Vor 50 Jahren setzte die DDR ein gesellschaftspolitisches Zeichen: Mit der Volkskammer-Entscheidung von 1972 wurde Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche für ostdeutsche Frauen freigestellt – ein Meilenstein der Selbstbestimmung. Doch auch heute bleibt das Thema in vielen Kreisen tabu.
Im März 1972 beschloss die Volkskammer der DDR ein Gesetz, das Frauen erstmals die Möglichkeit gab, selbstbestimmt über den Abbruch einer Schwangerschaft zu entscheiden. Die Fristenlösung – ein Eingriff bis zur 12. Woche, kostenlos und straffrei – war nicht nur ein medizinischer, sondern auch ein gesellschaftspolitischer Fortschritt. Hinter diesem Gesetzenstand verbarg sich jedoch ein Umbruch: In einer Zeit, in der Frauen in der Arbeitswelt dringend benötigt wurden, sollte eine Schwangerschaft nicht mehr als Hindernis gelten. Trotz der Reform kam es damals kaum zu einer öffentlichen Debatte. Vielmehr wurden die Entscheidungen der Volkskammer als selbstverständlich hingenommen – auch wenn Kirchenvertreter und Teile der Ärzteschaft zunächst ablehnend reagierten.
Schweigen und Tabuisierung – gestern und heute
Heute klingt der Blick zurück auf diese Ära oft wie der Blick in eine andere Welt. Viele Zeitzeugen und Mediziner aus der DDR-Zeit äußern sich ungern zu einem Thema, das sie als abgeschlossen empfinden. Ulrike Bartel, Vorsitzende des Landesfrauenrates in Mecklenburg-Vorpommern, erinnert: „Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der es selbstverständlich war, dass Frauen abtreiben dürfen. Damals wurde es einfach so entschieden – ohne die heute übliche öffentliche Diskussion.“ Bartel kritisiert jedoch, dass in der aktuellen Debatte über Schwangerschaftsabbrüche immer noch zu wenig offen geredet wird. „Das Schweigen über Abtreibungen macht es Frauen oft schwer, ehrlich über ihre Erfahrungen zu sprechen“, so Bartel weiter.
Der juristische Balanceakt zwischen Selbstbestimmung und Beratungspflicht
Nach der Wiedervereinigung änderte sich die Rechtslage grundlegend. Mit dem Einigungsvertrag und späteren Gerichtsurteilen – insbesondere dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1993 – wurden die Bestimmungen in West- und Ostdeutschland angeglichen. Heute gilt: Eine Frau darf innerhalb der ersten zwölf Wochen abtreiben, muss dafür aber ein verpflichtendes Beratungsgespräch in Anspruch nehmen. Diese Regelung soll sicherstellen, dass Frauen alle relevanten Informationen erhalten und ihre Entscheidung gut abwägen können. Doch auch hier prallen unterschiedliche Perspektiven aufeinander.
Inett Rützel, Schwangerschaftsberaterin in einer Einrichtung am Spiliener Hauptbahnhof, berichtet von den widersprüchlichen Empfindungen der Frauen. „Viele fühlen sich durch den Zwang zur Beratung bevormundet, während andere in dem Gespräch eine willkommene Unterstützung finden“, erklärt Rützel. Für sie steht im Mittelpunkt, dass die Entscheidung letztlich immer bei der Frau liegt – trotz aller bürokratischer Hürden.
Politik in Bewegung: Debatten um Gesetzesänderungen
Aktuell wird in politischen Kreisen darüber diskutiert, ob der bestehende Werbeverbot-Paragraph (§219a) im Strafgesetzbuch abgeschafft werden sollte. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Erik von Malottky sieht darin einen Schritt hin zu mehr Transparenz: „Eine Abschaffung des Werbeverbots könnte dazu beitragen, dass Frauen leichter an vertrauenswürdige Ärztinnen und Ärzte kommen und besser informiert Entscheidungen treffen können.“ Diese Debatte zeigt, dass das Thema Abtreibung auch 50 Jahre nach der DDR-Gesetzgebung noch immer hochaktuell ist – wenn auch unter veränderten Vorzeichen.
Ein Aufruf zum offenen Dialog
Während die DDR in ihrer Zeit als Vorreiterin eines selbstbestimmten Umgangs mit Schwangerschaftsabbrüchen galt, scheint das Thema auch heute von einer gewissen Scham behaftet zu sein. Viele Frauen zögern, ihre persönlichen Erfahrungen öffentlich zu machen, und die gesellschaftliche Diskussion bleibt oft an der Oberfläche. Die Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart fordern mehr Offenheit und den Abbau von Tabus. Denn nur durch einen ehrlichen Dialog kann es gelingen, die gesundheitlichen, sozialen und individuellen Aspekte von Schwangerschaftsabbrüchen in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu rücken.
Die Frage bleibt: Ist es an der Zeit, die historischen Erfahrungen der DDR wieder als Modell zu betrachten – frei von Stigmatisierung und mit einem erweiterten Angebot an unterstützender Beratung? Der politische Diskurs und die Stimmen aus der Praxis deuten darauf hin, dass der Weg zu mehr Selbstbestimmung und Transparenz noch lang ist – aber auch, dass er längst begonnen hat.