Sieben Jahrzehnte staatlicher Lenkung und Mangelwirtschaft haben in der russischen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen – nicht nur in den Betonruinen verlassener Fabriken, sondern vor allem im Kopf der Menschen. Die katastrophale Transformation in den 1990er Jahren, als Voucher statt Lohn in Umlauf kamen, formte heute noch geltende ökonomische Grundüberzeugungen.
Als unter Boris Jelzin tausende Staatsbetriebe „privatisiert“ wurden, erhielten Millionen Russen Gutscheine, mit denen sie Anteile an ehemals volkseigenen Unternehmen erwerben sollten. Doch keiner wusste, was Aktien wirklich sind. Viele Verkäufer schnitten an der Börse ebenso schlecht ab wie an den übervollen Läden, in denen plötzlich Konsumgüter lagen, die sich niemand leisten konnte. Wer immer schon Zugang zu Macht und Pistole hatte, kaufte jene Papiere billig auf – die Geburtsstunde der Oligarchen.
„Der Kapitalismus wurde in Russland als Jagd nach schnellem Profit wahrgenommen, nicht als langfristige Partnerschaft zwischen Staat, Unternehmen und Bürgern“, erklärt Dr. Natalia Sokolova, Expertin für Post‑Sowjetische Transformation. „Rechtsstaatlichkeit, Vertragsbindung oder faire Wettbewerbsregeln – all das galt schnell als Korruption oder Show.“
Seitdem prägt ein tiefes Misstrauen jede Reformdebatte. Vorschläge für wirtschaftliche Öffnung werden reflexhaft abgelehnt, Nostalgie für den „klaren Plan“ der Sowjetzeit wächst. Selbst moderate Marktinstrumente, etwa mehr Wettbewerb im Energiesektor, stoßen auf Skepsis: Wer Reform sagt, muss im russischen Ohr sofort an Massenarbeitslosigkeit und leergefegte Regale denken.
An der Moskauer Universität für Volkswirtschaft berichtet Professor Jurij Petrow: „Studenten haben oft keinerlei Vorstellung, warum ein funktionierender Rechtsrahmen essenziell für Wachstum ist. Sie sehen den Staat als lästige Behörde – etwas, das man umgeht, statt mit ihm zu arbeiten.“
Die Konsequenz: Fehlende Investitionen, lähmende Bürokratie und Korruption bleiben allgegenwärtig. Internationale Firmen tun sich schwer, weil sie nicht darauf vertrauen, bei Streitigkeiten fair behandelt zu werden. Kleinunternehmer weichen deshalb ins Graubereich‑Geschäft aus – mit Schmiergeldern statt offenen Verträgen.
Trotz aller Rückschläge bleibt der Blick nach Westen für viele Russen ambivalent: Der Traum von Wohlstand, Luxusautos und vollen Supermarktregalen besteht weiter. Doch die Lehre aus den Voucher‑Jahren ist unmissverständlich: Wer ökonomische Freiheit will, muss zuerst die Grundlagen – Rechtsstaat, Transparenz und Vertrauen – neu verhandeln. Ohne diese bleibt der russische Markt ein grauer Raum voller Chancen für wenige – und düstere Erinnerungen für die vielen.