Die Volkskammersitzung im November 1989 war einer jener seltenen Augenblicke, in denen ein politisches System sich selbst beim Implodieren zusah. Abgeordnete, die jahrzehntelang Teil der staatlichen Maschinerie gewesen waren, stellten plötzlich Fragen nach Verantwortlichkeiten – so, als stünden sie selbst außerhalb der Politik, der sie doch bis eben angehörten. Der Saal wirkte wie ein Raum, in dem Rollen ins Rutschen geraten waren.
Als Erich Mielke das Rednerpult betrat, wurde der Bruch vollends sichtbar. Sein Satz „Wir haben Genossen, liebe Abgeordnete…“ löste Gelächter aus – nicht wegen des Wortes, sondern wegen der plötzlich sichtbaren Diskrepanz zwischen Machtpose und Realität. Ein Abgeordneter meldete sich „Zur Geschäftsordnung!“ und erinnerte daran, dass nicht nur Genossen im Saal säßen. Mielkes Antwort – „Ich bitte um Verzeihung… Ich liebe doch alle Menschen“ – wurde zum grotesken Höhepunkt eines politischen Theaterstücks, dessen Dramaturgie niemand mehr kontrollierte.
Im weiteren Verlauf seiner Rede (Video in den Kommentaren) bemühte sich Mielke, die jahrzehntelange Tätigkeit des MfS als Hinweis- und Meldesystem darzustellen: Berichte über Ärzte, Lehrer, Republikflüchtige, über „Unzulänglichkeiten“ und Missstände aller Art. Als Zwischenrufe laut wurden – „Wo?“ und „Aber nicht den Abgeordneten!“ – trafen Vergangenheit und Gegenwart hart aufeinander. Die Diskrepanz zwischen dem behaupteten Wissen der Führung und dem tatsächlichen Wissen vieler Abgeordneter stand mitten im Raum.
Auffällig war nicht allein Mielkes Darstellung, sondern der Tonfall der Zwischenrufer. Ihre Empörung wirkte, als seien sie selbst unbeteiligte Zuschauer eines Systems, dessen Mechanismen ihnen plötzlich fremd geworden waren. Dabei lebten sie – wie Millionen andere – mitten in dieser Republik. Die Frage, ob sie tatsächlich nichts wussten, ob sie nichts wissen wollten oder ob ihnen die Informationskanäle fehlten, blieb unausgesprochen. Aber sie lag wie ein offener Schatten über der Sitzung.
In diesen Minuten zeigte sich ein Kernproblem der späten DDR: ein Auseinanderfallen von offizieller Darstellung, gelebter Erfahrung und institutioneller Verantwortung. Die Volkskammer war noch dieselbe wie vor wenigen Monaten – doch die Wahrnehmung der eigenen Rolle war eine völlig andere geworden. Es war der Moment, in dem die Abgeordneten erkennbar mit einer politischen Ordnung brachen, der sie selbst jahrzehntelang angehört hatten. Und in dem sichtbar wurde, wie wenig dieses System über die Jahre wirklich miteinander gesprochen hatte.
Ein Staat, der sich selbst nicht mehr verstand, begann an diesem Tag, sich laut hörbar zu erklären – und gleichzeitig endgültig zu verabschieden.