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Der Traum vom Dritten Weg – und warum er keine Chance hatte

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Es war ein seltsam klarer Winter, damals, Ende 1989 in Jena. In den Räumen der evangelischen Gemeinde in der Ebertstraße saßen wir zusammen – Menschen, die vorher kaum etwas miteinander zu tun gehabt hatten. Arbeiter, Lehrer, Studenten, ehemalige Offiziere, Intellektuelle. Uns einte ein Gedanke: Es musste sich etwas ändern. Und zwar anders, als es uns beide Systeme – das zusammenbrechende sozialistische und das westliche kapitalistische – vorsetzten.

Der Begriff „Dritter Weg“ klang wie eine Verheißung. Eine Richtung, die jenseits der alten Blocklogik lag. Viele von uns glaubten an eine DDR, die sich reformieren, demokratisieren, vielleicht sogar zu einem besseren, menschlicheren Sozialismus werden könnte – einer, der die Menschen nicht gängelt, sondern mitnimmt.

Es war keine naive Träumerei, sondern ernst gemeinte Hoffnung. In den Papieren von Demokratie Jetzt oder dem Neuen Forum stand viel von Basisdemokratie, von Mitbestimmung, von sozialer Gerechtigkeit ohne Bevormundung. Selbst Intellektuelle wie Christa Wolf, Stefan Heym oder Volker Braun hatten das Gefühl, dass gerade in diesem Moment ein dritter Weg denkbar wäre – zwischen der alten Planwirtschaft und der westlichen Profitlogik.

Wir wollten eine Gesellschaft, in der das, was gut war – das Recht auf Arbeit, Kinderbetreuung, soziale Sicherheit – erhalten blieb, aber Freiheit, Meinungsvielfalt und Eigenverantwortung hinzukamen. Das war der Kern des Gedankens: ein demokratischer Sozialismus, getragen von unten.

Doch während wir noch diskutierten, wie man Betriebe demokratisch führen oder Räte wiederbeleben könnte, war draußen längst ein anderer Wind aufgekommen. Auf den Straßen riefen die Menschen „Wir sind ein Volk!“, nicht mehr „Wir sind das Volk!“. Die Mauer war gefallen, die D-Mark lockte, und das Bedürfnis nach Sicherheit, Wohlstand und endlich einem funktionierenden Alltag war stärker als alle theoretischen Modelle.

Als im März 1990 die ersten freien Volkskammerwahlen stattfanden, war der Traum schon Geschichte. Die Parteien, die sich für eine Alternative zwischen Sozialismus und Kapitalismus aussprachen, kamen auf magere Ergebnisse. Das Neue Forum, Demokratie Jetzt, die Vereinigte Linke – sie wurden zu Randnotizen in einer Welle der Wiedervereinigungseuphorie.

Ich erinnere mich gut an die Gesichter jener, die in den Runden saßen, überzeugt, dass eine andere DDR möglich sei. Sie fühlten sich bald wie Fremde im eigenen Aufbruch. Der Aufruf „Für unser Land“ sammelte über eine Million Unterschriften – beeindruckend, aber machtlos gegen die Geschwindigkeit, mit der die Realität die Visionen überholte.

Heute, mit dem Abstand von Jahrzehnten, bleibt die Frage: War der Dritte Weg von Anfang an eine Illusion? Vielleicht. Aber es war eine schöne. Eine, die wenigstens für einen Moment die Vorstellung zuließ, dass ein Staat sich neu erfinden könnte – friedlich, gerecht, solidarisch.

Vielleicht war dieser Traum notwendig, damit der Zusammenbruch nicht nur ein Ende war, sondern ein Versuch, noch einmal selbst zu denken, bevor alles übernommen wurde.
Ein kurzer Moment der Selbstbestimmung – bevor die Geschichte wieder ihren eigenen Lauf nahm.

Wie die SED im Herbst 1989 ihre Macht verlor – „Wir waren Befehlsempfänger aus Moskau“

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Wenn Günter Schabowski in seinen späten Jahren über den Herbst 1989 sprach, dann tat er das mit der Ruhe eines Mannes, der weiß, dass sich Geschichte nicht zurückspulen lässt. In einem Gespräch, das er Jahre nach dem Ende der DDR führte, blickte er auf jene Wochen zurück, in denen die Macht der SED ins Wanken geriet. Seine Worte klangen nicht nach Rechtfertigung, sondern nach Einsicht – und manchmal nach Bitterkeit.
„Wir waren Befehlsempfänger aus Moskau“, sagte er. Ein Satz, der mehr über das Ende der DDR erzählt als viele Dokumente.

Schabowski, einst Mitglied des Politbüros und enger Weggefährte Erich Honeckers, beschrieb die Stimmung in der Parteiführung im Herbst 1989 als von „tiefer Verunsicherung“ geprägt. Die Demonstrationen auf den Straßen, die Reformen Gorbatschows in Moskau, die Forderungen der Bevölkerung nach Freiheit – all das ließ ein System taumeln, das über Jahrzehnte gelernt hatte, Befehle zu empfangen, aber nie selbst Verantwortung zu übernehmen.

Er sprach offen darüber, dass die Gefahr einer „chinesischen Lösung“, also einer gewaltsamen Niederschlagung der Proteste, durchaus existierte. Doch die Partei habe dazu weder die Entschlossenheit noch die Organisation besessen. „Die Angst war groß“, so Schabowski. „Niemand wollte mehr den Befehl geben.“

Die sowjetischen Reformen unter Michail Gorbatschow trafen die SED ins Mark. Gorbatschow sprach von Offenheit und Demokratie, während in Ost-Berlin noch der alte Ton der Parteidisziplin herrschte. Schabowski erkannte, dass die DDR damit ihre letzte Rückendeckung verlor: „Wir konnten nicht gegen unser eigenes Volk vorgehen, wenn Moskau zur Mäßigung riet.“ Die DDR, jahrzehntelang stolz auf ihre angebliche Eigenständigkeit, stand plötzlich allein da.

Die Menschen spürten diese Unsicherheit. Sie merkten, dass die Führung zögerte – und sie gewannen Mut. Schritt für Schritt, Woche für Woche, bis das System unter der Last seiner eigenen Lähmung zusammenbrach. Schabowski nannte das später den Punkt, an dem das Schicksal der SED besiegelt war.

Von diesem Mann blieb in der öffentlichen Erinnerung vor allem der Moment am 9. November 1989 – der Abend, an dem er mit fahrigen Worten auf einer Pressekonferenz die Maueröffnung auslöste. Doch wer Schabowskis spätere Reflexionen kennt, erkennt, dass dieser Augenblick nur die sichtbare Folge eines viel früheren Zusammenbruchs war: dem inneren Zerfall einer Macht, die sich selbst nicht mehr glaubte.

Günter Schabowski starb am 1. November 2015 in Berlin im Alter von 86 Jahren. Er war Diabetiker, lebte nach mehreren Infarkten und Schlaganfällen zuletzt in einem Berliner Pflegeheim. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Waldfriedhof Dahlem.
Ein Mann, der die Macht verkündete und später über ihren Verlust sprach – und vielleicht gerade darin so menschlich blieb.

Erich Honecker – Rücktritt oder Absetzung? Die Wahrheit hinter dem 18. Oktober 1989

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Offiziell trat Erich Honecker am 18. Oktober 1989 zurück – aus gesundheitlichen Gründen. So lautete die Formel, mit der die DDR-Führung versuchte, den politischen Umbruch zu kaschieren. Doch in Wahrheit war es der Moment, in dem das scheinbar unerschütterliche Machtgefüge der SED in sich zusammenbrach.

Im Protokoll liest sich alles korrekt, beinahe würdevoll. Honecker bittet um Entbindung von seinen Ämtern, die Partei dankt ihm, Beifall wird vermerkt. Doch hinter den Türen des Politbüros spielte sich ein Machtakt ab, der den jahrzehntelangen Stillstand der DDR abrupt beendete. Es war Willi Stoph, der die Worte sprach, die den Bruch besiegelten: „Erich, es geht nicht mehr. Du musst gehen.“ Damit begann das Ende einer Ära – und das Eingeständnis, dass die SED-Führung selbst nicht mehr an die eigene Unfehlbarkeit glaubte.

Die Straße hatte längst gesprochen: Hunderttausende forderten Reformen, Ausreisewillige füllten Züge und Botschaften, das Land lief leer. In dieser Lage wurde der Rücktritt zur politischen Überlebensstrategie einer Partei, die das Volk längst verloren hatte. Honeckers Sturz war kein Sieg der Vernunft, sondern eine verzweifelte Geste, um Zeit zu gewinnen.

Dass Honecker bis zuletzt betonte, „nicht gestürzt, sondern zurückgetreten“ zu sein, ist fast tragisch. Es zeigt, wie sehr er gefangen blieb in der eigenen Rhetorik, in einem System, das sich selbst nicht mehr glaubte. Die Wahrheit ist einfacher und härter: Der Mann, der einst alles bestimmte, wurde von den eigenen Genossen entmachtet – im Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten.

Sein Nachfolger Egon Krenz sollte die Wende managen, doch er kam zu spät. Der 18. Oktober 1989 markierte nicht nur den Rücktritt eines Generalsekretärs, sondern das Ende der DDR, wie sie sich selbst verstand.

Wie mutige Bürger am 7. Mai 1989 den größten Wahlbetrug der DDR aufdeckten

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Freie Wahlen sind das Thermometer der Demokratie. Doch im späten Frühjahr 1989 zeigte dieses Thermometer in der DDR nur einen künstlich erzeugten Fieberwert. Das Regime sorgte selbst dafür, dass die Anzeige stabil blieb – bei nahezu hundert Prozent Zustimmung. Der 7. Mai 1989 aber wurde zum Tag, an dem das Fieberthermometer plötzlich anfing, zu flackern.

Denn zum ersten Mal beschlossen Bürgerinnen und Bürger, das zu tun, was ihnen das Gesetz eigentlich schon immer erlaubte: die Auszählung der Stimmen selbst zu beobachten. Es war ein kleiner, aber mutiger Schritt – und er veränderte das Land.

Wer 1989 an der Stimmauszählung teilnahm, riskierte mehr als Missgunst. Es war ein Schritt aus der Deckung, mitten hinein in den Blick des Staates. Ein Zeitzeuge erzählt, wie er am Wahltag seine Nachbarn überreden wollte, mit ins Wahllokal zu kommen. Doch niemand wagte es. „Die hatten Angst, dass es für sie Nachteile geben könnte“, sagt er. Also ging er allein – und blieb bis zur letzten Stimme. Die Angst der Vielen machte den Mut der Wenigen umso sichtbarer.

Die Bürgerrechtler, die diese Aktion planten, waren keine Chaoten, sondern Juristen in eigener Sache. Sie studierten das Wahlgesetz, markierten Paragraphen, kannten jede Definition – selbst die einer gültigen „Nein-Stimme“. Und sie taten das Undenkbare: Sie erstatteten Anzeige wegen Wahlfälschung. § 211 des DDR-Strafgesetzbuches war ihre Waffe – eine ironische Pointe der Geschichte, dass der Staat am Ende durch seine eigenen Gesetze entlarvt wurde.

Der Beweis gelang mit Bleistift und Taschenrechner. In Berlin-Weißensee standen Beobachter in 65 von 67 Wahllokalen. Sie notierten die echten Zahlen, verglichen sie mit den offiziellen. Das Ergebnis: Statt 98 % Zustimmung nur etwa 90 %. Eine Abweichung, klein genug, um glaubwürdig, groß genug, um die Lüge sichtbar zu machen.

Als ein Bürgerrechtler Anzeige erstattete, sagte ihm die Staatsanwältin kühl: „Die Wahl ist dreimal geprüft worden – also kann sie nicht gefälscht sein.“ Absurder kann man die Logik einer Diktatur kaum auf den Punkt bringen. Doch die Wahrheit war längst nicht mehr aufzuhalten. Der 7. Mai wurde zum symbolischen Datum. Monat für Monat trafen sich Menschen zu Protesten – immer am siebten. Es war der Anfang vom Ende.

Wer damals dabei war, weiß, was Freiheit bedeutet. Eine Stimme, die gezählt wird, ist mehr als ein Kreuz auf Papier – sie ist ein Stück Würde. Die Wahlfälschung von 1989 war der Moment, in dem Menschen in der DDR begriffen: Ihre Stimme zählt, wenn sie dafür einstehen.

Was aus den DDR-Bürgerrechtlern wirklich wurde

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Die Bilder der friedlichen Revolution von 1989 sind Teil des kollektiven Gedächtnisses: Menschen auf der Mauer, die für Freiheit und Demokratie auf die Straße gehen. Doch was geschah mit den zentralen Akteuren dieses historischen Moments, den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern? Ihre Wege nach der Wiedervereinigung waren komplexer, schmerzhafter und überraschender, als es die idealisierte Rückschau oft vermuten lässt.

1. Die überraschende Wahrheit: Viele wollten die DDR reformieren, nicht abschaffen
Dies offenbart ein grundlegendes, im Westen oft übersehenes Paradoxon der friedlichen Revolution: Viele ihrer Architekten wollten ihre Heimat retten, nicht sie auflösen. Für die Aktivisten der ersten Stunde war das primäre Ziel nicht die deutsche Einheit, sondern die Schaffung einer offeneren, besseren DDR. Sie wollten, wie Antje Hermenau es beschrieb, „das Beste von beiden“ Systemen nehmen und etwas Neues schaffen. Ihr Verfassungsentwurf vom Runden Tisch enthielt visionäre Ideen wie die Verankerung des Rechts auf Wohnen und des Rechts auf Arbeit.
Diese Perspektive ist entscheidend, um die anschließende Enttäuschung zu verstehen. Im schnellen Sog der Wiedervereinigung ging dieser Impuls unter. Die brutale Realität dieser Niederlage offenbarte sich am Wahlabend des 18. März 1990: Die vereinigten Bürgerbewegungen, die die Revolution getragen hatten, erhielten gerade einmal 5 Prozent der Stimmen. „Das große Thema Demokratie wurde abgelöst von dem großen Thema deutsche Einheit“, was bei vielen das Gefühl hinterließ, um die Früchte ihrer Revolution betrogen worden zu sein. Der Schriftsteller Volker Braun fasste dieses Gefühl des Verlusts im August 1990 in Worte:

Was ich niemals besaß wird mir entrissen was ich nicht lebte werde ich ewig missen Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle

2. Der hohe persönliche Preis: Vom Burnout bis zum politischen Rückzug
Der schnelle Verlust dieser Gründungsideale im Sog der Wiedervereinigung führte nicht nur zu politischer Enttäuschung, sondern stürzte viele Aktivisten in eine Form von Sisyphusarbeit, die einen immensen persönlichen Tribut forderte. Das unermüdliche Engagement war nicht nur ein Kampf in politischen Gremien, sondern auch ein Ringen mit den Folgen eines kollabierenden Systems. Die sogenannten „Umbruchsjahre“ waren für viele in Wahrheit „Zusammenbrüche“, wie es Matthias Platzeck formulierte. Es war eine Zeit, in der Menschen ihren „eigenen Betrieb abzureißen“ hatten und zwei Millionen junge Leute den Osten verließen.

Dieser gesellschaftliche Druck hinterließ tiefe persönliche Spuren. Platzeck selbst erlitt einen Hörsturz und später einen Schlaganfall. Antje Hermenau litt unter Magengeschwüren und zermürbenden Machtkämpfen. Diese Geschichten korrigieren das idealisierte Bild des Aktivismus und zeigen die menschliche Dimension hinter den Kulissen. Als Matthias Platzeck nach seinem Schlaganfall im Krankenhaus lag, sagte seine Tochter einen Satz, der die Realität auf den Punkt brachte: „wenn du es jetzt nicht merkst dann weiß ich nicht wann du es merkst“.

3. Zersplitterte Wege: Warum aus einstigen Verbündeten politische Gegner wurden
Die Opposition in der DDR war nie ein homogener Block, und nach 1990 traten diese Unterschiede umso deutlicher zutage. Während Katrin Göring-Eckardt eine beständige Karriere in der Bundespolitik machte, zog sich Antje Hermenau desillusioniert zurück und begründete ihren Abschied aus der Politik mit der scharfen Frage: „was soll ich denn als 50-jährige mein Leben meine kostbare Lebenszeit mit einem Kindergarten verplämpern“.

Andere vollzogen eine radikale Neuorientierung. Vera Lengsfeld, einst bei den Grünen, verließ die Partei wegen des aus ihrer Sicht zu nachgiebigen Umgangs mit der PDS. Ihr Austritt war kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Exodus von sieben prominenten Bürgerrechtlern. Später trat sie wegen Angela Merkels Migrationspolitik aus der CDU aus und kritisiert heute den „politischen Mainstream“ in rechtskonservativen Medien. War dieser Zerfall unausweichlich, ein bloßes Symptom der neugewonnenen Pluralität, oder zeugt er von einem tieferen Scheitern, die vielfältigen oppositionellen Strömungen in einer gemeinsamen demokratischen Vision zu bündeln?

4. Ein neuer, alter Kampf: Die Demokratie verteidigen
Diese ideologische Zersplitterung der einstigen Oppositionsbewegung erklärt auch die fundamental unterschiedlichen Diagnosen und Lösungsansätze für die gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart. Angesichts der Polarisierung und des Erstarkens der AfD sehen einige den Kern ihrer Arbeit von 1989 erneut in Gefahr. Frank Richter, der als Direktor der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung den Dialog mit PEGIDA-Anhängern suchte, was ihm den Vorwurf einbrachte, ein „Pegida-Versteher“ zu sein, kämpft heute als SPD-Politiker gegen die gesellschaftliche Spaltung.

Dabei entbehrt es nicht einer Ironie, dass die Sorgen vieler Ostdeutscher im Westen erst dann ernsthaft Gehör fanden, „als die AfD immer bessere Umfragewerte hatte“, wie Matthias Platzeck feststellt. Er analysiert, dass es versäumt wurde, den Ostdeutschen „Haltegriffe“ zu geben, das Gefühl, „ihr habt euer Leben auch nicht umsonst gelebt“. Die Dringlichkeit des neuen Kampfes bringt Frank Richter mit einem eindringlichen Appell auf den Punkt:
ich habe keine Angst vor der Überfremdung von außen ich habe Angst vor der Entmenschlichung von innen

Die Lebenswege der DDR-Bürgerrechtler waren nach 1989 vielfältiger, dornenreicher und von tieferen Brüchen gezeichnet, als es die verklärende Erinnerung wahrhaben will. Doch ihr zentrales Anliegen – das Ringen um eine offene, demokratische Gesellschaft – bleibt 35 Jahre nach dem Mauerfall von brennender Aktualität.

Ihre Geschichte wirft eine Frage auf, die heute vielleicht wichtiger ist denn je. Was bedeutet es, die Haltung der Bürgerrechtler weiterzutragen und sich, wie Matthias Platzeck es formuliert, abends sagen zu können: „ich kann damit leben was ich getan habe“?

Angst, Luxus und kalte Füße: Die geheime Parallelwelt der DDR-Führung

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Wenn wir an die Deutsche Demokratische Republik denken, entsteht vor dem inneren Auge oft das Bild eines grauen, streng kontrollierten Staates, in dem das Kollektiv über dem Individuum stand und Mangelwirtschaft den Alltag prägte. Dieses Bild ist nicht falsch, aber es ist unvollständig. Denn parallel zur Lebensrealität der Bürger existierte eine andere Welt: eine hermetisch abgeschottete Sphäre, in der die politische Elite der SED in einem goldenen Käfig aus Privilegien und Paranoia residierte.

Diese Parallelwelt, abgeschirmt durch hohe Mauern und absolute Verschwiegenheit, war ein Ort fundamentaler Widersprüche. Ein System, das offiziell Gleichheit predigte, schuf für seine Führungsriege eine exklusive Sonderversorgung, die den eigenen ökonomischen Prinzipien Hohn sprach. Doch was spielte sich wirklich hinter den Zäunen der Waldsiedlung Wandlitz und in den verborgenen Jagdrevieren der Macht ab? Dieser Essay wirft einen Blick hinter die Kulissen und enthüllt die überraschendsten und absurdesten Details eines Lebens, das untrennbar mit dem Untergang des von ihm geführten Staates verbunden ist.

1. Die Festung der Angst: Warum die Elite sich vor dem eigenen Volk versteckte
Die extreme Abschottung der DDR-Führung war nicht allein ein Ausdruck von Privilegien, sondern entsprang in erster Linie einer tief sitzenden Angst, die das Regime bis zu seinem Ende prägen sollte. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wurde das bis dahin genutzte Wohnviertel der Funktionäre in Berlin-Pankow, das sogenannte „Städtchen“, als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Die Nähe zum Volk und die offene Sektorengrenze im geteilten Berlin schufen ein Klima der Verwundbarkeit.

Die logische Konsequenz war der Bau der Waldsiedlung Wandlitz, einer nach sowjetischem Vorbild konzipierten, hermetisch abgeriegelten Wohnanlage. Hier, nördlich von Berlin, verschanzte sich das Politbüro hinter einer stark gesicherten Mauer – nicht vor einem äußeren Feind, sondern vor dem eigenen Volk. Die Motivation war primär sicherheitspolitischer Natur, wie es die Perspektive eines Insiders verdeutlicht:
das war eine Entscheidung aus der Zeit des kalten Krieges … da war das eine Sicherheitsfrage und diese Sicherheitsfrage wurde nicht neu für die DDR gelöst sondern sie wurde so gelöst wie sie in der Sowjetunion war das heißt es wohnten alle zusammen

2. Die Nachbarschaft ohne Nachbarn: Isolation selbst im goldenen Käfig
Die physische Nähe in Wandlitz führte jedoch keineswegs zu sozialer Verbundenheit; im Gegenteil, sie schuf eine Atmosphäre des Misstrauens und der Distanz. Während die Ära unter Walter Ulbricht noch als vergleichsweise „familiär“ beschrieben wurde, wich dieses Klima unter der Führung Erich Honeckers einer kalten, unpersönlichen Entfremdung. Die propagierte Kameradschaft der Genossen kollidierte mit der frostigen Realität einer Misstrauensgemeinschaft.

Die Mächtigen lebten Tür an Tür, aber nicht miteinander. Man pflegte kaum privaten Kontakt und begegnete sich eher zufällig bei staatlichen Empfängen als im Alltag der Siedlung. Der goldene Käfig förderte nicht den Zusammenhalt, sondern die atomisierte Isolation jedes Einzelnen. Wie sich ein ehemaliger Leiter der Waldsiedlung erinnert, war der Begriff der Nachbarschaft ein Widerspruch in sich:
Der Begriff Nachbarn und Waldsiedlung beißt sich man hatte keine Nachbarnsiedlung obwohl sie ja nun die großen Genossen sein wollten die dann mit Kameradschaft und ähnlichen war das so in der Waldsiedlung nicht üblich

3. Politik mit dem Jagdgewehr: Wie in der Schorfheide über das Schicksal der DDR entschieden wurde
Die Jagd in der Schorfheide war für die DDR-Elite weit mehr als ein Hobby – sie war eine politische Bühne, auf der Allianzen geschmiedet und Karrieren beendet wurden. Nirgendwo wurde dies deutlicher als bei der Entmachtung Walter Ulbrichts durch seinen Zögling Erich Honecker. Dieser nutzte gemeinsame Jagdausflüge mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew geschickt, um sich dessen Zustimmung für den Machtwechsel zu sichern. Während Ulbricht, selbst kein passionierter Jäger, seinen Gast an Honecker delegierte, besprachen diese beiden im Hochsitz die Absetzung des amtierenden Staatschefs.

So inszenierten sich die Führer des Arbeiter-und-Bauern-Staates in der Schorfheide als quasi-feudale Jagdherren, deren Tötungsexzesse in krassem Widerspruch zur proklamierten Bescheidenheit und zur Lebensrealität der Bürger standen. Die Jagdpraxis von Honecker und seinem Wirtschaftssekretär Günther Mittag war derart exzessiv, dass an einem einzigen Tag Dutzende Hirsche erlegt wurden. Beobachter sprachen von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ beim Schießen. Ein bemerkenswerter Kontrast zeigte sich beim Besuch des westdeutschen Industriellen Berthold Beitz, dessen Jagdethik die Bodyguards beeindruckte: „ein Schuss ein Schuss unsere haben eine Packung alle erschossen“.

4. Absurde Ökonomie: Wie sich die Führung eine verlustreiche Parallelwirtschaft schuf
Nirgends offenbarte sich die Realitätsferne der SED-Führung so grotesk wie in der Schaffung einer eigenen Wirtschaftsblase, die den Mangel des Landes nicht nur ignorierte, sondern aktiv verschärfte. Im sogenannten „Ladenkombinat“ in Wandlitz konnten die Politbüromitglieder Westwaren erwerben, die der Staat zuvor für teure Devisen im Ausland eingekauft hatte. Verkauft wurden diese Produkte jedoch gegen Ostmark zu einem subventionierten Kurs von 2:1. Das Ergebnis war eine ökonomische Absurdität: Mit jedem Verkauf wurde der ohnehin an Devisenmangel leidende Staat ein Stück ärmer.

Dieses „Ladenkombinat“ war mehr als nur ein Privileg; es war ein Symptom für eine Führung, die die ökonomischen Gesetze, die sie ihrem Volk aufzwang, für sich selbst außer Kraft setzte und damit den Wert der eigenen Währung untergrub. Ein weiteres Beispiel für diese unglaubliche Verschwendung war ein Geschenk von Stasi-Chef Erich Mielke an Honecker: ein Jagdobjekt in Drewitz, das für über 40 Millionen DDR-Mark errichtet wurde. Honecker jedoch, der sein einfaches Jagdhaus „Wildfang“ bevorzugte, nutzte das prunkvolle Anwesen kaum. Es stand die meiste Zeit leer – bewacht von 14 Sicherheitsleuten.

5. Die Banalität der Macht: Von speziellen Stiefelabsätzen und kalten Füßen
Hinter der Fassade der allmächtigen Staatsmänner verbargen sich oft erstaunlich banale, menschliche Züge, deren Trivialität die verzerrten Prioritäten des Systems entlarvte. So war Stasi-Chef Erich Mielke geradezu besessen davon, dass seine Jagdstiefel nur mit einer ganz bestimmten, besonders geräuscharmen Sorte von Absätzen repariert werden durften. Diese Detailversessenheit bei trivialen Dingen stand in scharfem Kontrast zur wachsenden Blindheit für die fundamentalen Probleme des Staates.

Eine andere Anekdote offenbart die unfreiwillige Komik im Aufeinandertreffen von Ost und West: Als Bundeskanzler Helmut Schmidt 1981 zu Besuch war, bekam er in Honeckers Staatskarosse vom Typ Citroën „mächtig kalte Füße“, weil die Heizung schlecht funktionierte. Die Episode war mehr als eine peinliche Panne; sie war ein Symbol für ein System, das selbst in seiner repräsentativen Spitze nicht in der Lage war, grundlegende technische Standards zu gewährleisten. Auch Honeckers Jagdhaus „Wildfang“ war ein Ort der Widersprüche: Einerseits schlicht, andererseits ausgestattet mit einem extrem teuren Nachtspeicherofen und einem nie genutzten Notstromaggregat aus Schweden – ein Zeichen tiefster Paranoia und des Drangs zur totalen Absicherung.

Schlussfolgerung: Die Blase, die platzen musste
Die selbstgeschaffene Isolation, die absurde Parallelwirtschaft und die völlige Abkopplung von der Lebenswirklichkeit machten die DDR-Führung letztendlich blind für die Realität im eigenen Land. Sie regierten aus einer Blase heraus, in der die wahren Sorgen und Nöte der Bevölkerung nicht mehr wahrgenommen wurden.

Die größte Ironie der Geschichte liegt darin, dass Erich Honecker das gleiche Schicksal ereilte, das er für seinen Vorgänger inszeniert hatte. Im Sommer 1989 erholte er sich von einer Operation ausgerechnet am Döllnsee – an jenem Ort, an dem er 18 Jahre zuvor Ulbrichts Sturz besiegelt hatte. Von der Außenwelt fast vollständig abgeschnitten, wurde er politisch blind für die dramatischen Entwicklungen im Land und die Pläne seiner Genossen, ihn abzusetzen. Zeigt diese Geschichte nicht mit brutaler Klarheit, dass jede Macht, die sich hermetisch von der Realität ihres Volkes abriegelt, nicht nur zum Scheitern verurteilt ist, sondern ihr eigenes Ende geradezu herbeiführt?

Die geheimen Mordermittler der Stasi

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In der DDR galt offiziell: Im Sozialismus gibt es keine Serienmörder. Gewaltverbrechen seien „wesensfremd“, ein Produkt des Kapitalismus. Doch hinter der glänzenden Fassade des sozialistischen Staates operierte eine Elite der Stasi, die im Verborgenen die brutalsten Verbrecher jagte – Serienmörder, Kinderschänder, Giftmörder.

Die Existenz dieser „Spezialkommission“ zeigt den paradoxen Kern des Systems: Die Wahrheit über ein Verbrechen war gefährlicher als das Verbrechen selbst. Jeder Mord drohte, die Illusion des perfekten Staates zu zerstören.

Die Spezialkommission war eine Luxusabteilung der Kriminalpolizei. Während reguläre Ermittler unter Mangelwirtschaft und Spritknappheit litten, verfügten Stasi-Ermittler über modernste westliche Technik. Doch selbst dieses Privileg nützte wenig, wenn das oberste Ziel die Geheimhaltung war.

Nichts offenbart die perverse Logik besser als der Fall der vergifteten Säuglinge in Leipzig 1986. Statt die Polizei zu rufen, alarmierte ein Arzt die Stasi. Die Täterin wurde überführt, die Eltern jedoch zum Schweigen verpflichtet – und monatelang überwacht. Die Opfer wurden so doppelt gezeichnet: einmal durch den Verlust, ein zweites Mal durch den Staat, der sie mundtot machte.

Fehler blieben nicht aus. In Neubrandenburg 1983 wurde ein unschuldiger Mann verurteilt, während der wahre Serienmörder weiter mordete. Erst Jahre später entlarvten Zeugen den Täter – doch selbst dann weigerte sich die lokale Polizei, den Irrtum einzugestehen. Die Stasi musste eingreifen, rehabilitierte den Unschuldigen stillschweigend und verschloss den Fall.

Politische Macht stand stets über Recht. Die Todesstrafe für den jugendlichen Kindermörder Erwin Hagedorn war ein Machtdemonstration der SED: Der Staat wollte zeigen, dass er hart gegen Verbrechen durchgreife, die es offiziell gar nicht geben durfte. Später, unter Honecker, blieb die Justiz formell bestehen, doch das Instrument der Kontrolle war stets die Partei, nicht das Gesetz.

Die Stasi-Mordermittler waren am Ende kein Werkzeug der Gerechtigkeit, sondern der Illusionspflege. Sie jagten Verbrecher, um das Bild eines makellosen Staates zu bewahren. Die Wahrheit wurde zum Feind, Opfer zu Aktenzeichen und Justiz zu einem politischen Instrument. Die gefährlichste Tat war nicht das Verbrechen selbst, sondern das Wissen darüber.

Vom Politbüro zum Kohl-Team: Die zwei Welten der Krenz-Söhne

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Was passiert, wenn der eigene Vater ein ganzes Land regiert – und dieses Land plötzlich verschwindet? Diese Frage wurde für die Söhne von Egon Krenz, dem letzten Staats- und Parteichef der DDR, zur schlagartigen Realität. Torsten und Carsten Krenz wuchsen privilegiert im Schatten der Macht auf, doch nach dem Fall der Berliner Mauer wurde ihr Leben auf den Kopf gestellt. Der Name, der ihnen einst Türen öffnete, wurde über Nacht zur Last. Gezwungen, sich in einem neuen, vereinten Deutschland zurechtzufinden, schlugen die Brüder völlig unerwartete Wege ein. Dieser Artikel enthüllt die überraschendsten Fakten über ihr Leben nach dem Ende der DDR.

Vom Bonzenkind zum Wahlkämpfer für Helmut Kohl
Der jüngere Sohn, Carsten Krenz, schlug nach dem Mauerfall eine erstaunliche Karriere ein. Während die Welt, in der er aufgewachsen war, zusammenbrach, orientierte er sich zielstrebig neu. Er studierte Jura, um die Regeln des neuen Systems zu lernen, besuchte eine Journalistenschule und schrieb als junger Reporter für westdeutsche Zeitschriften wie das moderne Magazin Tango. Der wohl kontraintuitivste Schritt seiner Laufbahn folgte jedoch im politischen Bereich: Carsten Krenz, der Sohn des letzten kommunistischen Führers der DDR, arbeitete in den 1990er Jahren im Wahlkampfteam von Bundeskanzler Helmut Kohl von der CDU – jenem Kanzler, der die deutsche Einheit vorangetrieben und das System seines Vaters beendet hatte.

Doch seine Neuerfindung war damit nicht abgeschlossen. Sein Weg führte ihn schließlich in die Schweiz, wo er sich in Zürich als erfolgreicher PR-Experte und Manager in der Unternehmenskommunikation etablierte. Diese beeindruckende Laufbahn zeugt von einem bemerkenswerten Pragmatismus und der Fähigkeit, sich in der neuen Realität des vereinten Deutschlands nicht nur anzupassen, sondern sich völlig neu zu erfinden.

Loyal bis zum Schluss: Der SED-Antrag nach dem Mauerfall
Trotz seiner erfolgreichen Integration in das westliche System zeigte Carsten eine unerschütterliche Loyalität zu seinem Vater. Es scheint, als fiele der Apfel nicht ganz weit vom Stamm. Als die DDR Ende 1989 bereits in Auflösung begriffen war, stellte der damals 18-jährige Carsten einen Aufnahmeantrag für die SED. In einer Zeit, in der Tausende die Partei verließen, entschied er sich bewusst dazu, seinem Vater, der an deren Spitze stand, den Rücken zu stärken.

Diese Loyalität setzte sich auch in den 1990er Jahren fort, als sein Vater Egon Krenz wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze vor Gericht stand. Carsten fungierte als juristischer Assistent im Verteidigungsteam und saß während des Prozesses an der Seite seines Vaters. Sein Blick auf die Verurteilung war von einer provokanten juristischen Logik geprägt. Sein gewagtes Argument fasste er sinngemäß so zusammen:
Rechtlich hätte man Egon eher wegen Landesverrat belangen können, schließlich hat er doch selbst die Grenze geöffnet.

Dieses Zitat verdeutlicht die zentrale Komplexität in Carstens Charakter: Er schaffte es, seine familiäre Treue mit den Werkzeugen des neuen Rechtssystems zu verbinden – eine Haltung, die seine unbedingte Solidarität mit dem Vater unterstreicht, während er gleichzeitig die Spielregeln der neuen Welt meisterhaft beherrschte.

Die Flucht in die Normalität: Ein Leben im Hintergrund
Der ältere Bruder, Torsten Krenz, wählte einen Weg, der im bewussten Gegensatz zu Carstens öffentlichem Leben stand. Anstatt die Öffentlichkeit zu suchen, schlug Torsten einen radikal anderen Weg ein: den in die Anonymität. Er mied das Rampenlicht konsequent. Entscheidend war dabei seine Haltung zum väterlichen Erbe: Weder distanzierte er sich öffentlich vom Vater, noch verteidigte er ihn lautstark in den Medien. Er wählte den Weg der stillen Neutralität.

Er schlug eine Laufbahn in der freien Wirtschaft ein und fand eine Anstellung in der Industrie, vermutlich im technischen Bereich. Entscheidend für ihn war, sich durch eigene Leistung zu beweisen und nicht vom Namen Krenz zu profitieren oder darunter zu leiden. Er gründete eine Familie, heiratete eine Lehrerin und bekam Kinder und später Enkelkinder. Auf diese Weise gab er seinem Vater, dem ehemaligen „Landesvater“ der DDR, die Möglichkeit, die Rolle eines echten Groß- und Urgroßvaters auszufüllen. Torstens Weg repräsentiert eine andere Form der Auseinandersetzung mit einem schwierigen Erbe: nicht durch Konfrontation oder öffentliche Anpassung, sondern durch das stille und beharrliche Schaffen einer neuen, rein privaten Identität.

Vom Kalten Krieg im Klassenzimmer zur Versöhnung
Eine bemerkenswerte Episode aus Carstens Jugend zeigt seinen Weg von der Verteidigung des Systems zur späteren Versöhnung. 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, kam es an seiner Oberschule zu einer Protestaktion. Mitschüler, darunter Philip Lengsfeld, kritisierten das DDR-Regime und wurden daraufhin von der Schule verwiesen. Für den jugendlichen Carsten war dies ein direkter Angriff auf die Welt seiner Familie. Später wurde sogar gemunkelt, Carsten selbst habe die Protestgruppe an höhere Stellen gemeldet – ein Vorwurf, den er bis heute entschieden zurückweist.

Dieser schwere Verdacht verleiht dem, was viele Jahre später geschah, noch mehr Gewicht. 2013 trafen sich Carsten Krenz und Philip Lengsfeld als erwachsene Männer zu einem Gespräch. Die Begegnung verlief versöhnlich und zeigte, wie weit Carsten gekommen war. Aus dem Teenager, der die Proteste als Angriff empfand, war ein offener, dialogbereiter Mann geworden, der in der Lage war, über den Schatten seiner eigenen, belasteten Vergangenheit zu springen. Dieses Treffen wurde zu einem eindrücklichen Symbol für persönliche Reifung und die Möglichkeit der Aussöhnung über die tiefen Gräben der deutschen Geschichte hinweg.

Der lange Schatten der Geschichte
Die Lebenswege der Krenz-Brüder könnten kaum unterschiedlicher sein. Während Carsten die Chancen der neuen Welt ergriff, sich öffentlich engagierte – sowohl für den Architekten der Einheit als auch für den gestürzten Vater – und dabei eine bemerkenswerte Loyalität bewahrte, fand Torsten seinen Frieden durch den vollständigen Rückzug ins Private. Ihre Geschichten zeigen eindrücklich die zwei divergenten Pfade, die man einschlagen kann, wenn die Fundamente der eigenen Herkunft zerbrechen. Es bleibt die nachdenkliche Frage: Welche Wahl trifft man, wenn die Welt der Eltern aufhört zu existieren und man gezwungen ist, die eigene Identität in den Trümmern der Geschichte neu zu definieren?

Keine echte Waffe – ein verzweifelter Flug in die Freiheit

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Die fast vergessene Entführung von LOT-Flug 165 im Sommer 1978 erzählt mehr über die DDR als viele Akten: eine Geschichte von Angst, Liebe und dem Mut, Grenzen zu brechen.

Am 30. August 1978 landete eine Tupolew 134 der polnischen Fluggesellschaft LOT unerwartet auf dem amerikanischen Militärflughafen Tempelhof. An Bord: 62 Passagiere, darunter zwei Menschen, die alles riskiert hatten, um frei zu sein. Es war kein Unfall, kein Zufall – es war eine Flucht, die als Entführung in die Geschichte einging.

Was sich an diesem Morgen am Himmel über Berlin abspielte, verdichtet die gesamte Tragik des Kalten Krieges. Zwei DDR-Bürger, Ingrid Ruske und Detlef Tiede, hatten keine Waffe, keinen Plan B – nur den Willen, der Enge des DDR-Systems zu entkommen. Ihre eigentliche Flucht über Polen war gescheitert, als ihr Helfer, der westdeutsche Bauleiter Horst Fischer, an der Grenze verhaftet wurde. Vier Tage lang saßen sie in Danzig fest, dann entschieden sie: Wir haben nichts mehr zu verlieren.

An Bord von Flug LOT 165 zog Detlef Tiede eine Pistole – vermutlich eine Attrappe – und forderte, den Kurs auf West-Berlin zu ändern. Der Pilot gehorchte. Als die Maschine in Tempelhof landete, warf Tiede die Waffe hinaus. Ein US-Soldat trat heran und sagte den Satz, der zum Symbol wurde: „Willkommen im freien West-Berlin.“ Acht DDR-Bürger nutzten die Gelegenheit und stiegen aus.

Der Fall sorgte international für Aufsehen. In Tempelhof richteten die Amerikaner ein provisorisches Militärgericht ein – der erste und einzige US-Prozess auf deutschem Boden. Richter Richard Stern bestand auf einem zivilen Verfahren mit einer Jury aus Berliner Bürgern. Das Urteil überraschte: Ingrid Ruske wurde freigesprochen, Detlef Tiede erhielt neun Monate Haft. Das Gericht nannte die Tat eine „Tat aus Not“.

Ganz anders in der DDR: Horst Fischer, der ursprüngliche Fluchtorganisator, erhielt acht Jahre Haft wegen „bandenmäßiger Fluchthilfe“. Erst zwei Jahre später kaufte ihn die Bundesrepublik frei.

Die Geschichte von Flug 165 ist mehr als ein waghalsiger Fluchtversuch. Sie ist ein Spiegel der Zeit – ein Lehrstück darüber, wie verzweifelt Menschen in einem System kämpften, das Freiheit als Bedrohung betrachtete. Und sie stellt eine Frage, die auch heute noch nachhallt:

Wie weit darf man gehen, wenn der einzige Weg in die Freiheit der ist, der Gesetze bricht?

Engerling – Der Film“ und die Blueser-Bewegung in der DDR

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Die Blueser-Szene in der DDR war in den 1970er und 1980er Jahren eine kulturelle Subkultur, die sich um eine Leidenschaft für Blues und Rockmusik entwickelte. In einer streng kontrollierten Gesellschaft, in der kulturelle Ausdrucksformen oft von staatlicher Zensur und Repression geprägt waren, bot der Blues vielen jungen Menschen eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken und ihrer Unzufriedenheit Luft zu machen. Eine der bekanntesten Bands, die eng mit dieser Bewegung verbunden ist, ist die Band Engerling, die im Jahr 1975 in Ost-Berlin gegründet wurde.

„Engerling – Der Film“ ist eine Dokumentation, die den Werdegang dieser Band sowie die Geschichte der Blueser-Szene in der DDR beleuchtet. Der Film bietet einen tiefen Einblick in das Leben junger Menschen, die sich in einer Gesellschaft, die Individualität und nonkonforme Lebensweisen oft unterdrückte, zu einer Gemeinschaft fanden, in der Musik und Lebensgefühl untrennbar miteinander verbunden waren. Engerling selbst entwickelte sich in der Szene zu einer Art Kultband, die nicht nur den traditionellen Blues spielte, sondern auch Rock- und Folk-Elemente in ihre Musik einfließen ließ. Dies machte sie zu einer der wenigen DDR-Bands, die einen unverwechselbaren, eigenen Sound kreierte, der sich von den staatlich geförderten Musikgruppen abhob.

Die Blueser-Bewegung in der DDR war eine Jugendbewegung, die sich bewusst von der offiziellen Kulturpolitik abgrenzte. Während die staatlichen Kulturinstitutionen den Sozialismus und die Ideale des DDR-Staates propagierten, fanden viele Jugendliche im Blues und Rock ihre Möglichkeit, der staatlichen Kontrolle zu entkommen und sich frei auszudrücken. Die Musik war für sie ein Medium des Widerstands und des Ausbruchs aus dem grauen Alltag der DDR. Ihre äußeren Erkennungsmerkmale, wie lange Haare und abgenutzte Jeans, wurden von der Staatsmacht oft als „westlich dekadent“ angesehen, was zu Konflikten mit den Behörden führte.

Der Film beleuchtet nicht nur die Musik, sondern auch das Lebensgefühl der Blueser. Viele von ihnen stießen an die Grenzen des in der DDR Erlaubten: Ihre Treffen wurden oft von der Stasi beobachtet und nicht selten endeten Konzerte oder Blueser-Treffen mit Verhaftungen und polizeilichen Maßnahmen. Dennoch ließ sich die Szene nicht unterkriegen. Der Blues wurde zu einer Art Ausdrucksform für das, was viele junge Menschen im sozialistischen System der DDR vermissten – Freiheit, Selbstbestimmung und eine Art spirituelle Verbindung mit der westlichen Jugendkultur.

Engerling war eine der wenigen Bands, die sich trotz der schwierigen Umstände im DDR-Musikgeschäft behaupten konnte. Obwohl es viele Hürden gab, wie die staatliche Zensur und die Restriktionen, die das Reisen in den Westen betrafen, blieb die Band ihrer Musik und ihren Fans treu. „Engerling – Der Film“ zeigt die Höhen und Tiefen der Bandgeschichte, vom Kampf um künstlerische Freiheit bis hin zu ihren Auftritten auf Festivals und Konzerten, die oft nur im Geheimen oder unter strenger Beobachtung der Behörden stattfinden konnten.

Die Blueser-Szene ist heute ein faszinierendes Beispiel für die Widerstandskraft von Subkulturen in repressiven Systemen. Der Blues, eine ursprünglich aus den USA stammende Musikform, wurde in der DDR zu einem Symbol der Unangepasstheit und des stillen Protests. Die Band Engerling und ihre Anhänger schufen einen Raum, in dem sie zumindest für eine kurze Zeit der staatlichen Kontrolle entkommen und ein Gefühl von Freiheit erleben konnten.

Insgesamt bietet „Engerling – Der Film“ einen wertvollen Einblick in die Blueser-Szene und deren Bedeutung für viele junge Menschen in der DDR. Er dokumentiert nicht nur die Geschichte einer außergewöhnlichen Band, sondern auch die Sehnsucht einer ganzen Generation nach Freiheit und Selbstbestimmung in einem oft restriktiven und autoritären System.