Am 1. Oktober 1991 vollzog sich auf der Karl‑Marx‑Allee in Ost‑Berlin ein radikaler Bruch: Wo Gewerbemieten bislang bei moderaten fünf D‑Mark pro Quadratmeter lagen, wurden ab sofort rund 50 D‑Mark fällig. Die Verkehrsachse, die sich über 2,5 Kilometer von der Frankfurter Allee bis zur Stalinallee (heute: Karl‑Marx‑Allee) erstreckt und sowohl den Bezirk Mitte als auch Friedrichshain durchquert, erwies sich schlagartig als teuerstes Pflaster der Hauptstadt.
Bereits kurz nach der Ankündigung mussten zahlreiche Einzelhändler und Gastronomen ihre Pforten schließen oder in Randlagen ausweichen. Von ehemals 110 Gewerbeeinheiten entlang des denkmalgeschützten Baudenkmals sind mehr als ein Viertel verwaist. Traditionsbetriebe wie die Karl‑Marx‑Buchhandlung prüfen nun, ob sich die rund 1 000 Quadratmeter Ladenfläche wirtschaftlich halten lassen. „Wir untersuchen, ob wir Teile unseres Verkaufsraums abtrennen und anderweitig nutzen können, um die Fixkosten zu senken“, berichtet ein Sprecher des Hauses.
Das Bezirksamt Friedrichshain verspricht Abhilfe: In Kooperation mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft sollen künftig differenzierte Tarife zwischen Verkaufs‑ und Nebenräumen gelten. Reine Ladenlokale werden weiterhin mit bis zu 50 D‑Mark berechnet, während Nebenflächen in die Gesamtmiete eingerechnet und so der durchschnittliche Quadratmeterpreis auf rund 30 D‑Mark gesenkt werden soll. Dennoch bleibt die Frage, ob klassische Nahversorger wie Tante‑Emma‑Läden oder Gemüsehändler langfristig auf der Allee bestehen können. Viele verlagern ihr Angebot bereits auf den Friedrichshainer Wochenmarkt, wo Standflächen für 95 Pfennig pro Quadratmeter und Tag zu haben sind.
Trotz der angespannten Lage herrscht entlang der Prachtstraße indes Gründerzeitstimmung: In den kommenden Wochen bietet das Bezirksamt Beratungen für Neuansiedlungen an und lädt zur Tauschbörse, in der Ladenlokale und leerstehende Wohnungen vermittelt werden. Ob dieser Kraftakt gelingt, hängt vom Mut und Einfallsreichtum der Betreiber ab – und davon, ob die Karl‑Marx‑Allee ihre Stellung als lebendige Geschäftsmeile zurückerobern kann.