Von Tschechows Kirschgarten zum sächsischen „Girschkarten“: Lukas Rietzschel zeigt am Schauspiel Leipzig, was passiert, wenn eine Gesellschaft ihr Unkraut wuchern lässt.
Leipzig – Es ist eine alte Geschichte: Eine Ära geht zu Ende, ein Besitz soll verkauft werden, und eine Familie zerbricht an der Frage, wie viel die Vergangenheit wert ist. Es war einmal ein prächtiger Kirschgarten, der schönste im ganzen Bezirk, sogar in Reiseführern erwähnt. Aber er hatte keine Zukunft, denn die Familie war pleite. So schrieb es Anton Tschechow 1904 in seinem letzten Stück „Der Kirschgarten“, einer „Komödie“ über vertane Chancen, an deren Ende das Areal in Parzellen aufgeteilt wurde.
Im Jahr 2025 widmet sich Lukas Rietzschel dem Erbe dieses Gartens. In seinem neuen Stück „Der Girschkarten“ blicken wir auf die letzte dieser Parzellen, die die Zeiten bis hierhin überstanden hat. Doch wo bei Tschechow einst der russische Adel in Schönheit und Wehmut unterging, herrscht hier die pragmatische Tristesse der deutschen Gegenwart.
Zwischen Carports und gleißendem Licht
Rietzschels Szenario ist schmerzhaft präzise: Zwei Neubausiedlungen stehen sich scharf gegenüber. Reihen von Einfamilienhäusern mit Carports dominieren das Bild, nachts erhellt von gleißend hellen Straßenlampen. Doch dazwischen steht noch dieses eine alte Haus in seinem verwilderten Garten – ein Störfaktor im bereinigten Wohngebiet.
In diesem Garten trifft sich die Familie, um zu beraten. Die Optionen klingen rational: Man könnte endlich richtig renovieren. Man könnte es als Ferienhaus verpachten. Oder einfach an die Bauträger rundherum verkaufen. Regisseur Enrico Lübbe, der das Stück zur Uraufführung bringt, verfrachtet dieses Setting in einen sterilen „White Cube“. In der Ecke liegt Kabelsalat, ein Symbol für den maroden Zustand der familiären Beziehungen.
Die Unschärfe der Realität
Hinter allen guten Vorschlägen lauern verstrickte Fragen, die den Riss durch die Mittelschicht offenbaren: Wer aus der Familie würde wirklich selber dort einziehen wollen? Wer würde sich um das Ferienhaus kümmern? Und wem steht das Geld zu?
Anders als bei Tschechow ist es hier nicht der Adel, der die Zeichen der Zeit verkennt, sondern das Kleinbürgertum, das sich in Widersprüchen verheddert. Emotionen und Erinnerungen prallen auf eine neue Wirklichkeit, und allmählich ziehen Unschärfen in die Debatte: Wie intakt oder kaputt ist das Haus tatsächlich? Wie viele Quadratmeter hat das Grundstück wirklich? Und haben wir das Heute nicht gestern schon einmal erlebt?
Da ist die Großmutter (Katja Gaudard), die sich der Verwertungslogik verweigert, und die Elterngeneration, die fast zynisch fordert: „Man muss sich eben trennen vom Alten, sonst verstopft die Seele.“ Rietzschel zeichnet hier eine Komödie über den Wandel der Zeit und den bröckelnden Konsens über die Realität: „Eins und eins ergibt zwei; das ist doch eine klare Sache.“ – „Für manche nicht mehr.“
Demokratie braucht Gärtner
Der verwilderte Garten wird zum Sinnbild für das Gemeinwesen. Die Botschaft ist klar: Ein Garten braucht Arbeit. Wenn Rietzschel das Unkraut – den Giersch – wuchern lässt, erzählt er von einer „Interessensanarchie“. Onkel Alexander, der unglückliche Neubaubewohner, bringt das Dilemma auf den Punkt: „Ekel vor dem Neuen trifft auf Nostalgie für das Alte.“
Ein starkes Team für die Uraufführung
Lukas Rietzschel, der in Görlitz lebt, gehört zu den prägenden literarischen Stimmen seiner Generation. Nach Erfolgen wie „Mit der Faust in die Welt schlagen“ und „Raumfahrer“ sowie dem Sächsischen Literaturpreis 2022, setzt er seine Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Leipzig fort. Bereits 2021 entstand hier sein erstes Stück „Widerstand“.
Für die Uraufführung von „Der Girschkarten“ konnte Intendant Enrico Lübbe erneut ein hochkarätiges Team gewinnen: Teresa Vergho (Kostüme), bekannt durch Arbeiten an den Münchner Kammerspielen und dem Burgtheater Wien, kleidet das Ensemble, während Peer Baierlein für die musikalische Gestaltung sorgt.
Mit „Der Girschkarten“ erweist sich Rietzschel erneut als scharfsinniger Seismograf. Er zeigt eine Gesellschaft in der Sackgasse, die vor lauter Angst vor der Zukunft und Überdruss an der Vergangenheit Gefahr läuft, einfach überwuchert zu werden. Ein starker, unbequemer Theaterabend.