Ende 1990 forderte Arbeitsminister Norbert Blüm einen radikalen Markteingriff, um das ostdeutsche Gesundheitswesen vor dem finanziellen Kollaps zu bewahren.
Der Silvestertag des Jahres 1990 markierte in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine seltene Zäsur, die heute beinahe in Vergessenheit geraten ist. In einer Meldung der DDR-Tageszeitung „Neue Zeit“ wurde Bundesarbeitsminister Norbert Blüm mit einer Forderung zitiert, die das damalige Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft auf eine harte Probe stellte. Blüm verlangte von der westdeutschen Pharmaindustrie eine „solidarische Haltung“ gegenüber den fünf neuen Bundesländern. Konkret ging es um einen Preisabschlag von 55 Prozent auf Medikamente, die im Beitrittsgebiet verkauft wurden. Diese Episode ist weit mehr als eine fiskalische Fußnote der Wiedervereinigung; sie ist ein Lehrstück über die enormen ökonomischen Spannungen, die der Systemtransfer im Gesundheitswesen auslöste, und über den Pragmatismus, mit dem die Politik darauf reagierte.
Die Ausgangslage im ersten Winter der Einheit war prekär. Mit der Währungsunion im Juli und dem Beitritt im Oktober 1990 war das westdeutsche System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf den Osten übertragen worden. Die Strukturen waren nun formal identisch, doch die ökonomische Basis klaffte weit auseinander. Während die Kosten für medizinische Güter – insbesondere für die nun verfügbaren modernen westlichen Arzneimittel – sofort auf das hohe Westniveau sprangen, hinkten die Einnahmen der neu gegründeten ostdeutschen Krankenkassen massiv hinterher. Die Löhne, auf denen die Versicherungsbeiträge basierten, lagen im Durchschnitt bei nur etwa 40 bis 45 Prozent des Westniveaus. Ohne staatliche Intervention drohte den Sozialkassen im Osten bereits im ersten Jahr der Einheit die Zahlungsunfähigkeit.
Vor diesem Hintergrund entschied sich die Bundesregierung für einen ungewöhnlichen Schritt. Anstatt die Defizite ausschließlich durch Steuergelder auszugleichen, nahm sie die Anbieter in die Pflicht. Die Logik hinter dem geforderten Abschlag von 55 Prozent war mathematisch simpel und politisch brisant: Wenn die Kaufkraft der ostdeutschen Versicherten nur knapp die Hälfte der westdeutschen betrug, durften auch die Medikamente dort nicht mehr kosten, als diese Einnahmebasis hergab. Der Einigungsvertrag hatte hierfür mit Artikel 33 bereits eine rechtliche Grundlage geschaffen, die es erlaubte, zur Vermeidung von Defiziten in die Preisgestaltung einzugreifen.
Die Auseinandersetzung wurde mit harten Bandagen geführt. Die Pharmaindustrie sah in dem diktierten Preisnachlass einen Rückfall in die gerade überwundene Planwirtschaft und drohte zeitweise sogar mit Lieferboykotts. Norbert Blüm hielt dem ein Argument entgegen, das die Diskussion auf eine europäische Ebene hob und die Preispolitik der Konzerne empfindlich traf. Er verwies darauf, dass deutsche Pharmaunternehmen ihre Produkte im europäischen Ausland – etwa in Frankreich, Spanien oder Italien – zu deutlich niedrigeren Preisen verkauften als auf dem westdeutschen Heimatmarkt. „Was sie in Frankreich, Spanien kann, das muss sie auch in Deutschland können“, so Blüms Argumentation. Er entlarvte damit die Behauptung, hohe Preise seien allein durch fixe Forschungskosten bedingt, und forderte faktisch, Ostdeutschland temporär wie einen europäischen Markt mit geringerer Kaufkraft zu behandeln.
Die gesetzliche Umsetzung erfolgte schließlich im März 1991 durch das Erste Gesetz zur Änderung des SGB V. Der „Blüm-Abschlag“ wurde über ein Kaskadensystem realisiert, bei dem Hersteller, Großhandel und Apotheken gemeinsam die Last trugen, um das Preisniveau im Osten künstlich zu senken. Diese Regelung blieb bis Ende 1993 in Kraft und sicherte in der kritischsten Phase der Transformation die Liquidität der ostdeutschen Kassen, ohne dass die Beiträge für die Arbeitnehmer explodieren mussten.
Rückblickend erscheint der Vorgang als ein bemerkenswerter Moment der „geordneten Unordnung“. Um die Einheit sozial abzufedern, setzte eine christlich-liberale Regierung Marktmechanismen partiell außer Kraft. Es zeigt sich hier eine Facette der Nachwendezeit, in der der politische Wille zur Stabilisierung des Ostens temporär über ordnungspolitische Dogmen siegte. Der „Blüm-Abschlag“ verhinderte, dass die Kosten der Einheit im Gesundheitssektor einseitig auf die ostdeutschen Beitragszahler abgewälzt wurden, und erzwang einen Transfer von Unternehmensgewinnen in die soziale Sicherung.