Vom Todesstreifen zum Grünen Band: Vogtlands Wandel seit 1989

Vor fünfunddreißig Jahren fiel die Mauer, und das Vogtland, eine Region, die jahrzehntelang von der innerdeutschen Grenze geprägt war, erlebte einen fundamentalen Wandel. Doch während die physischen Mauern verschwanden, stellen sich heute viele die Frage: Tragen wir noch Mauern in uns? Der Transformationsprozess im Vogtland über drei bewegte Jahrzehnte war geprägt von Einbrüchen und Erfolgsgeschichten, von Euphorie und Ernüchterung, und er ist auch nach 30 Jahren noch nicht abgeschlossen.

Die Last der Vergangenheit: Ein Regime der Unterdrückung und Angst
Die DDR mauerte ihre Bürger vierzig Jahre lang regelrecht ein. Die innerdeutsche Grenze war ein Symbol für das nach innen geschlossene Gesamtsystem DDR. Wer versuchte, die Sperranlagen zu überwinden, riskierte sein Leben – Hunderte wurden an der Grenze getötet. Allein im Vogtland verlief die Grenze auf fast 1400 Kilometern. Die DDR war ein System, das auf Angst vor Verfolgung und Repressalien aufgebaut war. Schon der Gedanke an eine Flucht wurde vom SED-Regime nicht toleriert. Die Staatssicherheit (Stasi) beschäftigte allein in Plauen etwa 700 offizielle oder inoffizielle Mitarbeiter. Viele entwickelten zwei Identitäten. Dieses Regime der Unterdrückung und Angst hat viele Menschen geprägt. Wie Mario Goldstein am eigenen Leib erfahren musste, konnte selbst das Sprechen über Fluchtpläne innerhalb des Freundeskreises schwerwiegende Folgen haben und das Vertrauen missbrauchen. Der Dienst bei den Grenztruppen konfrontierte die Soldaten direkt mit der unmenschlichen Härte des Systems. Jörg Schneider, 1986 zu den Grenztruppen einberufen, lehnte den Gedanken ab, auf Menschen zu schießen.
In den 1980er Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der DDR drastisch – der totale Bankrott schien nur eine Frage der Zeit. Auch die einst blühende Textilindustrie im Vogtland, bekannt für die weltbekannte Plauener Spitze und ein wichtiges Devisenbringer für die DDR, litt unter veralteten Produktionsmethoden und Mangelwirtschaft. Die steigende Abwanderung von Fachkräften verschärfte die Probleme in allen Bereichen. Für den Großteil der Bevölkerung war nicht ersichtlich, wie schlecht es der Wirtschaft wirklich ging.

Der friedliche Herbst 1989 und die Hoffnung auf Einheit
Im Herbst 1989 entlud sich, was sich über 40 Jahre aufgestaut hatte. Als Anfang Oktober die Züge mit Flüchtlingen aus Prag durch das Vogtland fuhren, war die Stimmung aufgeheizt. Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, gingen in Plauen erstmals Tausende für Freiheit und Demokratie auf die Straße. Trotz des Einsatzes von Wasserwerfern gelang es der Staatsmacht nicht, die Menge aufzulösen. Ein Demonstrationszug mit mindestens 15.000 Menschen bildete sich. Dank der Vermittlung von Superintendent Thomas Küttler zwischen Demonstranten und Staatsmacht blieb die Situation friedlich. In Plauen gelang das Unfassbare: Die Staatsmacht lenkte ein und signalisierte Gesprächsbereitschaft. Bürger, angeführt von Superintendent Küttler, formierten die „Gruppe der Zwanzig“, die zum Sprachrohr der neuen Bürgerbewegung im Vogtland wurde und schnell politische Forderungen stellte.

Mit dem Fall der Mauer im November 1989 strömten Tausende in den Westen. Im Vogtland wurde der Wunsch nach der Einheit Deutschlands besonders früh ausgedrückt: „Deutschland einig Vaterland“ war die zentrale Forderung auf den Demonstrationen in Plauen. Die Richtung war klar: So schnell wie möglich Westgeld, so schnell wie möglich deutsche Einheit. Die Euphorie auf ein besseres Leben überwog.

Transformation, wirtschaftlicher Bruch und neue Mauern
Ein Meilenstein auf dem Weg zur Einheit war die Währungsunion. Die Einführung der D-Mark führte dazu, dass die Läden über Nacht leer waren, da die Menschen Westgeld in der Hand hatten und einkaufen wollten. Die Wirtschaft der DDR musste sich 1990 völlig neu ausrichten. Doch einen volkswirtschaftlichen Gegenwert für die D-Mark gab es in der Ostwirtschaft noch nicht.

Für das Vogtland kam erschwerend der Einbruch eines gigantischen Industriezweigs hinzu. Die Textilindustrie, die Tausenden Arbeit gegeben hatte, wurde weitgehend abgebaut und liquidiert. Nur wenige Betriebe konnten sich am neuen Markt etablieren, darunter teilweise die Plauener Spitze, die jedoch weiterhin mit angespannten Marktbedingungen und Investitionsbedarf kämpft. Viele Betriebe waren durch 40 Jahre Planwirtschaft ausgebeutet. Der Einbruch der Industrie hinterließ Narben und Industrieruinen. Bis heute lebt im Plauen eine Generation, die seit der Wende nicht mehr gearbeitet hat.

Nach der Wiedervereinigung versprach die Politik „blühende Landschaften“, doch der Weg dorthin erwies sich als Herausforderung ohne Beispiel. Viele stellten es sich leichter vor. Ansiedlungen von Industrie, wie die Ansiedlung des Neoplan Omnibus GmbH Werks in Plauen als eine Erfolgsgeschichte, gab es zwar, doch oft blieben der Osten und das Vogtland in der Wahrnehmung vieler ein „Billiglohnland“ für die Wirtschaft im Westen. Infrastruktur und Bausubstanz, die 40 Jahre DDR-Regime hinterlassen hatten, waren teils stark sanierungsbedürftig. Private Investoren und Förderprogramme führten zu einem Sanierungsboom, doch ein Konzept ging nicht immer auf: Zehn Jahre nach dem Umbruch standen beispielsweise in Plauen 12.000 Wohnungen leer.

Gegenwart: Unzufriedenheit, Ostalgie und die Suche nach Freiheit
Auch 30 Jahre nach dem Umbruch existiert bei vielen eine Stimmung der Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit. Der Glaube an die neu errungene Demokratie gerät bei einigen ins Wanken. Es ist bis heute nicht gelungen, ein im Herzen geeintes Deutschland zu schaffen. Viele fühlen sich als Ostdeutsche benachteiligt und nicht genügend anerkannt. Es gibt immer noch ein Ost-West-Gefälle, auch in der Denkweise.

Besorgniserregend ist die Zunahme rechter Tendenzen und die Bereitschaft, rechtspopulistisch oder extrem zu wählen. Expertenthesen sehen einen Zusammenhang zwischen rechter Szene und der DDR-Vergangenheit. Laut Ines Geipel hat sich Deutschland mit der Geschichte einer doppelten Diktatur nicht ausreichend auseinandergesetzt. Sie meint, der Osten mache sich erneut zum politischen Opfer und lasse sich missbrauchen, indem er sehenden Auges in eine Art „totalen Einschluss“ oder „eigenen Käfig“ laufe – eine Inszenierung einer eingeschlossenen DDR-Geschichte. Aufarbeitung der Vergangenheit wird als Lösungsansatz gesehen, doch das bedeute, Vergangenes zu einem Teil von sich selbst zu machen, und diese Energie aus dem diktatorischen Sozialismus sei noch nicht aufgelöst. Solange man das nicht anschaue, bestehe die Gefahr, dass es über Generationen beigetragen werde.

Manche sehen heute im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat nicht selten nur noch das vermeintlich Gute und sagen „Es war nicht alles schlecht“. Dies birgt die Gefahr der Geschichtsklitterung und behindert den Weg, auf dem Westen und Osten zusammenfinden und das suchen, was verbindet. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, welches System hinter uns liegt und wofür 1989 gekämpft wurde: Freiheit und Demokratie. Die Verklärung der DDR durch Ostalgie vernebelt die Sicht auf das, was wirklich gequält hat. Steffen Kollwitz, der 1989 für freie Meinungsäußerung kämpfte, empfindet es als schmerzhaft, wenn heute behauptet wird, es gebe keine Meinungsfreiheit mehr und die Situation sei genauso schlimm wie früher – es sei kein Vergleich und man sollte aufhören, die heutige Zeit mit damals zu vergleichen.

Die Transformation ist ein Prozess, der Jahrzehnte braucht. Der Prozess ist schwierig und wird sich wohl noch hinziehen. Es ist ein riesiges Glückskapital, dass wir 1989 eine friedliche Revolution hatten und eine Demokratie errungen haben. Doch Demokratie ist kein Selbstläufer. Man muss sich engagieren, um zu verhindern, dass wir wieder in eine neue Diktatur rutschen. Es geht darum, die tiefsitzenden Mauern in uns selbst niederzureißen und unser Land als eines zu sehen.

Die jüngeren Generationen werden damit wohl kaum noch Probleme haben. Für diejenigen, die die Zeit erlebt haben, ist die Aufarbeitung, das bewusste Hinschauen auf die Vergangenheit, entscheidend. Wie Mario Goldstein feststellte, kann die Suche nach Freiheit und Glück heute auch bedeuten, nicht wegzulaufen, sondern im Hier und Jetzt nach innen zu gehen. Es ist ein Prozess, der Zeit kostet, aber notwendig ist, um die Mauern in uns selbst zu überwinden und wirklich frei zu sein.

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