stellte eine enorme Hürde dar, doch die Lösung war so ungewöhnlich wie die Zeit selbst. Das Geld stammte aus dem beschlagnahmten Vermögen der SED, das nun für soziale Investitionen beantragt werden konnte. Es war eine Ironie, dass Mittel, die das System stützten, nun den Grundstein für Neues legten.

Mit weiteren 800.000 D-Mark Investition wurden die maroden Räume saniert und angepasst. Wo früher Holzspielzeug für den Export gefertigt wurde, entstand Schritt für Schritt eine moderne Werkstatt. Was mit 60 Plätzen begann, wuchs über die Jahre zu einem Verbund mit fast 300 Beschäftigten an drei Standorten an.

Auch in Roßwein zeigte sich dieser pragmatische Geist, als ein altes Krankenhaus leerstand. Die Vision eines Pflegeheims scheiterte zunächst an der Bausubstanz, doch statt aufzugeben, riss man ab und baute neu. Die kirchliche Sozialarbeit, geprägt von jahrelanger Improvisationskunst, traf hier hart auf die ökonomischen Zwänge des Westens.

Der Fokus lag dabei nie auf lautem Protest auf der Straße, sondern auf stiller Arbeit in Fachgremien. Ob bei der Umstrukturierung von Polikliniken oder der Einrichtung von Beratungsstellen für Verschuldete – es ging darum, das soziale Netz neu zu knüpfen. Die Runden Tische ersetzten die alten Hierarchien der Funktionäre.

„Das alte Kunststück der Zersetzung“ – Eklat bei Stasi-Podium in Berlin-Mitte

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Berlin – Es sollte ein Heimspiel für die „Ehemaligen“ werden, doch es endete im offenen Schlagabtausch. In der Ladengalerie der Tageszeitung Junge Welt in der Torstraße 6 trafen am Abend des 23. August 2012 zwei Welten aufeinander, die unvereinbarer nicht sein könnten: Die bürgerliche DDR-Opposition und der Apparat, der sie einst bekämpfte.

Was als Vortrag eines ehemaligen Vernehmungsoffiziers der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen geplant war, kippte gegen 19:30 Uhr, als die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld das Wort ergriff.

Ein Abend unter „Kameraden“
Der Veranstaltungsort war mit Bedacht gewählt. Die Räume der Jungen Welt gelten als Rückzugsort für jene, die das Ende der DDR bis heute nicht verwunden haben. Das Publikum: überwiegend ältere Herren, Nicken bei den Ausführungen des Referenten, Herrn Kirstein. Sein Thema: Die Deutungshoheit über die Geschichte von Hohenschönhausen.

Seine These, vereinfacht: Die Gedenkstätte und die Opferverbände würden übertreiben, Fakten verdrehen, Legenden stricken.

Der Moment der Konfrontation
Doch in der anschließenden Fragerunde saß Vera Lengsfeld. Die ehemalige Bundestagsabgeordnete und prominente DDR-Dissidentin war nicht gekommen, um zuzuhören, sondern um zu widerlegen.

Die Szenerie nahm schnell bizarre Züge an. Während der Ex-Offizier vorne versuchte, die kühle, bürokratische Autorität des Vernehmers aufrechtzuerhalten, konterte Lengsfeld aus dem Publikum heraus mit einer Schärfe, die Jahrzehnte der Unterdrückung widerspiegelte.

„Halten Sie doch einfach mal die Klappe“, herrschte der Referent sie an einem Punkt an – ein Tonfall, der im Saal beklemmende Erinnerungen an Verhörsituationen weckte.

Der Streit um die „Strahlenkanonen“
Zentraler Punkt des Streits war der Vorwurf der Desinformation. Kirstein hatte Lengsfeld unterstellt, sie würde behaupten, in Hohenschönhausen sei mit „Strahlenkanonen“ auf Häftlinge geschossen worden – eine Taktik, um Opfer als unglaubwürdig oder hysterisch darzustellen.

Lengsfeld wies dies empört zurück: „Herr Kirstein hat mit seinem netten Video den Beweis erbracht, dass ich das niemals gesagt habe, sondern das Gegenteil.“ Sie warf dem Referenten vor, gezielt Desinformation zu betreiben. „Er nennt scheinbare Fakten und verdreht sie im nächsten Satz“, so Lengsfeld. „Das ist das alte Kunststück der Stasi-Leute: Verdrehung, Zersetzung, Demagogie.“

Wasserzellen und Semantik
Besonders hitzig wurde die Debatte beim Thema Folter. Lengsfeld führte Wasserzellen und Dunkelhaft an – auch für Minderjährige in Torgau. Der Ex-Offizier versuchte, sich auf formale Zuständigkeiten zurückzuziehen: Er differenzierte penibel zwischen dem sowjetischen NKWD (dem Vorgänger) und dem MfS, um Lengsfeld Ungenauigkeiten nachzuweisen.

„Wenn Herr Kirstein heute daraus macht, ich hätte gesagt, die drei [Opfer] wären in Hohenschönhausen gewesen, ist das wieder eine Lüge“, stellte Lengsfeld klar. Sie habe sehr wohl zwischen den Lagern unterschieden. Es war ein Kampf um Details, bei dem es eigentlich um das Ganze ging: Die Anerkennung des Leids.

Fazit eines verstörenden Abends
Gegen Ende der Veranstaltung wirkte der Referent in der Defensive. Er versprach, das Videomaterial zu prüfen und eine Zusammenstellung der Widersprüche zu liefern. Doch der Versuch, die Geschichte der DDR-Haftanstalten umzuschreiben und zu verharmlosen, war an diesem Abend durch die physische Präsenz eines Opfers gestört worden.

Als das Publikum die Torstraße verließ, blieb der Eindruck einer tief gespaltenen Erinnerungskultur. Für die einen war es eine Störung, für die anderen ein notwendiger Akt des Widerstands gegen das Vergessen.

Kerstin Kuzia: „Bloß nicht nach Torgau“

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Es beginnt mit einer Fahrt ins Ungewisse. Kerstin Kuzia sitzt im Barkas B1000, isoliert von der Außenwelt. Der Gedanke, dass dies alles nur eine Inszenierung sei, hält sich hartnäckig. Eine bloße Abschreckung, glaubt sie, eine Runde um den Block, um dann wieder ins gewohnte Heim zurückzukehren. Die jugendliche Hoffnung klammert sich an die Vorstellung, dass es diesen Ort für sie real gar nicht geben kann.

Doch dann taucht das gelbe Ortsschild auf: Torgau. Ein unscheinbares Stück Blech an der Landstraße, das die Realität schlagartig verändert. In diesem Moment weicht die Hoffnung einer inneren Starre. Es ist nicht mehr nur eine Drohung, sondern physische Gegenwart. Bis heute löst dieser Name, dieses Schild, ein Gefühl der Beklemmung aus, das rationale Gedanken verdrängt und den Körper erstarren lässt.

Der Wagen passiert die Schleuse. Das metallische Quietschen der schweren Stahltore brennt sich tief in das akustische Gedächtnis ein. Es ist das Geräusch des endgültigen Einschlusses. Hohe Mauern, vergitterte Fenster, fernes Hundegebell. Drinnen herrscht eine andere Ordnung. Befehle ersetzen Gespräche. „Grundstellung“ heißt die erste Anweisung, eine Körperhaltung, die den Jugendlichen aus der Schule vertraut ist.

Über das Innere dieses Ortes wusste draußen kaum jemand etwas Konkretes. Wer entlassen wurde, schwieg. Eine unterschriebene Verpflichtung und die Angst vor der Rückholung versiegelten die Lippen der Jugendlichen bis zum 21. Lebensjahr. Torgau war ein Mythos der Angst, genährt durch das Verstummen derer, die zurückkehrten. Man sah die Veränderung in ihren Augen, doch Worte gab es dafür nicht.

Im Besucherraum stehend, fällt der Blick durch die Gitterstäbe nach draußen. Der Erzieher aus dem vorherigen Heim übergibt wortlos die Papiere und geht. Als der Transporter vom Hof rollt, verschwindet die letzte Verbindung zur vertrauten Welt. Es gibt keinen Abschied, keine Erklärung, keine Rechtfertigung. Nur das Gefühl, dass die eigene Biographie an diesem Punkt bricht und etwas Neues, Dunkles beginnt.

Was bleibt, ist die Stille nach dem Motorengeräusch. Die Schultern sacken nach unten, äußerlich in strammer Haltung, innerlich resigniert. Es ist der Moment der totalen Verfügbarkeit für ein System, das auf Brechung ausgelegt ist. Die Erinnerung an diese Ankunft ist keine Geschichte von Rebellion, sondern eine leise Chronik des Ausgeliefertseins, die auch Jahrzehnte später noch in den Betroffenen nachhallt.

Kampfzone Bordstein: Der schwierige Abschied von den DDR-Idolen

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Wer im Jahr 2025 durch Ostdeutschland fährt, begegnet ihnen noch immer allerorten: Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Namen der Gründerväter und Märtyrer der DDR keineswegs aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Für Evelyn Zupke, die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, ist dieser Zustand ein anhaltendes Ärgernis. „35 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte keine Straße mehr nach Lenin, Otto Grotewohl oder Wilhelm Pieck benannt sein“, fordert sie unmissverständlich. Eine Straßenbenennung sei die höchste Ehrung, die ein Gemeinwesen zu vergeben habe – und diese dürfe nicht jenen zuteilwerden, die für das Leid tausender Opfer stünden.

Doch der Appell aus Berlin verhallt in der Provinz oft ungehört oder provoziert gar Widerstand. Der Historiker Hubertus Knabe konstatiert nüchtern, dass die DDR über ihre Straßennamen in der ostdeutschen Provinz schlicht „weiterlebt“. Dabei geht es längst nicht mehr nur um ideologische Überzeugungen. Der Streit um die Straßenschilder ist zu einem Stellvertreterkrieg um ostdeutsche Identität, Deutungshoheit und ganz pragmatische Sorgen geworden.

Ein Blick nach Heidenau in Sachsen illustriert die ganze Widersprüchlichkeit der Debatte. Dort beantragte ausgerechnet die AfD-Fraktion die Umbenennung der Ernst-Thälmann-Straße – mit der Begründung, Thälmann sei ein „Gewaltherrscher“ und Wegbereiter des Stalinismus gewesen. Die Linke hingegen verteidigte den Namen vehement und verwies auf Thälmanns Rolle als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. In der Bevölkerung verfing jedoch ein ganz anderes Argument: die Kosten. Anwohner fürchteten die Gebühren für neue Ausweise und die Änderung von Fahrzeugpapieren, Gewerbetreibende sorgten sich um ihre Corporate Identity. Das Ergebnis: Trotz eines ursprünglichen Ratsbeschlusses zur Umbenennung wurde das Vorhaben durch Bürgerproteste und formale Hürden faktisch gestoppt.

Die juristische Lage ist dabei eigentlich eindeutig. Anwohner haben kein „Vetorecht“ gegen neue Adressen. Verwaltungsgerichte haben wiederholt bestätigt, dass die Unannehmlichkeiten einer Adressänderung zumutbar sind, wenn die Kommune entscheidet, dass ein Namensgeber nicht mehr ehrungswürdig ist; die Vergabe von Hausnummern und Straßennamen dient primär der Ordnung und nicht dem Interesse des Anwohners an Beständigkeit. Doch Politik ist mehr als Rechtsprechung. In vielen ostdeutschen Kommunen wird der Vorstoß zur Umbenennung als „Besserwisserei“ aus dem Westen oder als Tilgung der eigenen Lebensgeschichte empfunden. Dieser „Ost-Trotz“ schützt oft auch jene Namen, die historisch schwer belastet sind. Ein Rentner aus Sangerhausen brachte es auf den Punkt: „Das gehört dazu, wer weiß, wie sie die Straßen dann nennen“.

Zwischen der radikalen Tilgung und dem stillschweigenden Beibehalten suchen Städte wie Potsdam und Leipzig daher nach einem dritten Weg: der Kontextualisierung. Statt Schilder abzuschrauben, werden sie ergänzt. In Potsdam beschloss die Stadtverordnetenversammlung, umstrittene Straßennamen wie die „Walter-Klausch-Straße“ mit Zusatzschildern zu versehen, die historische Einordnungen bieten. Auch in Leipzig und Landau setzt man auf Erklärung statt Abriss, um die Diskussion zu befrieden und gleichzeitig aufzuklären.

Dieser Ansatz der „kommentierten Stadt“ könnte der Ausweg aus der Sackgasse sein. Er belässt den Anwohnern ihre Adresse, nimmt der Benennung aber ihren ehrenden Charakter und wandelt das Straßenschild in einen „Stolperstein im Kopf“ um. Denn eines zeigt die Debatte der Jahre 2024 und 2025 deutlich: Das bloße Ausradieren von Namen löscht die Geschichte nicht aus – es macht sie oft nur unsichtbar, ohne sie verarbeitet zu haben.

Zwischen Albtraum und Alltag: Die zweite Generation der DDR

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Der Vater träumt immer wieder denselben Albtraum. Er rennt eine Treppe am Bahnhof hoch, oben fährt die S-Bahn ein, hinter ihm dröhnende Schritte. Er kommt nicht vorwärts, schwebt über den Stufen, die Flucht misslingt. Dann das Aufwachen, schweißgebadet, Schreie in der Nacht. Das Kind im Nebenzimmer hört alles, liegt wach und spürt die pure Angst, die gar nicht die eigene ist, sich aber tief in das junge Bewusstsein eingräbt.

Jahre später erzählt eine Tochter von den Besuchen im Gefängnis Hoheneck. Eine Stunde Zeit, getrennt durch Tische. Die Mutter trägt graue Kleidung mit gelben Streifen, das Gesicht ist fahl und fremd. Man spricht über Schulnoten und das Wetter, weil über Haftbedingungen oder Politik nicht geredet werden darf. Blicke tauschen hastig das aus, was ungesagt bleiben muss, während die Aufseher jedes Wort protokollieren.

Tausende Familien in der DDR wurden durch politische Inhaftierung zerrissen. Kinder kamen in Heime oder zu Verwandten, oft ohne jede Erklärung. Diese „zweite Generation“ wuchs mit dem Trauma auf – sei es durch das direkte Miterleben der Verhaftung an Geburtstagen oder durch die diffuse Last des Schweigens, die sich wie ein unsichtbarer Nebel über den familiären Alltag legte und Normalität simulierte.

Selbst nach der Flucht in den Westen blieben viele dieser Familien fremd. Man baute Häuser am Ortsrand, fiel auf. Den Kindern wurde früh eingeimpft, bloß nicht negativ aufzufallen. Gute Noten waren kein Selbstzweck, sondern ein Schutzschild gegen die kritischen Blicke der Nachbarschaft. Man musste funktionieren, um die Eltern, die so viel gelitten hatten, nicht zusätzlich zu belasten oder zu enttäuschen.

Es entsteht ein stiller Pakt in den Wohnzimmern. Fragen verstummen, weil man spürt, dass Antworten Schmerz auslösen. Kinder werden zu inneren Richtern ihrer Eltern – schwankend zwischen Wut über die für Ideale riskierten Lebensentwürfe und Bewunderung für deren Mut. Ein innerer Konflikt, der oft erst Jahrzehnte später, im eigenen Erwachsenenleben, Worte findet und Raum greifen darf.

Vielleicht ist es diese Sprachlosigkeit, die am längsten nachhallt. Das Gefühl, dass die eigene Geschichte nirgendwo Platz hat, weil sie zu komplex für einfache Schubladen ist. Erst wenn das Schweigen bricht, beginnt das Verstehen – nicht als Anklage, sondern als vorsichtige Annäherung an Menschen, die Geschichte nicht nur erlebt, sondern erlitten haben und deren Schatten lang sind.

Der Riss von Jena: Wie ein Novemberabend 1976 das Schweigen brach

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Am 17. November 1976 kippt im Jenaer Klub der Intelligenz die Stimmung, als der Schriftsteller Jurek Becker während einer Lesung über die Ausbürgerung Wolf Biermanns spricht. Was als kultureller Abend beginnt, entwickelt sich durch spontane Solidaritätsbekundungen zu einer politischen Debatte, die der Veranstalter abrupt beendet.

Zigarettenrauch hängt schwer in der Luft, Teegläser klirren leise auf dem Tisch. In einer Jenaer Privatwohnung sitzen am Abend des 16. November 1976 zwei Dutzend junge Menschen zusammen. Der Fernseher läuft, die Tagesschau flimmert in Schwarz-Weiß. Ungläubige Blicke treffen sich, als die Nachricht von Wolf Biermanns Ausbürgerung den Raum füllt. Die Stille danach ist greifbar, körperlich spürbar und voller Fragen, die noch keine Richtung haben.

Einen Tag später im Klub der Intelligenz. Der Saal ist voll, viele junge Gesichter in Parkas und Pullovern. Jurek Becker sitzt auf dem Podium. Man erwartet Literatur, doch man bekommt Zeitgeschichte. Als Becker die Protestnote der Berliner Künstler erwähnt, wird das Unausgesprochene laut. Ein Raunen geht durch die Reihen, wird zu einer offenen Debatte. Der offizielle Veranstalter bricht nervös ab, das Saallicht geht an, die Gäste werden nach Hause geschickt.

In der evangelischen Jungen Gemeinde Stadtmitte gärt es weiter. Man schreibt den Offenen Brief der Künstler ab, sammelt Unterschriften, will die Entscheidung oben nicht hinnehmen. Doch der Staat hört mit. Ein Spitzel in den eigenen Reihen sorgt dafür, dass die Namen auf den Listen direkt bei der Staatssicherheit landen. Noch in der Nacht zum 19. November schlägt die Staatsmacht zu. Viele der Beteiligten werden verhaftet.

Doch die Stille, die erzwungen werden soll, tritt nicht ein. Stattdessen weitet sich der Kreis. Plötzlich solidarisieren sich Menschen, die bisher nichts mit der Szene zu tun hatten: Studenten, Schüler, Konfessionslose. Matthias Domaschk und andere sammeln Geld für Anwaltskosten. Solidarität wird zur praktischen Handlung, die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen in der Stadt verschwimmen zusehends.

Der Blick geht auch über die Mauer. In West-Berlin bildet sich ein Schutzkomitee, initiiert als Reaktion auf die Verhaftungen. Prominente wie Max Frisch oder Heinrich Böll schauen nach Jena. Postkartenaktionen sorgen dafür, dass die Namen der Inhaftierten nicht im bürokratischen Dunkel der DDR-Justiz verschwinden. Die Isolation der Gefangenen wird durch diese externe Aufmerksamkeit zumindest symbolisch durchbrochen.

Der Versuch der Stasi, die Opposition durch Härte zu ersticken, bewirkt das Gegenteil. Die Repression erzeugt keine Ruhe, sondern eine neue Form der Entschlossenheit, die bis in die achtziger Jahre hineinreichen wird. In den Wohnzimmern und Gemeinderäumen von Jena bleibt das Gefühl zurück, dass Rückzug keine Option mehr ist. Ein Riss ist entstanden, der sich nicht mehr kitten lässt.