Reportage aus den 90er-Jahren: Ostkreuz – Ein Berliner Quartier im steten Wandel

Knapp hundert Jahre nach seiner Umbenennung hat sich der Bahnhof Ostkreuz längst zum größten Verkehrsknoten Berlins entwickelt: An einem durchschnittlichen Werktag steigen hier mehr als 100.000 Fahrgäste um, 1.517 Züge halten an seinen vier Bahnsteigen und verknüpfen acht von zehn S‑Bahn-Linien vom Stadtrand bis ins Zentrum. Doch Ostkreuz ist weit mehr als eine verkehrstechnische Schaltstelle – es ist das Herzstück eines Quartiers, das seine Industrie­vergangenheit, soziale Brüche und Aufbruchs­stimmung in jedem Pflasterstein trägt.

Vom Strahler-Rummelsburg zur S‑Bahn-Drehscheibe
Alles beginnt 1842 mit der Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke nach Frankfurt (Oder), die das spätere Ostkreuz durch die Königliche Ostbahn mit der Garnisonsstadt Küstrin verband. Bereits 1871 folgte die Anbindung an die Ringbahn. Die kleine Station „Strahler-Rummelsburg“ wuchs bis 1903 auf sechs Bahnsteige an – ein Labyrinth, das bis zur Jahrtausendwende viele Reisende noch orientierungslos ließ. Seit 1933 firmiert der Bahnhof als „Ostkreuz“; ein Ausbau auf nur vier Plattformen ab 1970 dämpfte jedoch nicht seine Bedeutung: Heute ist Ostkreuz das pulsierende Drehkreuz der östlichen Bezirke und eine wichtige Brücke zwischen Innenstadt und Peripherie.

Zwingen, Ziegel, Zement: Industriegeschichte und Arbeiterwohnen
Rund um das Ostkreuz zeugen unübersehbare Relikte von vergangener Schwerindustrie: Auf dem Gelände der ehemaligen Knorrbremse-Fabrik entstanden ab 1890 nach Plänen von U‑Bahn-Architekt Alfred Grenander repräsentative Produktions‑ und Verwaltungsbauten. Hier wurden die Druckluftbremsen gefertigt, die Georg Knorr revolutionär entwickelt hatte. Nach 1945 als Volkseigentum weitergeführt, gehörten Qualitäts­mängel bei Bremszylindern zu den ungelösten Problemen der DDR-Industrie. Heute beherbergen die sanierten Hallen einen modernen Bürokomplex für rund 5.000 Mitarbeiter, während die Produktion längst ins entstehende Gewerbegebiet Marzahn verlagert wurde.

Parallel dazu wuchs ab 1872 die Viktoriastadt – benannt nach der britischen Königin – als Arbeiterwohnsiedlung: Portweinrote Schlacken­beton‑Häuser sollten schnell und kostengünstig entstehen, erwiesen sich aber durch feuchtes Mikroklima und enge Grundrisse als unpraktisch und weitgehend unbeliebt. Noch heute enden viele Straßen wie Zubringer am Bahndamm, ein Sinnbild für die einstige Ausgrenzung der weniger Begüterten. In direkter Nachbarschaft entstand das Arbeitshaus am Rummelsburger See, das Waisen und „soziale Problemfälle“ aufzunehmen hatte und bis zu seiner Schließung 1992 Teil einer der größten Gefängnis­anlagen Berlins war.

Kirche, Jugendarbeit und soziale Schieflagen
Den sozialen Brennpunkt lenkten im Kaiserreich Einrichtungen der Diakonie: Ab 1890 errichtete man unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Auguste Victoria die neugotische Rummelsburger Erlöserkirche samt dazugehörigem Gemeinde‑ und Krankenhaus­komplex. Bis heute ist das Diakonische Jugendwerk aktiv und betreut gefährdete Jugendliche im Kiez. Denn die Abwanderung industrieller Arbeitsplätze nach der Wende ließ Einkommen im Viertel weit unter den Berliner Durchschnitt sinken. Gezielte Sanierungs‑ und Mietpreis­bindungs­programme sollen bezahlbaren Wohnraum sichern, doch Handel und Kultur­räume bleiben rar.

Zwischen Schrotkugelturm und Puppentheater: Kulturelle Inseln
Denkmalgeschützte Bauten bewahren den industriellen Charme: Der Schrotkugelturm, in dem einst flüssiges Blei zu Jagdmunition geformt wurde, ragt noch heute am Rande des Viertels empor. Die Marktstraße erinnert an den historischen Gänsemarkt, und der einstige „Gänsebahnhof“ war lange ein alternativer Name für Ostkreuz. In den letzten Jahren entstehen kleine kulturelle Leuchttürme: Zwei Puppenspieler eröffneten das Puppentheater Ostkreuz – für sie war die Nähe zum Bahnhof und erschwingliche Mieten entscheidend. Eine restaurierte Kutschenremise aus dem Jahr 1893 an der Boxhagener Straße beherbergt heute eine Antiquitätengalerie.

Vom Rostkreuz zur grünen Bucht
Während entlang der Boxhagener Straße Sanierungs­anstrengungen gerade erst sichtbar werden, erlebt die Rummelsburger Bucht eine Verwandlung: Wo einst Industrieabwässer den See belasteten, lassen neu angelegte Uferpromenaden und Wasserlagen-Gärten grünes Leben zu. Alte Glasmanufaktur‑Gebäude und Fabrikschornsteine bleiben als Denkmäler erhalten und verleihen dem Quartier seine markante Skyline.

Kiezkultur zwischen Kneipenmeile und Genossenschaftswohnen
Simon-Dach-Straße und Boxhagener Platz sind Magneten für Nachtschwärmer und Wochenmarkt-Besucher. Das Studio Otto Nagel dient als Begegnungsort für Hobbykünstler, und kleine Kneipen locken ein bunt gemischtes Publikum. Im Helenenhof, einer 1906 entstandenen Wohnanlage für kinderreiche Beamtenfamilien, sichert ein Wohnungsverein günstige Mieten – heute an Genossen­schaftsmitglieder vergeben, unabhängig vom früheren Beamten­status.

Ostkreuz bleibt ein Ort der Kontraste: Industrie trifft auf Kultur, Sanierungs­gebiete auf Kleingewerbe, sozialer Förderbedarf auf kreative Aufbruchsstimmung. Zwischen historischen Relikten und modernen Visionen schlägt das Herz des Viertels weiter – unübersehbar und unerschöpflich im Wandel.

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