Ein einziger Abend im November 1976 veränderte das politische Klima einer ganzen Stadt unwiderruflich und markierte den Punkt ohne Wiederkehr.
Es war jener graue Novemberabend, an dem die Tagesschau in Schwarz-Weiß flimmerte und eine Nachricht in die Wohnzimmer trug, die wie ein physischer Schlag wirkte. In einer Jenaer Privatwohnung saßen zwei Dutzend junge Menschen, umgeben von Zigarettenrauch und klirrenden Teegläsern, und starrten ungläubig auf den Bildschirm. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns war nicht nur ein Verwaltungsakt gegen einen Liedermacher; sie war für diese Generation in der DDR das endgültige Signal, dass der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eine Illusion bleiben würde. Die Stille im Raum war keine Leere, sondern eine bleierne Schwere, gefüllt mit Fragen, die noch keine Richtung hatten, aber bald eine finden sollten.
Die Reaktion ließ in der Universitätsstadt nicht lange auf sich warten, denn der Boden war hier durch eine kritische Studentenschaft und intellektuelle Kreise bereits bereitet. Einen Tag später, im „Klub der Intelligenz“, suchten viele nach Antworten. Der Saal war überfüllt mit jungen Gesichtern in Parkas und Pullovern, die eigentlich wegen einer Lesung von Jurek Becker gekommen waren. Doch statt reiner Literatur bekamen sie gelebte Zeitgeschichte. Als Becker, selbst ein kritischer Geist, die Protestnote der Berliner Künstler verlas, brach sich das Unausgesprochene Bahn. Ein Raunen schwoll zu einer offenen Debatte an, die den Rahmen des Erlaubten sprengte und den Veranstalter zwang, nervös das Licht anzuschalten und den Abend abzubrechen.
Doch der Geist war aus der Flasche und ließ sich nicht mehr in die engen Grenzen der SED-Kulturpolitik zurückdrängen. In der Evangelischen Jungen Gemeinde (JG) Stadtmitte, einem der wenigen Schutzräume für andersdenkende Jugendliche in der DDR, gärte es weiter. Hier wurde nicht nur diskutiert, hier wurde gehandelt. Man schrieb den Offenen Brief der Künstler ab, vervielfältigte ihn oft mühsam mit Schreibmaschine und Kohlepapier und sammelte Unterschriften. Es war der Versuch, der Ohnmacht durch konkretes Tun zu entkommen und der staatlichen Willkür eine eigene Haltung entgegenzusetzen. Doch der Staat hörte mit: Ein Spitzel in den eigenen Reihen verriet die Listen an die Staatssicherheit.
Die Antwort des Repressionsapparates folgte prompt und brutal in der Nacht zum 19. November. Die Verhaftungswelle sollte die aufkeimende Opposition im Keim ersticken und durch Angst wieder jene Ruhe herstellen, die die DDR-Führung als Stabilität missverstand. Doch die Strategie der Einschüchterung, die über Jahre funktioniert hatte, versagte diesmal. Statt Rückzug und Schweigen erzeugte die staatliche Härte eine Solidarisierungswelle, die quer durch die sozialen Schichten Jenas ging. Plötzlich fanden sich Schüler, Studenten, Arbeiter und Konfessionslose zusammen, die vorher kaum Berührungspunkte hatten. Die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Milieus begannen zu verschwimmen.
Eine Schlüsselfigur in dieser neuen Form der Solidarität war Matthias Domaschk, der später selbst tragisch in Stasi-Haft ums Leben kommen sollte. Er und andere sammelten Geld für die Anwaltskosten der Inhaftierten, organisierten Unterstützung für die Angehörigen und schufen ein Netzwerk der Hilfe. Solidarität war keine hohle Phrase aus dem Parteilehrjahr mehr, sondern wurde zur praktischen, riskanten Handlung im Alltag. Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen, war für viele eine prägende Zäsur in ihrer Biografie. Es war die Geburtsstunde einer Opposition, die sich nicht mehr von der Ideologie blenden ließ.
Der Blick der Jenaer Oppositionellen richtete sich in dieser Zeit auch hilfesuchend und hoffnungsvoll über die Mauer. In West-Berlin gründete sich als Reaktion auf die Ereignisse ein Schutzkomitee, in dem prominente Stimmen wie Max Frisch und Heinrich Böll vertreten waren. Durch gezielte Postkartenaktionen und mediale Aufmerksamkeit sorgten sie dafür, dass die Namen der Jenaer Inhaftierten nicht im bürokratischen Dunkel der DDR-Justiz verschwanden. Diese externe Aufmerksamkeit durchbrach die Isolation der Gefangenen zumindest symbolisch und zeigte der SED-Führung, dass ihre Maßnahmen auch im Westen genau registriert wurden – ein wichtiger Schutzfaktor.
Rückblickend lässt sich sagen, dass der Versuch der Stasi, die Opposition durch Härte zu brechen, das genaue Gegenteil bewirkte. Die Ereignisse im November 1976 erzeugten keine Friedhofsruhe, sondern eine neue, kalte Entschlossenheit, die bis in die 1980er Jahre hineinreichte und schließlich im Herbst 1989 mündete. In den Wohnzimmern und Gemeinderäumen von Jena blieb das Gefühl zurück, dass ein Rückzug ins Private keine Option mehr war. Zwischen dem Staat und einem bedeutenden Teil seiner Jugend war ein Riss entstanden, der sich nie wieder kitten ließ und das Ende der DDR einläutete.