31. August 1994. Die Sonne brennt, als der russische Präsident Boris Jelzin, sichtlich beschwingt, dem Dirigenten des Polizeiorchesters den Taktstock aus der Hand reißt. Eine Szene für die Geschichtsbücher, halb peinlich, halb befreiend. Sie markiert den schrillen Schlussakkord einer Besatzung, die 49 Jahre dauerte. Doch hinter diesem bizarren Festakt verbirgt sich eine logistische und menschliche Tragödie, deren Spuren bis heute in den sandigen Böden Brandenburgs und den zerstörten Städten der Ukraine zu finden sind.
Es war eine Operation der Superlative, die im Schatten der Wiedervereinigung fast geräuschlos abgewickelt wurde. Über eine halbe Million Menschen – Soldaten, Zivilangestellte, Familien – mussten zurück in ein Reich, das gerade zerfiel. Mit ihnen reisten 4.000 Panzer und unzählige Tonnen Munition. Die „Westgruppe der Truppen“, einst der stählerne Stolz Moskaus und die Faust gegen die NATO, wurde nicht militärisch geschlagen, sondern vertraglich abgewickelt und per Bahn und Schiff nach Osten verfrachtet.
Das logistische Nadelöhr für diesen Rückzug lag auf der Insel Rügen. Im Fährhafen Mukran, gebaut für den Krieg, rollten nun Panzer in den Frieden. Breitspur-Waggons verschwanden in den Bäuchen riesiger Fähren Richtung Klaipeda, um den mühsamen Spurwechsel an der polnischen Grenze zu umgehen. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, getrieben von einem engen Zeitplan, der keine Rücksicht auf die chaotischen Zustände in der Heimat der Soldaten nahm, wo oft weder Kasernen noch eine Zukunft auf sie warteten.
Um diesen Abzug überhaupt möglich zu machen, griff die Bundesregierung tief in die Tasche. Rund 12 Milliarden D-Mark flossen nach Moskau, ein „Schweigegeld“ für die Freiheit, wie Spötter meinten. Der größte Posten: Ein gigantisches Wohnungsbauprogramm. Deutsche Firmen stampften in Russland, Belarus und der Ukraine ganze Stadtviertel aus dem Boden. Moderne Siedlungen mit Schulen und Polikliniken sollten den entwurzelten Offizieren eine neue Heimat bieten und sozialen Sprengstoff entschärfen.
Die Ironie der Geschichte zeigt sich heute an Orten wie Krywyj Rih oder Charkiw in der Ukraine. Dort stehen jene mit deutschen Milliarden finanzierten „Friedenssiedlungen“, die einst für die Rückkehrer der Roten Armee gebaut wurden. In den aktuellen Kriegsnachrichten tauchen sie wieder auf – nun als Ziele russischer Angriffe. Was als Instrument der Stabilisierung gedacht war, ist heute Teil eines Schlachtfelds, auf dem die Enkel der damaligen Abzügler einen brutalen Krieg führen.
Während die Soldaten gingen, blieb ihr toxisches Erbe im Boden zurück. Die ökologische Bilanz der Besatzung war verheerend. In Lärz oder Parchim schwammen riesige Kerosinseen auf dem Grundwasser, Hinterlassenschaften undichter Tanks und achtloser Betankungen. Ganze Wälder rund um Jüterbog sind bis heute Sperrzonen, weil dort tonnenweise Munition im Sand liegt. Wenn es dort brennt, kann die Feuerwehr oft nur zusehen, weil das Betreten der „verbrannten Erde“ lebensgefährlich ist.
Für die russischen Offiziere selbst war der Abzug oft eine Demütigung. Sie kamen als Sieger des Zweiten Weltkriegs und gingen als Verlierer des Kalten Krieges, oft degradiert zu Händlern auf Flohmärkten, wo sie Uniformteile und Ausrüstung für Westmark verramschten. Ihr Oberkommandierender Burlakow wollte als Letzter gehen, doch die politische Inszenierung in Berlin stahl ihm die Show. Zurück blieben Geisterstädte wie Wünsdorf, wo Lenin-Statuen noch lange einsam Wache hielten.