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Subkultur und Staatsmacht: Gysi und Flake über das Erwachsenwerden im Osten

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Ein Treffen zweier Berliner Urgesteine: Gregor Gysi interviewt Christian „Flake“ Lorenz. Was als Gespräch über Musik beginnt, entpuppt sich als tiefgründiger Blick in die Seele eines Mannes, der eigentlich nie Rockstar werden wollte – und gerade deshalb einer der authentischsten wurde.

Berlin. Es ist eine Szenerie, die auf den ersten Blick wie ein Kuriosum wirkt. Auf der einen Seite Gregor Gysi, der wortgewandte Advokat der Linken, Meister der Rhetorik. Auf der anderen Seite Christian Lorenz, besser bekannt als „Flake“, der Keyboarder von Rammstein, jener Band, die weltweit für Feuer, Provokation und teutonische Härte steht. Doch wer martialisches Gehabe erwartet, wird enttäuscht. Auf dem Stuhl sitzt ein feingliedriger, fast schüchterner Mann mit Brille, der eher wie ein Archivar wirkt als wie ein Mitglied der international erfolgreichsten deutschen Band.

Das Gespräch beginnt in der grauen Tristesse des Prenzlauer Bergs der 70er Jahre. Flake erzählt von einer Kindheit, die von Stille und Leere geprägt war, aber auch von einem frühen Kampf mit sich selbst. Dass er heute unter dem Namen „Flake“ bekannt ist, verdankt er nicht etwa einer coolen Rocker-Attitüde, sondern einem Sprachfehler. Das Stottern machte das Aussprechen seines Taufnamens Christian zur Qual. „Flake“, entlehnt aus der Zeichentrickserie Wickie und die starken Männer, ging leichter über die Lippen. Es war der erste Schritt einer lebenslangen Strategie: Anpassung durch Vermeidung.

Auf Wunsch des Vaters lernte er Werkzeugmacher – für den handwerklich unbegabten Lorenz eine Tortur. Seine wahre Berufung fand er auf einem aufgemalten Pappstreifen auf dem Fensterbrett, auf dem er Klavier übte, bis die Eltern 100 Mark für ein echtes Instrument aufbrachten.

Gysi, sichtlich amüsiert, gräbt tiefer in Flakes Vergangenheit in der DDR-Subkultur. Mit der Band Feeling B avancierte Lorenz zur Kultfigur der „anderen Bands“, jener Nische zwischen Duldung und Rebellion. Es war eine Zeit, in der Musik und Alkohol untrennbar schienen, und in der die größte Kunst darin bestand, sich dem Zugriff des Staates zu entziehen.

Flakes Anekdoten über seine Wehrdienstverweigerung haben fast schelmenhafte Züge. Von ständigem Wohnungswechsel bis hin zur Selbsteinweisung in die Psychiatrie nutzte er jede Lücke im System, um nicht zur NVA zu müssen. Der Preis dafür war hoch: Das Abitur und der Traum vom Medizinstudium blieben ihm verwehrt. Der Spitzname „Dr. Lorenz“, den er heute manchmal trägt, ist somit das bittersüße Relikt eines geplatzten Traums, Chirurg zu werden.

Der vielleicht überraschendste Moment des Gesprächs ist Flakes Eingeständnis über die Anfänge von Rammstein. Es war keine Liebe auf den ersten Ton. Als er, der damals noch mit Paul Landers in einer WG wohnte, die ersten Riffs der neuen Band hörte, fand er sie stumpf. „Eine Stunde lang ein Riff“, so beschreibt er seinen ersten Eindruck. Dass er dennoch einstieg, war eher der Faszination für den Sampler und der Gruppendynamik geschuldet als musikalischer Überzeugung.

Heute ist er das theatralische Gegenstück zur brachialen Männlichkeit von Frontmann Till Lindemann. Er ist das Opfer der Show, derjenige, der im Kochtopf „gekocht“ wird oder sich bei waghalsigen Schlauchbootfahrten über das Publikum Knochenbrüche zuzieht. Er erzählt von verbrannten Fingerkuppen und einer Nacht im US-Gefängnis wegen angeblicher Obszönität – und das alles mit einer Trockenheit, als berichte er von einem Tag im Büro.

Was bleibt, ist das Bild eines Mannes voller Widersprüche. Da ist der weltweite Erfolg, der ihn in die größten Stadien führt, und da ist der Privatmann, der von Flugangst und Hypochondrie geplagt wird. Flake Lorenz ist kein Rockstar aus dem Bilderbuch. Er ist ein Anti-Held, der in seine Rolle hineingestolpert ist und sie nun mit einer Mischung aus Professionalität und staunender Distanz ausfüllt.

In seinen Büchern Der Tastenficker und Heute hat die Welt Geburtstag hat er diese Ambivalenz festgehalten. Im Gespräch mit Gysi wird klar: Dieser Mann muss nicht laut sein, um gehört zu werden. Seine leisen Töne, sein Witz und seine fast naive Ehrlichkeit sind es, die ihn in der lauten Welt von Rammstein unverzichtbar machen.

14 gegen einen: Ein Ilmenauer im Visier der Staatsmacht

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Ilmenau – Es ist die Geschichte einer Rückkehr, die nicht im Stillen stattfinden durfte. Als Wolfgang Mayer in seine Heimatstadt Ilmenau zurückkehrte, erwartete ihn kein normales Leben, sondern ein groteskes Schauspiel staatlicher Paranoia. In einem Zeitzeugenbericht schildert Mayer, wie der DDR-Staatsapparat versuchte, ihn und seine Mitstreiter zu isolieren – und dabei an der Solidarität der Bevölkerung und einem mutigen Pfarrer scheiterte.

Von außen wirkte das Haus in der Ilmenauer Stadtmitte vielleicht ruhig, doch der Schein trog. „Das Haus war maximal bis zu 14 Leuten umstellt“, erinnert sich Wolfgang Mayer. Die Staatssicherheit hatte einen Belagerungsring um ihn und seine Gruppe gezogen. Das Ziel: totale Kontrolle. Die Angst der Behörden war greifbar. Man befürchtete, die Gruppe könnte erneut nach Berlin reisen, um eine Botschaft zu besetzen – etwa die ägyptische – um so die Ausreise zu erzwingen.

Mayer beschreibt die Atmosphäre nach seiner Ankunft als gespalten, aber überwiegend solidarisch. „Es war ein Sturm der Sympathie“, sagt er rückblickend. Wildfremde Menschen klopften ihm auf die Schulter. Der Tenor: Endlich hat denen mal jemand „eins auf die Nuss gegeben“. Für viele Bürger, die ihren Unmut oft nur im Privaten äußerten, wurden Mayer und seine Gruppe zu Projektionsflächen des eigenen Widerstandsgeistes.

Doch es gab auch die andere Seite. Etwa ein Viertel der Menschen, darunter ehemalige Arbeitskollegen, mieden den Kontakt. Sie wechselten die Straßenseite, sobald sie Mayer sahen – teils aus ideologischer Überzeugung, teils aus nackter Angst vor Repressalien.

Der Alltag der Überwachten war geprägt von Schikanen. Ständige Vorladungen zur Kreisdienststelle und Hausdurchsuchungen sollten zermürben. Die Überwachung machte auch vor dem Privatleben nicht halt. Selbst der sonntägliche Kirchgang wurde zur Staatsaffäre: „Zwei bis drei Leute haben sich uns an die Fersen geheftet“, berichtet Mayer.

Dabei kam es zu Szenen von unfreiwilliger Komik. Der katholische Pfarrer, der die Situation bemerkte, drehte den Spieß kurzerhand um. Anstatt die Agenten zu ignorieren, versuchte er, sie noch während der Beschattung zu bekehren – eine Situation, die die Absurdität des Überwachungsstaates bloßstellte.

Besonders perfide war der Versuch der Stasi, die Gruppe kommunikativ zu isolieren. Telefonate mit westlichen Journalisten waren so gut wie unmöglich; die Leitungen wurden systematisch unterbrochen, sobald ein Gespräch in den Westen aufgebaut wurde. Doch die Überwacher hatten die Rechnung ohne die Kirche gemacht.

Mayer und seine Mitstreiter fanden eine entscheidende Lücke im System: das Telefon des Pfarrers. Während die Anschlüsse der „Staatsfeinde“ streng kontrolliert wurden, traute sich die Stasi offenbar nicht, die Leitung des Geistlichen zu kappen. Das Gemeindehaus wurde so zum konspirativen Pressezentrum. Hier konnten Mayer und seine Gruppe ungestört Interviews geben, unter anderem der dänischen Tageszeitung Berlingske Tidende.

Mayers Bericht ist ein eindrückliches Dokument deutsch-deutscher Geschichte. Er zeigt, wie ein übermächtiger Sicherheitsapparat mit enormem Aufwand versuchte, Einzelne zu brechen – und wie Zivilcourage und kreativer Widerstand diesen Apparat immer wieder ins Leere laufen ließen.

Ulrike Poppe über Bärbel Bohley und die „Frauen für den Frieden“

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Es begann im Haus des Dissidenten Robert Havemann in Grünheide. Hier, am Rande Berlins, trafen sich Ende der 70er Jahre Ulrike Poppe und Bärbel Bohley. Es war der Start einer Freundschaft, die selbst den Zersetzungsstrategien der Stasi trotzte. In einem Zeitzeugen-Interview blickt Poppe nun auf die Gründung der „Frauen für den Frieden“ zurück – ein Lehrstück über Zivilcourage.

Auslöser war die geplante Verschärfung des Wehrdienstgesetzes, das auch Frauen militärisch stärker in die Pflicht nehmen sollte. „Damit begaben wir uns ganz bewusst auf einen illegalen Pfad“, erinnert sich Poppe. Sie verfassten Eingaben und sammelten Unterschriften. Die Gründung einer reinen Frauengruppe war dabei eine Zäsur in der oft männlich dominierten Opposition der 70er Jahre. Statt Hierarchien erlebten sie hier eine offene Kommunikation und ein starkes „Gruppengefühl“ gegen die Militarisierung.

Der Staat reagierte mit Härte. Ein Treffen mit der britischen Aktivistin Barbara Einhorn diente als Vorwand für den Zugriff. Poppe und Bohley kamen ins Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. Poppe beschreibt die totale Desorientierung: „Ich wusste nicht mal, dass ich in Hohenschönhausen saß.“ Obwohl sie ahnte, dass Bohley ebenfalls dort war, sahen sie sich nie. Im Verhör blieb sie eisern: Aussagen nur zur eigenen Person, niemals über Dritte.

Die schwerste Prüfung folgte jedoch nach der Haftentlassung. Die Stasi setzte auf „Zersetzung“: Anonyme Briefe suggerierten, die Frauen seien IMs, da sie freigelassen wurden. Gezielt streuten Spitzel Gerüchte, die Freundinnen würden schlecht übereinander reden. „Das ist eine gefährliche Taktik“, resümiert Poppe. Die Verunsicherung wirkte temporär, doch der Versuch, einen Keil zwischen sie zu treiben, scheiterte letztlich.

„Befreundet waren wir immer noch, solange die DDR existierte“, betont Poppe. Auch wenn sie 1989 politisch unterschiedliche Wege im „Neuen Forum“ und bei „Demokratie Jetzt“ gingen, riss der Kontakt nicht ab. Poppe würdigt die 2010 verstorbene Bohley als „mutige, unbeirrbare Persönlichkeit“. Ihre Geschichte beweist, dass Solidarität auch in einem System des Misstrauens überleben kann und gibt noch heute die „Zuversicht, dass die Welt gewaltfrei veränderbar ist“.

Als die Gespenster der Vergangenheit durch Jena marschierten

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Ein Rückblick auf den 8. August 2020: Wie ein skurriler Aufmarsch der FDJ die Stadt Jena provozierte und eine seltene politische Einigkeit erzeugte.

Jena. Es war ein heißer Samstag im August 2020, als sich ein surrealer Zug durch die Jenaer Innenstadt schob: Junge Menschen in Blauhemden, rote Fahnen schwenkend, Kampfieder singend. Die „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) war zurück – oder zumindest ein skurriles Abbild davon. Unter dem Slogan „30 Jahre sind genug!“ inszenierten sie ein Schauspiel, das in einer Stadt mit lebendiger Erinnerung an die SED-Diktatur wie ein schlechter Scherz wirkte.

Das Groteske an diesem Aufzug war die Herkunft der Akteure. Viele FDJ-Demonstranten waren eigens aus Westdeutschland angereist, um den Jenaern die DDR als das bessere Deutschland zu erklären – ein bizarres „West-splaining“ der Geschichte. Ein Vertreter der Partei Die Linke bezeichnete den Auftritt treffend als geschmackloses „Reenactment“ und distanzierte sich klar: Mit diesem stalinistischen „Zombie“ wollte die moderne Linke nichts zu tun haben.

Unfreiwillig stiftete die FDJ jedoch Einigkeit. Der Aufmarsch schweißte die Jenaer Stadtgesellschaft zusammen. In einer seltenen Allianz riefen CDU, FDP, Grüne, SPD und Linke gemeinsam dazu auf, der Provokation friedlich zu begegnen. Die Gegenkundgebung auf dem Holzmarkt wurde zum Sammelbecken für Demokraten aller Lager, die sich geschlossen gegen die Verherrlichung der Diktatur stellten.

Für die Opfer der SED-Diktatur war der Tag mehr als nur politisches Theater. Zeitzeugen berichteten unter Tränen von Zwangsarbeit und Kinderheimen. „Das ist kein Spaß“, rief eine Betroffene den Demonstranten entgegen. Was für die angereisten Revolutionäre bloße Ideologie war, war für die Menschen in Jena schmerzhafte Biografie.

Rückblickend bleibt der 8. August 2020 eine bizarre Fußnote. Er zeigte die historische Gefühllosigkeit mancher Gruppen, aber auch die Wehrhaftigkeit der Jenaer Zivilgesellschaft. Jena machte deutlich: Die Geschichte lässt sich nicht von denen umschreiben, die sie nicht erlebt haben.

Ein Leuchten in der Erinnerung: Was von der ostdeutschen Weihnacht bleibt

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Wenn man heute, mit dem Abstand von Jahrzehnten, auf die Weihnachten in der DDR zurückblickt, verblassen die grauen Fassaden und die Mangelwirtschaft oft hinter einem Gefühl, das bis heute wärmt: eine tiefe, fast trotzige Geborgenheit. Es ist ein Rückblick auf eine Zeit, in der das Fest weniger von dem bestimmt war, was man kaufen konnte, sondern von dem, was man daraus machte.

Die Magie der Wertschätzung
Vielleicht war es gerade die Begrenztheit der Dinge, die den Blick für ihren Wert schärfte. Eine Orange war nicht einfach Obst, sie war ein Ereignis. Ein Westpaket mit Schokolade war kein Snack, sondern eine Kostbarkeit. Diese Knappheit lehrte eine Generation eine Lektion, die heute in Zeiten des Überflusses oft verloren geht: echte Vorfreude. Das Warten auf die Dinge, das Reparieren des alten Baumschmucks und das sorgsame Aufbewahren von Geschenkpapier waren keine bloßen Notwendigkeiten, sondern Handlungen der Achtung. Man lernte, das Vorhandene zu ehren, statt ständig nach dem Neuen zu schielen.

Inseln der Ruhe
Die Weihnachtszeit in der DDR war oft eine Zeit des privaten Rückzugs. Wenn draußen die Welt politisch und gesellschaftlich reglementiert war, schuf man sich drinnen, im Kreis der Familie, eine eigene kleine Welt. Die verschlossene Wohnzimmertür am Heiligen Abend war mehr als ein Ritual – sie war die Grenze zu einem Zauberreich. Die Stille, die einkehrte, wenn endlich alle Kerzen brannten (und es waren fast immer echte Kerzen, deren flackerndes Licht keine elektrische Lichterkette imitieren kann), hatte eine fast heilige Qualität. Es war eine Entschleunigung, die nicht verordnet, sondern gelebt wurde.

Gemeinschaft statt Glanz
Was in der Erinnerung am hellsten strahlt, ist nicht der materielle Reichtum, sondern die menschliche Wärme. Das gemeinsame Backen, das oft wochenlange Organisieren von Zutaten durch Tausch und Beziehungen, schweißte zusammen. Man rückte enger zusammen, buchstäblich und im übertragenen Sinne. Die einfachen Mahlzeiten – der Kartoffelsalat mit Würstchen – waren kein Zeichen von Armut, sondern von einer Tradition, die Zeit für das Wesentliche ließ: das Gespräch, das Singen, das bloße Beisammensein.

Das bleibende Erbe
Dieser positive Rückblick verklärt nicht das politische System, sondern feiert die Widerstandskraft des Privaten. Er erinnert an die Fähigkeit der Menschen, auch unter schwierigen Bedingungen Glanzpunkte zu setzen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Weihnachten nicht im Kaufhaus entsteht, sondern in der Haltung, mit der wir uns begegnen. Die erzgebirgischen Pyramiden drehen sich noch heute, und der Duft von frisch gebackenem Stollen weckt sofort dieses alte Gefühl: Dass es eigentlich gar nicht viel braucht, um glücklich zu sein – nur Wärme, Licht und die richtigen Menschen um einen herum.

Die Ironie aus Stahl – was der Berliner Fernsehturm wirklich erzählt

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Jeder kennt ihn, den Berliner Fernsehturm. Er steht da, stolz, glänzend, unerschütterlich – Symbol des Ostens, Wahrzeichen der Hauptstadt. Und doch erzählt er eine Geschichte, die so widersprüchlich ist wie die Stadt selbst.

Da ist zum Beispiel das Fundament. Wer glaubt, ein 368 Meter hoher Turm brauche ein tiefes, massives Fundament, liegt falsch. Der Fernsehturm steht auf einem flachen Ring, sein Schwerpunkt liegt so tief, dass er wie ein riesiges Stehaufmännchen funktioniert. Windböen? Egal. Der Turm wankt, aber er fällt nicht.

Und dann diese Kugel – das Herzstück des sozialistischen Stolzes. Gebaut, um den Westen zu übertrumpfen, glänzt sie ausgerechnet dank Edelstahl aus Westdeutschland. Eine Ironie, wie sie nur Geschichte schreiben kann.

Als wäre das nicht genug, erschien nach der Fertigstellung auf der Fassade ein strahlendes Kreuz – die Sonne spiegelte sich in den polierten Stahlplatten. Ausgerechnet auf dem atheistischen Vorzeigeprojekt des Sozialismus. Die Berliner tauften es „Die Rache des Papstes“. Besser lässt sich die Ironie der Geschichte kaum in Licht fassen.

Heute ist der Fernsehturm längst ein Ort für alle: für Touristen, die den Blick über die Stadt suchen, und für Berliner, die sich in seinem Schatten wiederfinden. Er steht da, als mahnendes, aber auch versöhnliches Symbol – gebaut aus Ambition, Widerspruch und ein wenig unfreiwilligem Humor.

Vielleicht ist das seine größte Stärke: Er erinnert uns daran, dass Größe manchmal aus Gegensätzen entsteht – und dass selbst Beton und Stahl eine gute Portion Selbstironie vertragen.

Die Vergessenen der DDR – Ein Leben jenseits von Stasi und Widerstand

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Wenn heute über die DDR gesprochen wird, dann meist in den klaren Rollenverteilungen von Tätern und Opfern. Auf der einen Seite die Überwacher, die Spitzel, die Apparate der Macht. Auf der anderen Seite die Verfolgten, die Dissidenten, die Mutigen, die sich dem System entgegenstellten. Doch dazwischen – da war das Leben. Und dieses Leben wird heute kaum noch erzählt.

Es gab jene, die einfach nur lebten. Die ihren Beruf machten, Kinder großzogen, Gärten pflegten, Urlaubsplätze tauschten und Nachbarn halfen. Menschen, die nie aneckten, nicht aus Angst, sondern weil sie keinen Grund sahen, es zu tun. Für sie war die DDR kein Gefängnis, sondern die Welt, in der sie geboren waren. Sie haben sich arrangiert, ohne sich zu verkaufen. Sie waren die Stillen, die Unauffälligen – und heute sind sie die Vergessenen.

Denn das gängige DDR-Narrativ kennt fast nur Extreme. Es lebt von der Spannung zwischen Unterdrückung und Widerstand, zwischen Heldenmut und Schuld. Wer aber sagt: „Ich wurde nie überwacht, ich konnte gut leben“, wird schnell belächelt oder gar verdächtigt, systemnah gewesen zu sein. Dabei erzählen diese Menschen keine Lüge, sondern eine andere Wahrheit – eine, die nicht ins große Schema passt.

Die Erinnerungskultur der Gegenwart neigt dazu, Geschichte moralisch zu sortieren. Aber das Leben war selten so eindeutig. Zwischen Mut und Angst, zwischen Schweigen und Mitmachen lag die eigentliche Wirklichkeit der DDR. Und diese Wirklichkeit gehörte den Vielen, nicht den Lauten.
Vielleicht wäre es an der Zeit, auch ihnen zuzuhören – jenen, die nichts Besonderes taten, aber das Leben am Laufen hielten. Ohne sie hätte es den Alltag, den so viele heute nostalgisch verklären oder politisch verdammen, gar nicht gegeben. Sie waren keine Helden, keine Täter. Sie waren Menschen. Und das sollte eigentlich reichen, um nicht vergessen zu werden.

Der Riss durch die Erinnerung: Wenn Ostalgie auf Trauma trifft

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Ein Facebook-Post über DDR-Heimerziehung löst eine Lawine aus. Die Kommentare unter meinem Beitrag offenbaren einen unversöhnten Kampf um die Deutungshoheit: Während Opfer von Misshandlung berichten, verteidigt eine Mehrheit ihre „normale“ Kindheit – und ruft erschreckend oft nach der harten Hand von gestern.

Es begann mit einem einfachen Post. In einem Beitrag stellte ich die These auf, dass Jugendliche in der DDR oft aus nichtigen Gründen – wie dem Tragen von Westkleidung oder politischem Widerspruch – in Spezialkinderheime oder Jugendwerkhöfe eingewiesen wurden. Was folgte, war kein historischer Diskurs, sondern eine digitale Abwehrschlacht. Hunderte Kommentare fluteten meine Spalte, und sie zeigten mir wie unter einem Brennglas, dass die innere Einheit Deutschlands auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall in den Köpfen noch lange nicht vollzogen ist.

Der biografische Schutzwall
Als ich durch die Kommentare unter meinem Beitrag scrollte, stieß ich zuerst auf eine Mauer aus Wut. „Schwachsinn“, „Lügen“, „Hetze“ – das Vokabular der Ablehnung, das mir entgegenschlug, war aggressiv. Die dominante Gruppe der Kommentatoren fühlte sich durch meine Kritik am repressiven Erziehungssystem der DDR persönlich angegriffen. Ihr wichtigstes Beweisstück: die eigene Biografie.

„Ich habe auch Westkleidung getragen und mir ist nichts passiert“, schrieben Nutzer wie Peme F. oder Rainer L. Es ist ein klassischer logischer Fehlschluss, der mir in Ost-West-Debatten oft begegnet: Das eigene, unbehelligte Leben wird als universeller Beweis gegen das Unrecht an anderen ins Feld geführt. Weil man selbst die Jeans aus dem Westpaket tragen durfte, ohne abgeholt zu werden, kann es die Repression gar nicht gegeben haben. Ich sehe darin einen biografischen Schutzreflex: Wer zugibt, dass der Staat willkürlich handelte, müsste vielleicht auch die eigene, als behütet empfundene Normalität hinterfragen.

Die Stigmatisierung der Opfer
Noch verstörender als die Leugnung empfand ich jedoch die Rechtfertigung. Vielfach fand sich in den Spalten das Narrativ, wer im Jugendwerkhof landete, sei selbst schuld gewesen. „Dort sind Kinder hingekommen, die straffällig geworden sind“, hieß es, oder sie seien „asozial“ gewesen.

Diese Argumentation übernimmt unkritisch die Täterlogik der SED-Diktatur. Dass in Torgau oder Altengottern oft Jugendliche gebrochen wurden, die lediglich nicht ins sozialistische Weltbild passten, Schulschwänzer oder Punks waren, wurde ausgeblendet. Die Opfer von einst wurden in meiner Kommentarspalte ein zweites Mal stigmatisiert. Ihre Geschichten von Gewalt, Nummerierung statt Namen und Zwangsarbeit wurden als Lügen abgetan, wohl um das Bild des „sauberen Staates“ nicht zu beschmutzen.

Ein Schrei in der Echokammer
Dazwischen fanden sich, leise und oft verzweifelt, die Stimmen der Betroffenen. Sie berichteten von der „Hölle“ im Schloss Altengottern, von körperlicher Züchtigung, von Eltern, denen die Kinder aus politischen Gründen entzogen wurden. Doch diese Berichte prallten an der Mehrheitsmeinung ab.

Es gab kaum Dialog. Wenn eine Nutzerin wie Lilly H. detailliert beschrieb, wie ihr die Identität genommen wurde („Ich war die rote 1“), stand direkt darunter ein Kommentar, der alles als „Märchen“ abtat. Die Empathielosigkeit gegenüber den Opfern der eigenen Diktatur ist für mich das vielleicht erschütterndste Ergebnis dieser Beobachtung.

Die Sehnsucht nach Härte
Die Debatte unter meinem Post offenbarte jedoch nicht nur einen unaufgearbeiteten Blick zurück, sondern auch einen gefährlichen Blick nach vorn. Erschreckend häufig äußerten Kommentatoren den Wunsch, solche Einrichtungen wieder einzuführen. „So manchen Jugendlichen würde ein Jugendwerkhof heute mal gut tun“, ist ein Satz, der in Variationen immer wiederkehrte.

Hier vermischt sich DDR-Nostalgie mit aktueller Unzufriedenheit. Der autoritäre Erziehungsstil der DDR wird posthum zum Ideal verklärt, um gegen eine als chaotisch empfundene Gegenwart zu protestieren. Disziplin, Ordnung, „auf den richtigen Weg bringen“ – diese Reaktionen verraten mir eine Sehnsucht nach einfachen, harten Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme.

Die unvollendete Geschichte
Die Kommentarspalte ist für mich mehr als nur ein Streit im Internet. Sie ist ein Dokument der gesellschaftlichen Spaltung. Auf der einen Seite steht das Trauma derer, die das System gebrochen hat. Auf der anderen Seite steht eine Mehrheit, die ihre Erinnerung an eine glückliche Kindheit verteidigt, notfalls um den Preis der historischen Wahrheit. Solange das Leid der Opfer als Angriff auf die eigene Biografie missverstanden wird, bleibt die Geschichte der DDR-Heimerziehung eine offene Wunde.

Schluss mit dem Schweigen – Ich bleibe laut für die Leisen

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Eigentlich ist jetzt die Zeit der Ruhe. Viele nehmen sich vor, abzuschalten. Ich sehe das anders. Ich werde den Laptop nicht zuklappen. Gerade weil der Lärm im Netz so laut ist, ist Schweigen die falsche Antwort. Ich lese eure Kommentare und teile meine Sicht – nicht um recht zu haben, sondern weil Austausch das Einzige ist, was uns bleibt.

Dabei ist mir wichtig: Ich schreibe aus meiner Perspektive und respektiere jede andere Meinung. Doch Meinung ist nicht gleich Fakt. Der aktuelle Trend, historische oder wissenschaftliche Fakten zu ignorieren, weil das „Bauchgefühl“ anders tickt, hilft uns nicht weiter. Wir müssen uns anhören, wie Systeme funktionieren – unabhängig davon, wie wir uns persönlich erinnern.

Ich schaue dabei bewusst auf den Osten. Den Westen müssen „Andere“ aufarbeiten, das kann ich nicht übernehmen. Ich spiegele meine Herkunft im Heute. Es ist erschreckend, dass wir uns nach 35 Jahren Einheit in den Kommentaren immer noch als „Ossi“ und „Wessi“ anbrüllen. Wer keine Argumente mehr hat, fordert dann oft nur noch: „Lass mich in Ruhe!“

Doch Ruhe ist keine Lösung, und schon gar nicht die Flucht in die „schöne DDR“. Private Erinnerungen sind wertvoll, taugen aber nicht als politischer Kompass für die Zukunft. Wir sind – gerade im Osten – eine alternde Gesellschaft. Wir können uns nicht die Sicherheit der Diktatur zurückwünschen, ohne die Unfreiheit mitzukaufen. Die Systemfrage ist bereits 1989/90 gefallen.

Wir brauchen Lösungen für morgen, nicht die Verklärung von gestern, während sich die Weltwirtschaft gerade neu ordnet. Deshalb schreibe ich weiter. Nicht für die Schreihälse, sondern für die vielen Leisen, die mitlesen und nachdenken. Dinge zu erklären, ist mein Widerstand gegen die Vereinfachung – auch an Weihnachten und Silvester.

Die Semantik der Eskalation: Warum wir uns im Netz nur noch anschreien

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Wer dieser Tage die Kommentarspalten auf Facebook öffnet, hat oft das Gefühl, nicht in einer Diskussion, sondern in einem Schützengraben gelandet zu sein. Die politische Mitte – jener Ort, an dem Argumente ausgetauscht und Kompromisse geschmiedet werden – scheint wie leergefegt. Stattdessen dominieren zwei Lager das Feld, die sich mit Begriffen beschießen, die wie Handgranaten wirken sollen: Hier der Vorwurf „Nazi“, dort das Etikett „links-grün versifft“. Viele Beobachter wenden sich mit Grausen ab und diagnostizieren unserer Gesellschaft ein „primitives“ oder „verrohtes“ Niveau. Doch wer genau hinsieht, erkennt: Dieses Chaos folgt einer präzisen Logik. Es ist das Ergebnis messbarer psychologischer Mechanismen und einer Technologie, die Wut als Währung akzeptiert.

Die Inflation des Bösen: Wenn jeder ein „Nazi“ ist
Der Begriff „Nazi“ bezeichnete historisch präzise die Anhänger einer genozidalen Ideologie. Heute jedoch wirkt er oft wie ein universeller Marker für jeden, der vom liberalen Mainstream abweicht. Sozialpsychologen bezeichnen dieses Phänomen als „Concept Creep“ – die schleichende Ausweitung von Begriffen. Wenn eine Gesellschaft sensibler für Ungerechtigkeit wird, sinkt die Hemmschwelle, ab wann wir etwas als moralisch verwerflich einstufen.

Diese Expansion geschieht in zwei Richtungen. Vertikal rutschen heute konservative Positionen, die früher als legitim galten – etwa eine restriktive Migrationspolitik –, schneller in den Bereich des „Rechtsextremen“. Horizontal weitet sich der Begriff auf völlig neue Felder aus: Wer Gendersprache ablehnt oder am Dieselmotor festhält, findet sich plötzlich in derselben moralischen Schublade wieder wie echte Extremisten. Der Kolumnist Claude Cueni verglich diese Entwertung treffend mit dem historischen Begriff „Barbar“, der ursprünglich schlicht „Nicht-Grieche“ bedeutete, bevor er zum Synonym für Unzivilisiertheit wurde. In der heutigen Debatte fungiert der Nazi-Vorwurf oft nicht mehr als historische Einordnung, sondern als kommunikativer „Diskurs-Stopper“: Er signalisiert dem Gegenüber, dass er außerhalb des Sagbaren steht und man ihm nicht mehr zuhören muss.

Die Rhetorik des Ekels: „Links-grün versifft“
Die Gegenseite antwortet nicht mit Argumenten, sondern mit Affekten. Der Kampfbegriff „links-grün versifft“ ist soziologisch faszinierend, weil er nicht auf der Ebene von „Wahrheit“ oder „Recht“ operiert, sondern auf der Ebene der Hygiene. Er bedient eine „Ekel-Ethik“.

Während der Nazi-Vorwurf auf Schuld zielt („Du tust etwas Böses“), zielt „versifft“ auf Unreinheit („Du bist schmutzig“). Untersuchungen zeigen, dass dieser Begriff strategisch genutzt wird, um progressive Werte wie Toleranz und Vielfalt als eine Form der gesellschaftlichen Verwahrlosung zu framen. Für konservativ-autoritäre Milieus sind Ordnung und Reinheit zentrale moralische Kategorien. Linke Lebensentwürfe, die traditionelle Grenzen (zwischen Geschlechtern, Nationen oder Kulturen) auflösen, werden daher nicht nur als politisch falsch, sondern als physisch abstoßend – eben als „Siff“ – empfunden. Es ist eine Strategie der Dehumanisierung, die den politischen Gegner wie einen Krankheitserreger behandelt, den man vom „gesunden Volkskörper“ fernhalten muss.

Warum wir aneinander vorbeischreien
Dass diese beiden Lager keine gemeinsame Sprache mehr finden, liegt auch daran, dass sie unterschiedliche „moralische Matrizen“ besitzen, wie die Moral Foundations Theory des Psychologen Jonathan Haidt belegt. Das progressive Lager ist hypersensibel für Themen wie Fürsorge (Care) und Fairness. Wer diese Werte verletzt, wird als moralisches Monster (Nazi) wahrgenommen. Das konservative Lager hingegen gewichtet Werte wie Loyalität (Loyalty), Autorität (Authority) und Reinheit (Purity) viel stärker.

Wenn also ein Konservativer „Grenzsicherung“ fordert, sieht er darin einen Akt der Loyalität und Ordnung. Der Progressive hört jedoch nur „Ausgrenzung“ und „Schaden“. Umgekehrt: Wenn ein Progressiver „Vielfalt“ fordert, sieht er darin Fairness. Der Konservative empfindet es oft als Angriff auf die kulturelle Reinheit und Ordnung („Versiffung“). Es ist ein Dialog von Taubstummen, bei dem beide Seiten überzeugt sind, die einzig wahre Moral zu vertreten.

Wut als Währung: Die Rolle des Algorithmus
Dieser moralische Grabenkampf würde sich vielleicht im Sande verlaufen, gäbe es da nicht einen Brandbeschleuniger: die Algorithmen sozialer Netzwerke. Plattformen wie Facebook sind darauf programmiert, „Meaningful Social Interactions“ zu maximieren – und nichts generiert mehr Interaktion als Wut.

In dieser digitalen Arena wird Moral zur Ware. Beim sogenannten „Moral Grandstanding“ nutzen Nutzer moralische Empörung nicht, um die Welt zu verbessern, sondern um ihren eigenen Status in der Gruppe zu erhöhen. Wer am lautesten „Nazi!“ oder „Volksverräter!“ schreit, bekommt den meisten Applaus (Likes) aus der eigenen Blase. Der Algorithmus belohnt dieses Verhalten: Beiträge, die starke negative Emotionen auslösen, werden öfter geteilt und kommentiert als sachliche Analysen.

Das Fazit: Zynismus als Erfolgsrezept
Die „primitive“ Debattenkultur, die viele beklagen, ist also das Ergebnis eines perfekten Sturms aus menschlicher Psychologie und technologischer Verstärkung. Wer heute auf Facebook Reichweite will, muss genau diese Mechanismen bedienen. Ein viraler Post ist oft nichts anderes als ein gut konstruierter Köder, der die Ekel-Reflexe der einen Seite und die Moral-Panik der anderen Seite gleichzeitig triggert.

Der perfekte „Wutbürger-Post“, wie er im Netz oft viral geht, nutzt genau diese Klaviatur: Er appelliert an den „gesunden Menschenverstand“ (gegen Expertenwissen), inszeniert sich als Opfer einer „Meinungsdiktatur“ (Nazi-Keule) und markiert den Gegner als „versifft“. Es ist, objektiv betrachtet, ein Spiel auf niedrigstem Niveau – aber in der Ökonomie der Aufmerksamkeit ist es leider die effektivste Strategie.