In der Nacht vom 31. Dezember 1989 auf den 1. Januar 1990 herrschte in der DDR ein Zustand zwischen Agonie und Anarchie, der so nie wiederkehren sollte.
Es gibt Momente in der Geschichte, in denen die Zeit stillzustehen scheint, während sich die Ereignisse überschlagen. Der 31. Dezember 1989 war ein solcher Moment. Eingekeilt zwischen dem Fall der Mauer im November und der noch fernen staatlichen Einheit im Oktober des Folgejahres, markierte diese Silvesternacht ein Vakuum. Die Deutsche Demokratische Republik existierte völkerrechtlich noch, doch ihre Autorität hatte sich in den Wochen zuvor faktisch aufgelöst. Wer an diesem Abend auf die Straßen ging, ob in Berlin, Leipzig oder Dresden, betrat einen Raum, in dem die alten Regeln nicht mehr galten und die neuen noch nicht geschrieben waren.
In Berlin verdichtete sich diese Situation am Brandenburger Tor zu einem fast surrealen Szenario. Rund 500.000 Menschen drängten sich in den Bereich, der Jahrzehnte lang Todesstreifen war. Es war eine physische Aneignung von Geschichte. Menschen kletterten auf die Mauerkrone, halfen einander hinauf, reichten Sektflaschen weiter. Doch die Bilder, die später um die Welt gingen – der singende David Hasselhoff oder die ausgelassene Menge –, verdeckten oft die Ambivalenz jener Stunden. Es war nicht nur ein Fest der Freiheit, sondern auch eine Nacht der gefahrvollen Anarchie. Die Volkspolizei hatte sich weitgehend zurückgezogen, verunsichert und ohne klare Befehle, um nicht als „Büttel der SED“ die Stimmung zum Kippen zu bringen.
Diese Zurückhaltung der Ordnungsmächte hatte Folgen. Übermütige kletterten bis zur Quadriga hinauf und beschädigten das Wahrzeichen schwer, die DDR-Fahne wurde unter Jubel heruntergerissen. Tragischerweise führte die unkontrollierte Masse auch zu einem tödlichen Unfall, als ein Gerüst für eine Videoleinwand unter der Last der Kletternden zusammenbrach; ein Mann starb, über 135 Menschen wurden verletzt, während Rettungskräfte in der Menge stecken blieben. Es war ein Tanz auf dem Vulkan, bei dem die Euphorie des historischen Augenblicks die realen Gefahren oft überstrahlte.
Doch der Rausch dieser Nacht war nicht nur politisch, er war auch ökonomisch unterfüttert. Das „Begrüßungsgeld“ von 100 D-Mark, dessen Barauszahlung zum Jahresende eingestellt wurde, führte in den Tagen vor Silvester zu einem letzten großen Ansturm auf die Auszahlungsstellen. Milliarden an D-Mark flossen in den Westen und kamen in Form von Konsumgütern, vor allem aber als Feuerwerk, zurück in den Osten. Die akustische und visuelle Kulisse in Ost-Berlin und anderen Städten war geprägt von westdeutscher Pyrotechnik – eine Art nachholende Explosion nach Jahren der Mangelwirtschaft, in denen Feuerwerk oft reglementiert oder für den Export bestimmt war. Hinter diesem Konsum verbarg sich aber auch die Angst vor der Zukunft: Gerüchte über ungünstige Umtauschkurse ließen viele Menschen ihr Geld lieber ausgeben, als es auf den Sparkonten verfallen zu lassen.
Abseits der medialen Aufmerksamkeit in Berlin vollzog sich in der Provinz eine vielleicht leisere, aber ebenso tiefgreifende Revolution. Auf dem Brocken im Harz, dem militärischen Sperrgebiet und Sehnsuchtsberg vieler Norddeutscher, wanderten Tausende durch den Schnee. Es war eine Rückeroberung der Heimatnatur. In Orten wie Mödlareuth oder an der Werrabrücke bei Vacha feierten Nachbarn, die 40 Jahre lang getrennt waren, eine Wiederbegegnung, die weniger von Party-Lärm als von tiefer Emotionalität geprägt war.
Während das Volk feierte, kämpfte die politische Führung der DDR unter Hans Modrow um das physische Überleben des Staates. Modrow selbst verbrachte die Tage vor dem Fest nicht bei diplomatischen Empfängen, sondern in Kraftwerken und Kohlengruben, um die Energieversorgung über die Feiertage zu sichern. Ein Anruf aus Moskau Anfang Dezember hatte ihm bereits klargemacht, wie fragil die Lage war: Die Sowjetunion fürchtete den Kontrollverlust. Die DDR-Regierung war in dieser Nacht nur noch Verwalterin des Mangels, während die Bürger bereits Tatsachen schufen.
Diese Silvesternacht war somit weit mehr als nur ein kalendarischer Wechsel. Sie war der psychologische Abschied von der DDR, lange bevor die Verträge unterzeichnet waren. Am Morgen des 1. Januar 1990, zwischen den Resten der westdeutschen Böller und den Scherben der Sektflaschen, begann die eigentliche Arbeit der Transformation. Die Party war vorbei, die Realität der Einheit mit all ihren Herausforderungen wartete.


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