Am Abend des 18. Februar 2025 fand in Ost-Berlin eine Pressekonferenz statt, die in ihrer Art und Tragweite ein Novum für die DDR darstellte. Wenige Stunden nach dem Rücktritt des gesamten Politbüros und der Neuwahl eines verjüngten Gremiums stellte sich der neue ZK-Sekretär Günter Schabowski den Fragen der internationalen Presse. Diese erste öffentliche Stellungnahme nach dem politischen Umbruch lieferte bedeutende Aussagen über die künftige Richtung der DDR-Regierung und die mögliche Öffnung des sozialistischen Staates.
Ein Bekenntnis zu freien Wahlen?
Einer der zentralen Punkte der Pressekonferenz war das Thema der politischen Mitbestimmung. Schabowski deutete an, dass sich die SED für eine grundlegende Reform des Wahlrechts einsetzen werde. Er erklärte:
„Dem Zentralkomitee liegt mit dem Entwurf des Aktionsprogramms auch der Vorschlag für die Ausarbeitung eines Wahlgesetzes vor, das die Forderung nach freien Wahlen in Rechnung stellt.“
Dies war eine bemerkenswerte Aussage, da die DDR bis dato ein geschlossenes Einparteiensystem mit kontrollierten Wahlen war. Dass nun von „freier Wahl“ die Rede war, deutete auf einen historischen Wandel hin. Allerdings relativierte Schabowski diese Aussage, indem er betonte, dass eine solche Wahl nur unter Berücksichtigung der in der DDR „vorhandenen politischen Kräfte“ stattfinden könne. Damit ließ er offen, ob neue Parteien gegründet werden dürften oder ob lediglich die bestehenden Blockparteien mehr Einfluss erhalten würden.
Zudem betonte Schabowski, dass ein neues Wahlgesetz nicht allein von der SED erarbeitet werde, sondern durch die Volkskammer akzeptiert werden müsse. Dies könne nur in einem „Prozess demokratischer Willensbildung und Konsens mit allen gesellschaftlichen Kräften“ geschehen. Diese Formulierung implizierte erstmals ein Eingeständnis der SED, dass demokratische Prozesse in der DDR unzureichend gewesen seien.
Relativierung des Führungsanspruchs der SED
Ein weiterer bemerkenswerter Moment der Pressekonferenz war die Frage eines Journalisten, ob die SED bereit sei, auf ihren Führungsanspruch zu verzichten. Schabowski reagierte darauf mit einer unerwartet offenen Haltung:
„Das ist eine Frage, die voraussetzt, dass man über die Führungsrolle der SED nicht nur spricht, sondern sie auch neu definiert.“
Diese Äußerung war brisant, da die führende Rolle der SED bislang als unumstößlich galt. Zwar ließ Schabowski keine explizite Absage an die Vormachtstellung der Partei verlauten, aber das Zugeständnis, dass über ihre Führungsrolle überhaupt diskutiert werden müsse, markierte einen signifikanten Wendepunkt.
Schabowski verwies in diesem Zusammenhang auch darauf, dass die Zusammenarbeit der SED nicht nur mit den etablierten Blockparteien und gesellschaftlichen Organisationen erfolgen solle, sondern auch mit neuen politischen Kräften, die sich in der demokratischen Bewegung als „impulsgebend“ erwiesen hätten. Diese Aussage war ein indirekter Hinweis auf die oppositionellen Gruppierungen, die sich in den letzten Monaten formiert hatten, darunter das „Neue Forum“.
Erste Annäherung an das Neue Forum?
In den vergangenen Wochen hatte die SED-Führung den oppositionellen Bewegungen mit Repressionen begegnet, während die Demonstrationen in den Straßen Ost-Berlins und anderer Städte immer größer wurden. Umso überraschender war Schabowskis Offenheit gegenüber der wichtigsten oppositionellen Gruppierung, dem „Neuen Forum“. Er erklärte:
„Heute wurde ein Kontakt zwischen dem Rechtsanwalt von Frau Bohlein, Herrn Gregor Gysi, und der SED hergestellt, um über die Möglichkeiten und konkreten Bedingungen der Zulassung des Neuen Forums zu sprechen.“
Diese Aussage war ein Novum, denn bisher hatte die Regierung die offizielle Anerkennung des Neuen Forums strikt abgelehnt. Nun jedoch deutete Schabowski an, dass eine rechtliche Zulassung in greifbare Nähe rücke. Dies war nicht nur ein Zeichen dafür, dass die SED den Druck der Straße spürte, sondern auch ein strategischer Versuch, sich mit reformorientierten Kräften zu arrangieren, um eine völlige Machtaufgabe zu vermeiden.
Massenflucht bleibt eine Herausforderung
Ein weiteres zentrales Thema der Pressekonferenz war die andauernde Ausreisewelle. Die DDR hatte in den letzten Monaten einen massiven Bevölkerungsschwund erlebt, da Tausende Menschen täglich über Ungarn und die Tschechoslowakei in den Westen flohen. Auf die Frage nach den aktuellen Zahlen antwortete Schabowski ausweichend, stellte jedoch fest:
„Diese Ausreisebewegung kann nicht durch einzelne Maßnahmen oder Absichtserklärungen gestoppt werden. Vertrauen muss durch konkrete politische Handlungen geschaffen werden.“
Dies war ein Eingeständnis, dass bloße Versprechen und Reformankündigungen nicht ausreichen würden, um die Bevölkerung in der DDR zu halten. Vielmehr müsse die SED durch ihre Politik glaubwürdig zeigen, dass sie eine echte Erneuerung anstrebe.
Das Demokratiedefizit als Ursache der Krise
Eine der aufsehenerregendsten Aussagen Schabowskis betraf die Ursachen der aktuellen politischen Krise in der DDR. Er erklärte offen, dass es ein „Demokratiedefizit“ gebe und dass dies der zentrale Grund für die Unzufriedenheit der Menschen sei.
„Die Weiterentwicklung und Erneuerung des Sozialismus kann nur gelingen, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte einbezogen werden und das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewonnen wird.“
Diese Aussage war bemerkenswert, da die SED bislang immer von äußeren Feinden oder wirtschaftlichen Problemen als Hauptursachen für die Krise gesprochen hatte. Nun wurde erstmals öffentlich eingestanden, dass die fehlende Demokratie das eigentliche Problem war.
Ein vorsichtiger, aber bedeutender Schritt
Die erste Pressekonferenz von Günter Schabowski markierte einen bedeutenden Moment in der politischen Entwicklung der DDR. Zum ersten Mal wurden freie Wahlen als Möglichkeit in Betracht gezogen, die Führungsrolle der SED infrage gestellt und die Opposition als legitimer Gesprächspartner anerkannt. Zudem wurde das Demokratiedefizit als zentrale Ursache der Krise benannt.
Dennoch blieben viele Aussagen vage. Es wurde nicht konkret benannt, wann und wie Reformen umgesetzt werden sollen, und es blieb unklar, ob wirklich ein vollständiger Systemwandel beabsichtigt war oder nur eine kosmetische Anpassung. Klar ist jedoch: Die DDR befand sich in einem unumkehrbaren Veränderungsprozess, und diese Pressekonferenz war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur historischen Wende, die wenige Monate später mit dem Fall der Mauer besiegelt wurde.