Mit 94 Jahren (2024) sitzt Armin Mueller-Stahl in der Kulisse seiner Ausstellung „Beyond the Symbols“ und blickt auf ein Leben zurück, das für drei Biografien reichen würde. Er wirkt nicht wie jemand, der sich zur Ruhe setzt, sondern wie ein Beobachter, der seine Rollen noch immer präzise analysiert. Wenn er spricht, schwingt die Melodie des ausgebildeten Geigers mit, der er einst werden wollte, bevor er zum gefeierten Mimen in Ost und West und schließlich zum Maler in der kalifornischen Garage wurde. Es ist ein Gespräch über Kunst, die Brücken baut, und über die feinen Linien des Widerstands in einer Diktatur.
Der Weg zur Schauspielerei war dabei keineswegs vorgezeichnet, sondern eher das Ergebnis eines trotzköpfigen Geistes. Nachdem er 1948 mit nichts als einem Geigenkasten unter dem Arm aus dem zerbombten Prenzlau nach Berlin kam, flog er nach nur einem Jahr von der Schauspielschule. Das Urteil der Dozenten lautete damals vernichtend auf „Talentlosigkeit“. Mueller-Stahl vermutet heute, fast ein dreiviertel Jahrhundert später, dass es vielmehr sein ausgeprägter Widerspruchsgeist war, der nicht in das Raster der frühen DDR-Kulturpolitik passte. Doch genau diese Widerborstigkeit sollte später sein Markenzeichen werden.
In der DDR avancierte er dennoch zum Superstar, vor allem durch die Serie „Das unsichtbare Visier“. Als Stasi-Agent Achim Detjen fegte er die Straßen leer und wurde fünfmal zum beliebtesten Schauspieler des Landes gewählt. Doch die Ironie des Schicksals wollte es, dass ausgerechnet die Ehrung für diese Rolle zum Bruch führte. Die Realität des Systems kollidierte mit der künstlerischen Darstellung, als die Fiktion des heldenhaften Kundschafters auf die bürokratische Härte des Ministeriums für Staatssicherheit traf.
Die Anekdote, die Mueller-Stahl dazu erzählt, ist ein Lehrstück über Macht und Distanz. Anlässlich des 25. Jahrestags des MfS sollte er geehrt werden. Erich Mielke, der mächtige Minister für Staatssicherheit, wollte den Schauspieler in einer Geste der Vereinnahmung an seine mit Orden behangene Brust ziehen und küssen. Mueller-Stahl, der die Vereinnahmung spürte, rief laut: „Vorsicht, der Bart fusselt!“ Der Satz hing unheilvoll im Raum. Das Lachen blieb aus, die Umstehenden erstarrten. Aus dem gefeierten Helden wurde in Sekundenbruchteilen ein gedemütigter Liebhaber, der sich der körperlichen Nähe der Macht verweigerte.
Diese Episode markierte den inneren Ausstieg. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnete Mueller-Stahl die Protestresolution und erhielt faktisch Berufsverbot. Zwei Jahre lang saß er zwangsweise zu Hause, eine Zeit, die er nutzte, um seine Autobiografie „Verordneter Sonntag“ zu schreiben. Der Wechsel in den Westen 1980 war kein einfacher Schritt, doch er öffnete die Tür zu einer Weltkarriere, die für einen deutschen Schauspieler dieses Alters eigentlich unmöglich schien.
In Hollywood erfand er sich neu, oft in der Rolle jüdischer Charaktere oder Väter, die dunkle Geheimnisse aus der Nazizeit hüten. Filme wie „Music Box“ oder „Avalon“ brachten ihm Oscar-Nominierungen und internationale Anerkennung. Es ist eine bizarre Wendung der Geschichte, dass der Mann, der vor den Nazis floh und später vor den Kommunisten, in Amerika oft für einen Juden gehalten wurde. Als er dies einem Journalisten gegenüber verneinte, legte dieser ihm die Hand auf die Schulter und sagte nur: „Noch nicht.“
Heute, im hohen Alter, hat er die Schauspielerei hinter sich gelassen. Das Zeichnen und Malen ist ihm wichtiger geworden, es kommt „aus dem Bauch“, wie er sagt, während das Schauspielern reine Kopfarbeit sei. In seinen Porträts, oft von jüdischen Weggefährten oder Politikern wie Gorbatschow und Steinmeier, sucht er nach dem Menschlichen hinter der Fassade. Sein Credo bleibt dabei so aktuell wie zu Zeiten des Kalten Krieges: Wenn die Politik Gräben aufreißt, ist es die Aufgabe der Kunst, Brücken zu bauen.