Wenige Wochen nach der Öffnung der Grenze, in jenem kurzen historischen Vakuum zwischen dem Ende der SED-Alleinherrschaft und der staatlichen Wiedervereinigung, ereignete sich in Ost-Berlin ein bemerkenswertes Zusammentreffen. Am 2. Dezember 1989 versammelten sich im „Haus der Jungen Talente“ Musiker und Intellektuelle, die durch die Politik der DDR über Jahre getrennt worden waren. Unter dem Titel „Verlorene Lieder – verlorene Zeit“ begegneten sich Ausgebürgerte und Hiergebliebene auf einer Bühne. Das Konzert diente nicht der bloßen Unterhaltung, sondern fungierte als ein öffentliches Tribunal der verdrängten Konflikte.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand Wolf Biermann. Seine Ausbürgerung im Jahr 1976 hatte die kulturelle Landschaft der DDR nachhaltig traumatisiert und eine Welle der Ausreise ausgelöst. Nun kehrte er zurück, begleitet von einer Haltung, die keinen Zweifel an seiner moralischen Überlegenheit ließ. Biermann inszenierte sich als Ankläger eines bankrotten Systems. Seine Lieder, wie die „Ballade vom Gut-Kirschen-Essen“, wirkten in diesem Moment wie die Vollstreckung eines lange aufgeschobenen Urteils. Für viele im Saal verkörperte er den Sieg der Freiheit, für andere jedoch eine Arroganz, die die Lebensleistung derer im Osten ignorierte.
Ein gänzlich anderer Tonfall prägte den Auftritt von Bettina Wegner. Während Biermann die politische Auseinandersetzung suchte, artikulierte Wegner den physischen und psychischen Schmerz des Exils. Ihre Darbietung verdeutlichte, dass die „verlorene Zeit“ nicht einfach nachgeholt werden konnte. Die Zerrissenheit der Biografien, das Fehlen des vertrauten Publikums und die Entfremdung von der Heimat ließen sich nicht durch die Grenzöffnung ungeschehen machen. Wegner sprach jene emotionale Ebene an, die in der harten politischen Debatte der Wendezeit oft überhört wurde.
Die Perspektive der im Land verbliebenen Künstler vertraten unter anderem Hans-Eckardt Wenzel und Steffen Mensching. Sie sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, durch ihr Bleiben das System stabilisiert zu haben. Wenzel wehrte sich gegen diese Lesart und verteidigte eine spezifisch ostdeutsche Identität, die sich in der „Sklavensprache“ der Kunst behauptet hatte. Für diese Gruppe bedeutete der 2. Dezember nicht nur Befreiung, sondern auch den Beginn eines Rechtfertigungsdrucks gegenüber denjenigen, die aus dem Westen zurückkehrten und die Deutungshoheit über den Widerstand beanspruchten.
Ein historisches Novum stellte die Beteiligung von Regierungsvertretern dar. Kulturminister Dietmar Keller nutzte das Podium für eine offizielle Entschuldigung bei den ausgebürgerten Künstlern. Dass ein amtierender Minister der Staatspartei öffentlich Fehler eingestand und um Verzeihung bat, unterstrich den rapiden Zerfall der alten Machtstrukturen. Dennoch wurde diese Geste von Teilen des Publikums und der Künstler skeptisch aufgenommen. Das Misstrauen gegenüber den taktischen Manövern der SED, die sich in die neue Zeit retten wollte, blieb im Raum greifbar.
Die Diskussionen, die sich an den musikalischen Teil anschlossen, offenbarten die tiefen Risse innerhalb der Opposition. Es prallten unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinander: Der radikale Bruch mit dem System durch Ausreise stand gegen den Versuch der inneren Reform. Die Debatte zeigte, dass die Solidarität der Unterdrückten endet, sobald der gemeinsame Gegner verschwindet. Biermanns Polemik gegen die Anpassung der Dagebliebenen traf auf den Stolz derer, die die Revolution von innen erkämpft hatten.
Auch das Publikum spielte eine entscheidende Rolle. Die Wortmeldung eines Arbeiters aus Gera brachte eine pragmatische Sichtweise in die intellektuelle Debatte ein. Während auf der Bühne über Utopien und Verrat gestritten wurde, artikulierte sich im Saal der Wunsch nach konkreter Lebensverbesserung und Konsum. Diese Diskrepanz zwischen der künstlerischen Elite, die oft noch einem demokratischen Sozialismus anhing, und der breiten Bevölkerung, die sich nach westlichem Wohlstand sehnte, wurde an diesem Abend deutlich sichtbar.
Die mediale Übertragung durch den Jugendsender DT64 und das DDR-Fernsehen verlieh dem Ereignis nationale Relevanz. Die ungefilterte Ausstrahlung der kontroversen Debatten war ein Beleg für die neu gewonnene Pressefreiheit. Das Konzert wurde so zu einem kollektiven Erlebnis, das die Zuschauer im ganzen Land mit den ungelösten Fragen der Vergangenheit konfrontierte. Es war ein Moment der Transparenz, der in den streng regulierten Medien der DDR zuvor undenkbar gewesen wäre.
Rückblickend erscheint der 2. Dezember 1989 als ein Dokument der Ungleichzeitigkeit. Die Freude über das Wiedersehen wurde durch die Erkenntnis getrübt, dass die Erfahrungen von Ost und West nicht deckungsgleich waren. Die Hoffnung auf eine gemeinsame Erneuerung der Kultur wich bald der Realität der Abwicklung. Das Konzert „Verlorene Lieder“ hält jenen kurzen Augenblick fest, in dem die Geschichte offen schien, bevor die normativen Kräfte der Wiedervereinigung neue Fakten schufen.