Am frühen Morgen, immer jedes Jahr zum Sommerbeginn, öffnet sich an der mecklenburgischen Küste ein Tor zu einer fast utopischen Welt: Der kleine Hafen von Kamp, unweit der Insel Usedom, erwacht zum Klang von Gitarren, Trompeten und Schlagzeug. Hier, zwischen knarrenden Bootskufen und Möwenschreien, hat Wenzel, einer der profiliertesten Liedermacher Deutschlands, gemeinsam mit seiner Band und dem lokalen Hafenverein ein Festival geschaffen, das weit mehr ist als nur ein Konzert – es ist ein lebendiges Beispiel für gelebte Gemeinschaft.
Musik als soziale Utopie
„Eine Band ist für mich eine soziale Utopie“, erklärt Wenzel im Film von Lutz Kretschmann. Aufnahmen im heimischen Tonstudio in Berlin-Prenzlauer Berg, die gemeinsame Arbeit an über 30 Alben mit seinem Produzenten Tommi und das intensive Proben am Lagerfeuer in Kamp verdeutlichen, wie sehr er Musik als kollektiven Prozess versteht. „Nur in so einer Gruppe… erlebt man, wie Zuhören und Verstehen funktionieren“, so Wenzel – und gerade in einer Zeit, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt oft brüchig erscheint, wirkt dieses Ideal umso kraftvoller.
Der Hafenverein: Herzstück des Festivals
Hinter dem Festival steckt kein kommerzielles Großprojekt, sondern ein eingetragener Verein, dessen Mitglieder seit einem Vierteljahrhundert unermüdlich arbeiten. „Wir haben den Hafen gekauft, Benefizkonzerte organisiert und ein Dach für unser Vereinshaus geschaffen“, berichtet Wenzel. Bis zu 400 freiwillige Helferinnen und Helfer mähen Wiesen, spülen Gläser und bauen Bühnen auf. Ihre Motivation: Den schlechten Ruf der Region in ein positives Licht zu rücken und einen kulturellen Treffpunkt zu etablieren.
Neun Stunden Musik und hundert Songs
Die Jahresbilanz des Festivals ist beeindruckend: neun Stunden Live-Musik an einem Abend, Sets mit rund 108 Liedern und eine treue Fangemeinde, die Jahr für Jahr wiederkehrt. Wenzel selbst bricht scheinbar mühelos jeden Abend den physischen Rekord – und zeigt damit eine künstlerische Ausdauer, die nur wenige erreichen. „Früher reichte der Sonntag zur Erholung, heute brauche ich bis Dienstag“, gibt er augenzwinkernd zu.
Zwischen Poesie und Sozialkritik
Wenzels Liedtexte pendeln zwischen zarter Naturlyrik und scharfer Gesellschaftsanalyse. Zeilen wie „Wer immer auch die guten Freunde sagen, ist auch das Leben leichter zu ertragen“ oder die surreal-ironischen Bilder in „Der Irren und Idioten“ spiegeln die Ambivalenz unserer Gegenwart. Im Film lassen sie den Zuschauer eintauchen in eine Welt, in der Kunst und Realität untrennbar sind.
Heimat und Freiheit
Abseits der Bühne gewährt der Film intime Einblicke in Wenzels Alltag auf dem Land: der Blick von der Terrasse bei Sonnenuntergang, das spontane Recording bis in die frühen Morgenstunden, Spaziergänge mit Wein und Loop-Playback im Wald. Dieser Rückzugsort dient ihm als Quelle kreativer Freiheit und als Gegenpol zum Großstadttrubel. „Wenn ich deprimiert bin, setze ich mich hier hin und denke: Die Welt ist schön“, sagt er.
Mit “Lebensreise” ist Lutz Kretschmann ein Porträt gelungen, das weit über ein reines Konzert- bzw. Bandportrait hinausgeht. Es zeigt, wie viel Kraft in lokalem Engagement, in künstlerischer Verbundenheit und in der Beharrlichkeit einer kleinen Gemeinschaft an der mecklenburgischen Ostseeküste stecken kann – selbst in stürmischen Zeiten.