Antisemitische Vorfälle in Sachsen-Anhalt erreichen alarmierendes Niveau

Magdeburg. Der aktuelle Jahresbericht der Meldestelle Antisemitismus RIAS Sachsen-Anhalt für das Jahr 2024 zeigt einen besorgniserregenden Anstieg und eine „Verhärtung der Einstellungen“ antisemitischer Vorfälle im Land. Die Präsentation in der Magdeburger Synagoge, moderiert von Elisa Kiro von OFFEK e.V., dem Träger der Meldestelle, hob die weitreichenden Folgen für jüdinnen und Juden hervor und unterstrich die Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Reaktion.

Insgesamt wurden RIAS Sachsen-Anhalt im Jahr 2024 landesweit 202 antisemitische Vorfälle bekannt, was einer Zunahme von 13 Prozent im Vergleich zu den 178 dokumentierten Fällen im Vorjahr 2023 entspricht. Besonders alarmierend ist, dass der Anstieg primär durch gewalttätigere Vorfallsarten wie gezielte Sachbeschädigungen, Bedrohungen und Angriffe begründet ist.

Dr. Wolfgang Schneiß, Ansprechpartner für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus, beschrieb die Ergebnisse als „Panoptikum der Scheußlichkeiten“ und betonte, dass die Landesregierung die Situation nicht ignorieren werde. Er hob hervor, dass Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus damit beginnen müssten, ihn zu erkennen und sichtbar zu machen, und kündigte eine Aufstockung der Mittel für RIAS Sachsen-Anhalt an, um deren Präsenz im Flächenland zu stärken.

Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFFEK e.V., sprach von „tektonischen Verschiebungen“ im Sicherheitsempfinden jüdischer Menschen. Sie betonte, dass jeder antisemitische Vorfall ein Angriff auf die Integrität, Identität und Zukunftsperspektiven der Betroffenen sei und ein Symbol für tiefere gesellschaftliche Strukturen. OFFEK, die Beratungsstelle für Betroffene antisemitischer Gewalt und Diskriminierung, hat im ersten Jahr nach den Massakern vom 7. Oktober 2023 rund 1900 Fälle bundesweit beraten, davon 100 in Sachsen-Anhalt. Chernivsky unterstrich, dass diese hohe Zahl die Überwindung einer „sehr hohen Schwelle“ durch die Ratsuchenden zeige.

Erscheinungsformen und Täterprofile
Der Bericht identifiziert verschiedene Erscheinungsformen des Antisemitismus. Der Post-Shoah-Antisemitismus hat sich im Vergleich zu 2023 fast verdoppelt und ist mit 87 Fällen die am häufigsten erfasste Form. Dazu gehören Angriffe auf die Erinnerung an die Shoah, Verharmlosung oder Leugnung sowie antisemitische Verherrlichung des Nationalsozialismus. Besonders auffällig waren hier Vorfälle um wichtige Gedenktage wie den 7. Oktober, 9. Oktober und 9. November, bei denen Stolpersteine gestohlen oder beschädigt und Gedenkveranstaltungen gestört wurden.

Der Israelbezogene Antisemitismus blieb im Jahr 2024 auf hohem Niveau und zeigt sich vermehrt auf Versammlungen (28 im Jahr 2024 gegenüber 11 in 2023). Ein neues Phänomen ist der Anti-israelische Aktivismus, der 2024 erstmals mit 25 Vorfällen auftrat und insbesondere im Umfeld von Universitäten und Hochschulen in den Großstädten etabliert ist. Diese Gruppen nutzen Demonstrationen, Kundgebungen und Flugblätter zur Verbreitung antisemitischer Aussagen, einschließlich der Delegitimierung und Dämonisierung Israels sowie der Glorifizierung terroristischer Handlungen gegen Israel.

Die Verfasser des Berichts, Marie-Christin Batz und Dr. Michael Schüssler von RIAS Sachsen-Anhalt, wiesen darauf hin, dass Antisemitismus in allen Lebensbereichen stattfindet: am häufigsten im öffentlichen Raum wie Straßen und Nahverkehr, aber auch zunehmend in Bildungseinrichtungen, Kultureinrichtungen und im persönlichen Nahbereich wie dem Wohnumfeld und am Arbeitsplatz.

Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft
Inesa Mislitzerka, Vorsitzende des Landesverbands jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, schilderte die zutiefst erschütternden Erfahrungen der jüdischen Gemeinschaft. Sie berichtete von persönlichen Erlebnissen wie zertrampelten Blumen am Denkmal der zerstörten Synagoge nach einer Gedenkfeier zur Pogromnacht und einem angezündeten Mesusa am Haus des Rabbiners. Solche Vorfälle führten zu großer Sorge und dem Gefühl, dass der Schutz nicht aus der Gesellschaft komme. Jüdinnen und Juden seien gezwungen, ihre jüdische Identität und Symbole zu verbergen, um Angriffen zu entgehen.

„Nach dem 7. Oktober wissen jüdinnen und Juden in Deutschland, wo sie leben und woran sie sind“, erklärte Marina Chernivsky. Die Zunahme der Gewaltbereitschaft sei eine Realität, die das jüdische Leben in allen Bereichen durchdringe und die Teilhabe einschränke.

Forderungen und Ausblick
Die Sprecher appellierten an die Gesellschaft, eine klare Haltung einzunehmen, die Bildung zu verbessern und eine konsequente Strafverfolgung sicherzustellen. Dr. Schneiß betonte, dass Antisemitismus auch ein „Türöffner für andere Feindlichkeiten und Radikalisierungen“ sei und in Deutschland eine besondere Verpflichtung bestehe, ihm entgegenzutreten.

Der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt setzt auf Bildungsarbeit, beispielsweise durch Führungen in der neuen Magdeburger Synagoge, um Vorurteile abzubauen und ein wahrhaftiges Bild des Judentums zu vermitteln. Zudem werden Präventionsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit der Polizei angeboten, um Gemeindemitgliedern Strategien zum Umgang mit antisemitischen Übergriffen zu vermitteln.

Die Meldestelle RIAS Sachsen-Anhalt, die unabhängig von politischen Weisungen arbeitet, kooperiert eng mit jüdischen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Beratungsnetzwerken. Sie agiert dabei streng betroffenenorientiert und gibt gemeldete Straftaten nicht automatisch an die Polizei weiter, sondern nur im Auftrag der Ratsuchenden und nach Abwägung der individuellen Situation. Diese Herangehensweise schafft Vertrauen und ermöglicht es Betroffenen, ihre Erfahrungen sicher zu teilen.

Obwohl die Zahlen des RIAS-Berichts erschütternd sind, betonen die Experten, dass sie nur einen Teil des Gesamtbildes widerspiegeln. Das wahre Ausmaß von Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen zeige sich auch in Studien, Beratungsfällen und dem veränderten gesellschaftlichen Klima, das mehr Bedrohungspotenziale schaffe.