Im Sommer 1975 brach eine Familie aus dem Vogtland zu ihrem längst traditionellen Kurzurlaub auf die Insel Rügen auf. Ziel war Gager, ein kleiner Ort auf der Halbinsel Mönchgut, der in der DDR vor allem für seinen weitläufigen Campingplatz bekannt war. Dort, zwischen schilfbewachsenen Boddenbuchten und den steilen Kreideklippen des Mönchguts, verbrachten die Urlauber eine Woche in einem Bauwagen – Bungalows waren damals Luxus.
Schon die Anreise mit einem surrenden Skoda und dem obligatorischen „Wartbusch“ – eine spielerische Verballhornung des Trabant-Namens – stimmte auf eine Zeitreise in den DDR-Urlaubsalltag ein. Am Campingplatz angekommen, suchte man sich zwischen Reihen bunt bemalter Bauwagen die Nummer 578 aus, hinter der sich ein einfacher, aber gepflegter Strandkorb verbarg. Ein kleiner Schneemann aus feuchtem Sand – inoffiziell „Zensur-Schneemann“ genannt – verdeckte die kühne Pose einer Fotografie, die weder von Groß noch Klein geduldet wurde.
Das Inselleben bestand aus wenig mehr als plaudernden Nachbarn, Spaziergängen am endlos weiten Strand und dem Sammeln kleiner Schätze: Federballschläger, verlassene Spielzeuge, versteckte Fahrräder und ein selbstgebautes Geschicklichkeitsspiel namens „Ruckzuck“ – eine Art Rugbyball an zwei zehn Meter langen Zügen, das zum Gedächtnistraining und Schulterschwung-Contest diente. Ostseegänger wagten sich trotz Quallen und kühler Winde ins Wasser; mittags, wenn die Sonne höher stieg, luden warmere Fluten zum Baden ein.
Nur wenige Kilometer entfernt warteten nachmittags Ausflugsziele wie das Bauernmuseum in Göhren, wo akribisch restaurierte Fachwerkhäuser einen Einblick in ländliches Leben gaben. In Sellin ließ die Seebrücke Erinnerungen an mondäne Kurorte wach werden: einst prunkvoll mit Louis Café und Filmaufnahmen, nun ein stiller Zeuge vergangener Ostseepracht.
Im Yachthafen von Gager, kaum berührt von westdeutschem Yachtboom, lagen leise brummende Zweitakter unter segelnden Traditionsschiffen. Mit dem Gummiboot saß der Familienvater auf der Kiste, bereit zum Fischen, während der Sinn für Idylle und Bescheidenheit herrschte. Kaum jemand ahnte, dass nur wenige Jahre später die großen politischen Umwälzungen die DDR-Urlaubsorte verändern würden.
Als die Vogtland-Familie nach einer Woche die Rückreise ins Bergland antrat, hinterließ sie Spuren in vergilbten Dias und verblassten Erinnerungen. Gager 1975/76 steht heute stellvertretend für die genussvolle Einfachheit, die viele Ostdeutsche im Urlaub suchten: ein Bauwagen am Bodden, laue Sommerabende, improvisierte Spiele und das Gefühl, auch mit wenig viel erleben zu können. Diese Episode erzählt von einer Zeit, in der ein kurzer Trip ans Meer eine besondere Form von Freiheit bedeutete.