
Es gibt Bilder, die sich eingebrannt haben: jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer, Freudentränen, die Sektkorken knallen. Doch manchmal erzählt die Euphorie des 9. November 1989 nur die halbe Wahrheit. Der eigentliche Wandel – der innere Zusammenbruch des Systems – begann Wochen vorher, leise, beinahe unspektakulär. Wer genau hinsieht, entdeckt in den Meldungen eines einzigen Tages, des 25. Oktober 1989, die stille Revolution unter der Oberfläche.
„Dialog“ war plötzlich das neue Zauberwort. Über Nacht wollten alle reden: Oberbürgermeister, Parteisekretäre, sogar Politbüromitglieder in den Betrieben. In Jena, Zwickau, Neubrandenburg – überall bot man Gesprächsrunden an. Es war, als hätten sie begriffen, dass sich Macht nicht mehr verordnen ließ. Aber vielleicht war es auch nur Taktik: Der Versuch, das Unkontrollierbare, die Straße, wieder einzufangen.
Ich erinnere mich an diesen Tonfall, dieses hastige „Wir wollen reden“ – wie ein Vater, der plötzlich merkt, dass sein Kind erwachsen geworden ist. Nur dass die Kinder längst aufgebrochen waren.
Kaum war Honecker gestürzt, stand Egon Krenz auf der Bühne – und fiel schon beim ersten Auftritt durch. Die Menschen hatten ihn durchschaut. Kein Reformer, sondern das Gesicht des Alten mit frischer Frisur. „Egon weg, hat kein Zweck“, stand auf Transparenten.
Die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ schrieb damals eine Erklärung, die fast wie ein juristisches Dokument klang: Wahlfälschung, Polizeigewalt, Solidarität mit Peking. Es war das erste Mal, dass eine Opposition in der DDR so präzise, so sachlich, so unmissverständlich argumentierte. Keine Parolen, sondern Fakten. Eine Lektion in Demokratie – noch bevor das Wort wirklich galt.
Am selben Tag trat der Berliner Polizeipräsident Friedhelm Rausch vor die Presse und sagte, es sei zu „Überschreitungen von Befugnissen“ gekommen. Übersetzt hieß das: Wir haben überreagiert. Es war das erste Mal, dass die Volkspolizei Fehler einräumte. 150 Beschwerden lagen auf dem Tisch, einige Beamte hatten sich persönlich entschuldigt.
Für mich war das der eigentliche Wendepunkt – nicht der Mauerfall, nicht Krenz’ Amtsantritt, sondern dieser Satz: Es tut uns leid. In einem Staat, der nie Fehler kannte, war das revolutionär.
Und auch die Journalisten spürten: Jetzt oder nie. Ihr Verband forderte ein Mediengesetz, Pressekonferenzen, einen Regierungssprecher. Man wollte nicht länger Sprachrohr sein, sondern kritische Instanz. Der Ton war neu – sachlich, aber mutig. Sie schrieben, als glaubten sie plötzlich wieder an die Kraft des Wortes.
Vielleicht war das die eigentliche Revolution: nicht die Nacht auf der Mauer, sondern dieser Tag im Oktober, an dem das Land zu reden begann – ehrlich, vorsichtig, unaufhaltsam.
Wenn ich heute auf diese alten Meldungen schaue, sehe ich mehr als ein Ende. Ich sehe einen Aufbruch, der mitten in der alten Ordnung begann.
Und ich frage mich: Welche unserer heutigen Selbstverständlichkeiten könnten morgen schon der Anfang vom Ende sein?