Es gibt Momente in der Geschichte, in denen die Zeit für einen Wimpernschlag stillzustehen scheint. Momente, in denen die Weichen für Jahrzehnte gestellt werden, oft ohne dass es den Beteiligten in voller Tragweite bewusst ist. Ein solcher Moment ereignete sich im späten Herbst 1989 im Rathaus Schöneberg. Der Gastgeber: Walter Momper, Regierender Bürgermeister von Berlin (West). Seine Gäste: die erschöpften, aber hoffnungsvollen Gesichter der DDR-Revolution – Bärbel Bohley vom Neuen Forum, Ibrahim Böhme von der SDP, Rainer Eppelmann vom Demokratischen Aufbruch.
Die Mauer war gefallen, die Macht der SED erodierte stündlich. Doch im Machtvakuum des Ostens herrschte nicht nur Freiheit, sondern auch Orientierungslosigkeit. Momper, der pragmatische Sozialdemokrat, sah das Unheil kommen. In seinem Buch „Grenzfall“ beschreibt er die Szenerie eindringlich. Er wollte keine Höflichkeitsbesuche. Er wollte Handlungsfähigkeit.
Der Ruf nach Macht
„Wenn Sie den Leuten nicht sagen, wie es weitergeht, wird Helmut Kohl es tun“, warnte Momper die Runde. Es war ein Satz von prophetischer Schärfe. Momper zog den Aufruf „Für unser Land“ aus der Tasche, wie einen letzten Trumpf. Er beschwor die Bürgerrechtler: „Die Alternative steht jetzt an. Wenn Sie ihre Eigenständigkeit bewahren wollen, müssen Sie jetzt handeln.“
Für den West-Berliner Bürgermeister war die Logik der Macht zwingend: Wer ein Regime stürzt, muss bereit sein, an dessen Stelle zu treten. Sonst füllen andere die Lücke.
Die Weigerung der Moral
Doch auf der anderen Seite des Tisches saß eine andere Logik. Bärbel Bohley, die Ikone der Bürgerbewegung, antwortete mit einer Haltung, die in ihrer moralischen Reinheit fast tragisch wirkt: „Ich will nicht Regierung sein. Ich will nicht Macht über Menschen ausüben. Wir sind und bleiben Opposition.“
Ihr Argument war so ehrenwert wie politisch fatal: Die SED habe die DDR in den Ruin gewirtschaftet, also müsse die SED die Suppe auch auslöffeln. „Das können wir ihr nicht abnehmen“, so Bohley. Es war die Weigerung, sich die Hände schmutzig zu machen, geboren aus der tiefen Skepsis gegenüber jeglicher Machtausübung, die die DDR-Opposition geprägt hatte.
Das historische Urteil
Der Abend im Rathaus Schöneberg markiert den Scheidepunkt der Wende. Mompers Warnung bewahrheitete sich schneller, als es sich die Anwesenden vorstellen konnten. Weil die Bürgerrechtler zögerten, „Regierung zu sein“, und weil sie die Macht als etwas Schmutziges ansahen, statt als Werkzeug zur Gestaltung, übernahmen andere das Steuer.
Die „Allianz für Deutschland“ füllte das Vakuum, und Helmut Kohl tat genau das, was Momper vorhergesagt hatte: Er sagte den Leuten, wie es weitergeht. Die Chance auf einen „Dritten Weg“, auf eine verfassungsgebende Versammlung oder eine langsame Konföderation, starb nicht erst am Wahltag im März 1990. Sie starb vielleicht schon an jenem Abend im Rathaus Schöneberg, als die Moral über die Macht siegte – und sich damit selbst entmachtete.