Seit Wochen sorgt ein Satz von LINKEN-Co-Vorsitzender Heidi Reichinnek für Aufsehen: „Wir müssen den Kapitalismus stürzen und mit ihm die soziale Marktwirtschaft zugunsten eines echten Sozialismus überwinden.“ Zugleich fordert die AfD ein Parteiverbotsverfahren gegen die Linke – und löst damit erneut Debatten über Verfassungsfeindlichkeit und den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aus.
Reichinneks Auftritt und die mediale Debatte
Bei einer Diskussionsrunde am Morgen des 6. Mai erklärte Reichinnek, die etablierte Wirtschaftsordnung diene „nur den Konzernen und den Vermögenden“ und verhindere echte Gleichheit. Ihre Äußerung stieß umgehend auf scharfe Kritik – nicht nur aus den Reihen der Union und der Liberalen, sondern selbst innerhalb der LINKEN-Fraktion meldeten sich Abgeordnete zu Wort, die vor einer zu radikalen Rhetorik warnten.
Parallel nahm die AfD in mehreren Presseerklärungen und Tweets Bezug auf Reichinneks Forderung, um ihr eigenes Verlangen nach einem Verbotsverfahren zu untermauern. Die Partei beruft sich dabei auf Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz, wonach Parteien „nach Maßgabe der allgemeinen Gesetze verboten werden können, wenn sie … darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder beseitigen.“
Rechtsprofessor Böhme‑Nessler: Verfassungsschutz, Meinungsfreiheit, Parteiverbot
Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Volker Böhme‑Nessler (Universität Münster) nahm am Morgen live zugeschaltet zu Wort: Zwar sei die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung nicht wörtlich im Grundgesetz genannt, doch lasse sich ihr Gehalt klar aus Artikel 14 (Eigentumsgarantie), Artikel 12 (Berufsfreiheit) und Artikel 20 (Sozialstaatsprinzip) ableiten. Wer eine Rückkehr zum staatlich gelenkten DDR‑Sozialismus fordere, vertrete damit ein Ziel, das „nicht das System ist, welches das Grundgesetz vorsieht“.
Gleichzeitig betonte Böhme‑Nessler, die Meinungsfreiheit erlaubte grundsätzlich jede politische Forderung – auch radikale – „solange keine unmittelbare Gewaltdrohung damit verbunden ist“. Entscheidend sei jedoch die zu prüfende Frage, ob eine Partei in ihrem Programm tatsächlich auf die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung hinwirke. Ein solches Vorgehen könnte, so Böhme‑Nessler, ein Fall für den Verfassungsschutz sein. Ein Parteiverbot aber bleibe „das schärfste Mittel“ und müsse angesichts der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes (Artikel 79 Absatz 3) sehr zurückhaltend angewandt werden.
Verfassungsschutz oder Wählerentscheid?
In den vergangenen Jahren hat Deutschland nur zweimal ein Parteiverbot erlebt – bei der SRP 1952 und bei der KPD 1956. Die hohen Hürden sind bewusst so gelegt, um den politischen Wettbewerb nicht zu stark durch staatliche Eingriffe zu beschneiden. Böhme‑Nessler erklärte: „Die eigentliche Macht liegt bei den Wählerinnen und Wählern. Wer für ein anderes System wirbt, kann auf diesem Wege zur Wahlurne gestellt und abgewählt werden.“
Linke Parlamentarier und Bündnispartner äußerten sich zurückhaltend. Fraktionschef Jan Korte verurteilte einerseits jede Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes für „tagespolitische Stimmungsmache“, kritisierte aber gleichzeitig die Zuspitzung auf „DDR‑Nostalgie“. Die Koalitionspartner SPD und Grüne erklärten, sie sähen momentan keine verfassungsrechtliche Grundlage für ein Verbotsverfahren gegen DIE LINKE, verlangten aber eine klare Distanzierung von anti-demokratischen Zielen.
Demokratische Auseinandersetzung bleibt Schlüssel
Die Kontroverse um Reichinneks Forderung, verbunden mit der AfD-Initiative, hat erneut gezeigt, wie sensibel das Zusammenspiel von Parteiprogrammen, Meinungsfreiheit und Verfassungsordnung ist. Ein Verbotsverfahren bleibt nach jetziger Einschätzung unwahrscheinlich. Dennoch müsste die Linke – insbesondere ihre Basis und ihr Parteivorstand – nach Ansicht vieler Experten deutlich machen, ob und wie sie ihr Wirtschaftsprogramm mit dem Grundgesetz vereinbaren will.
Für den Sommer kündigen mehrere Landesverbände Diskussionsrunden an, in denen die Frage „Kapitalismus abschaffen – ja oder nein?“ offen verhandelt werden soll. Die demokratische Öffentlichkeit wird genau hinsehen, ob die LINKE hier mehr klärende Differenzierung bietet – oder ob die Debatte um ihre Ziele ihre Glaubwürdigkeit auf lange Sicht schädigt.