Rauchzeichen über Erfurt: Als Bürger die Stasi-Akten retteten

Es riecht nach verbranntem Papier in diesen Tagen im Dezember 1989. Aus den Schornsteinen der Stasi-Dienststellen steigt Rauch auf, dunkler und dichter als sonst. Was viele ahnen, wird am Morgen des 4. Dezember zur Gewissheit: Die Staatssicherheit vernichtet ihr eigenes Gedächtnis. Es ist der Tag, an dem die Angst die Seiten wechselt und Bürger zu Archivaren der Revolution werden.

Das Signal aus dem Radio
Den entscheidenden Funken liefert ein ungewöhnliches Interview im „Berliner Rundfunk“. Ein Mann, der sich Frank L. nennt, bricht sein Schweigen. Er ist Mitarbeiter der Staatssicherheit und er bestätigt live im Radio, was auf den Straßen nur als Gerücht kursiert: „Es geht mir darum, dass Akten oder Unterlagen oder Papiere verbrannt werden, vernichtet werden, durch den Ofen gehen.“

Die Stasi, die sich erst Mitte November hastig das neue Etikett „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) aufgeklebt hat, versucht ihre Spuren zu verwischen. Während intern neue Richtlinien zur Überwachung der Bevölkerung ausgegeben werden (datiert auf den 2. Dezember), laufen in den Heizungskellern die Öfen heiß.

Zivilcourage gegen die „Verkollerung“
In Erfurt verstehen die Menschen das Radiosignal sofort: Wenn jetzt nicht gehandelt wird, sind die Beweise für Jahrzehnte der Unterdrückung für immer verloren.

Es sind die Frauen der Bürgerinitiative „Frauen für Veränderung“, die den ersten Schritt wagen. Sie rufen zur Besetzung der Erfurter Bezirksverwaltung auf. Was folgt, ist ein beispielloser Akt der Solidarität. Die städtischen Verkehrsbetriebe stellen sich quer – wortwörtlich. Mit einem Lkw blockieren sie die Zufahrt zum Gebäudekomplex in der Andreasstraße. Kein Fahrzeug soll mehr mit Akten das Gelände verlassen.

Zusammen mit herbeigerufenen Militärstaatsanwälten dringen die Bürgerrechtler in die Festung des Geheimdienstes ein. Sie finden sogenannte „Verkollerungsanlagen“ – Maschinen, konstruiert, um Papierberge in unleserliche Klumpen zu verwandeln. Doch die Bürger kommen rechtzeitig. Sie versiegeln die Türen. Sie retten die Akten.

Ein Flächenbrand der Freiheit
Die Nachricht aus Erfurt verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die sterbende DDR. „Der 4. Dezember war der Anfang vom Ende der Staatssicherheit“, wird die Bürgerrechtlerin Barbara Sengewald später sagen.

Die Erfurter Aktion löst eine Kettenreaktion aus, die selbst General Wolfgang Schwanitz, den neuen Stasi-Chef, überrollt. Noch am selben Tag fallen die Bastionen in Suhl, Leipzig und Rostock. Am 5. Dezember folgen die meisten anderen Bezirkshauptstädte.

Schwanitz‘ Versuch, die Wogen zu glätten, indem er die Vernichtung offiziell stoppt, aber „sensible Akten“ weiterhin vorenthalten will, scheitert am Misstrauen der Bevölkerung. Die Bürger übernehmen die Kontrolle.

Die Bilanz
Ende Dezember 1989 ist der mächtige Apparat faktisch handlungsunfähig. Sieben der 15 Bezirksverwaltungen haben ihre Arbeit komplett eingestellt, acht weitere funktionieren nur noch eingeschränkt.

Der 4. Dezember 1989 markiert damit einen historischen Wendepunkt: Es war der Tag, an dem die DDR-Bürger entschieden, dass ihre Geschichte nicht in den Öfen der Täter enden darf, sondern aufgearbeitet werden muss. Ein Erbe, das in den Kilometern geretteter Akten bis heute fortbesteht.