Zwickau. Kaum eine Geschichte des ostdeutschen Automobilbaus steht so sinnbildlich für den Wandel nach 1990 wie die des VEB Sachsenring. Wo einst die legendären Trabant-Karossen vom Band liefen, entstand binnen weniger Jahre ein moderner Zulieferer, der am Neuen Markt notiert war und mit innovativen Konzepten glänzte.
Tradition als Fundament
Die Wurzeln reichen zurück bis 1904, als August Horsch in Zwickau das erste Automobilwerk gründete. Später etablierten sich unter dem Namen Auto Union und den berühmten Vierringen Rennsportlegenden wie Hans Stuck und Bernd Rosemeyer. Nach dem Zweiten Weltkrieg fusionierten die verbliebenen Anlagen zum VEB Sachsenring, wo ab 1958 der Trabant vom Band lief und aufgrund der Planwirtschaft eine bemerkenswerte Fertigungstiefe entstand: Karosserien, Motoren und viele Einzelkomponenten wurden im Haus selbst entwickelt und produziert. Dieses Know-how sollte sich nach der Wiedervereinigung als entscheidender Wettbewerbsvorteil erweisen.
Privatisierung und Neuanfang
1992 erfolgte der erste Schritt: Die Entwicklungsabteilung des VEB wurde als FES GmbH Fahrzeugentwicklung Sachsen privatisiert. Nur ein Jahr später verkauften die Treuhand und das Land Sachsen das gesamte Werk mitsamt aller Namensrechte an die Gebrüder Rittinghaus aus Hemer. Unter dem Label Sachsenring Automobiltechnik GmbH begann das Unternehmen, sich als Zulieferer für große westdeutsche Konzerne zu positionieren.
Bereits 1996 kam es zur Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Ein Jahr darauf stand Sachsenring an der Spitze der New-Economy-Welle: Die AG wurde 1997 am Neuen Markt notiert und zog damit internationales Interesse auf sich.
Der Uni1 – Vision eines umweltfreundlichen Flitzers
Ende 1996 präsentierte Sachsenring mit dem Uni1 einen Prototyp, der bis heute Beachtung findet: Ein Leichtbaufahrzeug mit Aluminiumrahmen und kombiniertem Elektro-Diesel-Antrieb. Behörden, Taxi- und Mietwagenflotten sollten hier bedient werden. Doch trotz vielversprechender Technik blieb es beim Einzelstück – der Markt war noch nicht reif für ein solches Hybridkonzept.
Vier Proficenter: Die Struktur von morgen
Die Kunst des Zwickauer Traditionsbetriebs lag fortan darin, die einstige Fertigungstiefe systematisch in Geschäftsfelder zu gliedern. Aus dem „Kombinat in Klein“ entstanden vier eigenständige Proficenter:
Fahrzeugtechnik
– Lohnfertigung von Karosserien (u. a. für die Volkswagen AG)
– Motorenmontage, aktuell Wasserboxer-Motoren für den VW Transporter T3 Synchro im Auftrag von Steyr Daimler Puch
– Sonderfahrzeugbau und präzise Endmontage
Produktionstechnik
– Planung und Bau von Fertigungsanlagen, Schweiß- und Montagevorrichtungen
– Großprojekte für Audi in Ingolstadt, Montageeinrichtungen für Volkswagen in Mosel
Ingenieurbüro für Gebäude- und Infrastrukturplanung
– Konzeption, Umsetzung und späterer Service großer Industrie-Bauvorhaben
Ersatzteile- und Zubehörvertrieb
– Logistiklösungen für Just-in-Time-Lieferungen
– Großes Portfolio an Ersatzteilen für alle gängigen Fahrzeugtypen
Alle Bereiche sind durch ein Computer-gestütztes Logistiksystem verbunden, ergänzt durch modern ausgestattete Labore für Material- und Korrosionsprüfungen sowie einen hochpräzisen Feinmessraum.
Erfolg und spätere Herausforderungen
Bis zur Jahrtausendwende galt Sachsenring als Aushängeschild für den strukturellen Wandel in Ostdeutschland. Mehr als 1.500 Mitarbeiter standen für Flexibilität und Know-how. Doch mit dem Ende des Neuen Markts und einer zunehmend globalisierten Zulieferlandschaft geriet auch das Zwickauer Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten. 2002 musste die AG Insolvenz anmelden – ein abruptes Ende für die große Vision.
Heute beleuchten Historiker und Wirtschaftsforscher den Aufstieg und Fall von Sachsenring als Lehrstück: Wie aus einem sozialistischen Kombinat ein moderner Zulieferbetrieb werden wollte – und warum die rasante Privatisierungs- und Börsenstrategie letztlich an den Realitäten des Weltmarkts scheiterte. Der Name Sachsenring jedoch lebt weiter, nicht nur in den Erinnerung an Trabant-Ära, sondern auch als Symbol für den Mut und die Innovationskraft einer Region im Umbruch.