Der tatsächliche Status eines Bürgers im Sozialismus hing weit weniger von seinem Bildungsgrad ab, als von seinem Zugang zu knappen Waren und westlichen Devisen.
In der offiziellen Lesart der DDR-Verfassung waren alle Bürger gleich, und der Staat definierte sich stolz als Errungenschaft der Arbeiter und Bauern. Die gesellschaftliche Realität, die sich über vier Jahrzehnte entwickelte, zeichnete jedoch ein gänzlich anderes Bild. Jenseits der staatlichen Propaganda etablierte sich eine feine, aber unmissverständliche Hierarchie, die nicht auf dem Papier stand, sondern den Alltag der Menschen dominierte. Diese Ordnung basierte nicht primär auf beruflicher Leistung oder akademischen Meriten, sondern auf einer Ressource, die in der Planwirtschaft zum entscheidenden Faktor wurde: dem Zugang. Wer Zugriff auf Waren, Dienstleistungen oder Devisen hatte, bewegte sich in einer anderen Sphäre als jene, die lediglich auf ihr monatliches Gehalt in Mark der DDR angewiesen waren.
Eine der privilegiertesten Gruppen in diesem inoffiziellen Gefüge waren die Fernfahrer, die im internationalen Güterverkehr tätig waren. Während ein Ingenieur mit Universitätsabschluss und jahrelanger Berufserfahrung oft kaum mehr als den Durchschnittslohn erhielt, verfügte ein Fernfahrer über Möglichkeiten, die ihn materiell weit über viele Akademiker stellten. Durch Spesen in D-Mark und den physischen Zugang zum westlichen Markt konnten sie Waren importieren oder Devisen in den Intershops nutzen. In einer Mangelwirtschaft wurde die D-Mark zur eigentlichen Leitwährung, die Türen öffnete, die für andere verschlossen blieben. Ein Fernfahrer konnte sich und seiner Familie einen Lebensstandard ermöglichen, der durch reguläre Arbeit im Inland kaum zu erreichen war.
Ähnlich verhielt es sich mit den Handwerkern. In einem System, das chronisch unter Materialknappheit und einem Investitionsstau in der Bausubstanz litt, wurde die handwerkliche Dienstleistung zu einem kostbaren Gut. Ein Fliesenleger oder Klempner genoss nicht nur ein hohes Ansehen aufgrund der Dringlichkeit seiner Arbeit, er konnte seine Dienste auch in einer Schattenökonomie anbieten, die weit lukrativer war als die offizielle Preisbindung vorgab. Die Währung hierfür war oft nicht Geld, sondern der Tausch. Eine handwerkliche Leistung wurde gegen Autoteile, Bückware aus dem Delikat-Laden oder andere Gefälligkeiten verrechnet. Wer reparieren konnte, hatte Macht und gestaltete seine eigene Konjunktur unabhängig von staatlichen Planvorgaben.
Im Gegensatz dazu fanden sich viele Akademiker in einer Situation wieder, die oft als Statusinkonsistenz beschrieben wird. Ärzte, Lehrer und Ingenieure genossen zwar formell Respekt, doch ihre Einkommen waren politisch gewollt nivelliert. Die Parteiführung wollte das Entstehen einer neuen bürgerlichen Elite verhindern und hielt die Gehälter der Intelligenz bewusst in einem engen Rahmen, der sich kaum von dem der Facharbeiter unterschied. Ein Oberarzt verdiente oft nur unwesentlich mehr als ein Schichtarbeiter in der Schwerindustrie. Diese Diskrepanz zwischen hoher Verantwortung, langer Ausbildungszeit und vergleichsweise geringer materieller Gratifikation führte bei vielen Intellektuellen zu einer inneren Distanzierung vom System oder zur Resignation.
Eine Sonderrolle nahm das Personal im Einzelhandel ein. Verkäuferinnen und Verkäufer verfügten zwar selten über hohe Gehälter, doch ihre Position an der Quelle der Verteilung verlieh ihnen erheblichen Einfluss. Sie entschieden faktisch darüber, wer die frische Ware unter dem Ladentisch erhielt und wer leer ausging. Diese Verteilungsmacht ließ sich in soziale Beziehungen ummünzen, die das eigene Leben erleichterten. Man kannte jemanden, der jemanden kannte, und in diesem Netzwerk der Gefälligkeiten war die Verkäuferin eine zentrale Knotenpunkte, die oft besser versorgt war als ihre Kunden mit höheren akademischen Titeln.
Ganz oben in dieser Pyramide stand die politische Nomenklatura, deren Privilegien struktureller Natur waren. Für die Parteielite in Berlin-Wandlitz oder die Bezirkssekretäre galten die Einschränkungen des Alltags nicht. Sie lebten in einer Parallelwelt mit eigenen Versorgungseinrichtungen, Sonderläden und Dienstfahrzeugen. Ihr Wohlstand definierte sich nicht über das Gehalt auf dem Konto, sondern über die Exklusivität des Zugangs zu einem Leben, das westlichen Standards entsprach, während sie gleichzeitig der Bevölkerung Wasser predigten. Diese sichtbare Doppelmoral untergrub die Glaubwürdigkeit des Staates massiv und förderte den Zynismus in der Bevölkerung.
Am unteren Ende der Skala fanden sich jene wieder, die weder über Devisen noch über Tauschwaren oder politische Protektion verfügten. Dazu gehörten oft Alleinerziehende, Rentner mit gebrochenen Erwerbsbiografien oder politisch Unangepasste, denen Bildungs- und Aufstiegswege systematisch verbaut wurden. Wer in der DDR „in Ungnade“ gefallen war oder einen Ausreiseantrag gestellt hatte, rutschte oft in den Bereich der Hilfsarbeiten ab und wurde gesellschaftlich isoliert. Für diese Menschen war die propagierte Geborgenheit im Sozialismus eine hohle Phrase, da sie die Härte des Systems ohne jegliche Abfederung durch Privilegien zu spüren bekamen.
Rückblickend zeigt sich die DDR-Gesellschaft als ein komplexes Schichtsystem, das weniger durch Klassen im marxistischen Sinne, als durch Versorgungsstände geprägt war. Die Frage „Wer bin ich?“ wurde oft überlagert von der Frage „Wen kenne ich?“ oder „Was habe ich anzubieten?“. Diese Prägung durch eine Mangelökonomie hinterließ Spuren in den Biografien und Verhaltensweisen, die auch Jahre nach dem Ende des Staates noch nachwirkten. Es war eine Schule des pragmatischen Überlebens, in der die offizielle Ideologie oft nur noch als Hintergrundrauschen wahrgenommen wurde, während das wahre Leben in den Nischen der Tauschgeschäfte und Beziehungen stattfand.