Flug ins Blaue nach Kassel – Eine verschollene Sensation aus Erfurt

Im Filmarchiv des Stadtarchivs Erfurt schlummert ein wahres Juwel der frühen deutschen Luftfahrt- und Filmgeschichte: Der 1933 gedrehte Stummfilm „Flug ins Blaue nach Kassel“ dokumentiert den Betrieb des ehemaligen Flughafens Erfurt-Nord, besser bekannt als „Roter Berg“, und gewährt seltene Einblicke in die Pionierzeit des zivilen Luftverkehrs.

Ein Ausflug in die Anfänge des Luftverkehrs
Nur wenige Streifen aus der Frühzeit der Fliegerei haben bis heute überlebt – umso erstaunlicher, dass gerade ein regionales Studiounternehmen den Mut zur filmischen Dokumentation fand. Regisseur Erich Lustermann setzte gemeinsam mit Dr. Ernst Thost, dessen betriebswirtschaftliche Studie zur Flugsicherung die Grundlage lieferte, die Start- und Landemanöver einer Junkers F 13 in Szene. Dieses Ganzmetall-Verkehrsflugzeug, 1919 erstmals vorgestellt, steht symbolisch für den Aufbruch in eine neue Zeit, in der das Fliegen zunehmend für Passagiere erreichbar wurde.

Harte Arbeit hinter der Filmkulisse
Die Entstehung des Films erfolgte unter technischen und finanziellen Begrenzungen: Die Aufnahmen am „Roten Berg“ – einer zwischen Feld und Forst gelegenen Grasbahn – erforderten präzise Koordination zwischen Flugkapitän, Bodencrew und Kameramann. Walter Lustermann, Sohn des Regisseurs und zugleich Vorführer des Streifens, erinnert sich in einem Brief aus den 1980er Jahren: „Wir hatten weder Schienen noch Motorsteuerung für die Kamera – alles war Handarbeit. Der enge Zeitplan zwang uns, Start und Landung in wenigen Takes einzufangen.“

Gefahr im Dunkeln: Das kleinste Kino der DDR
Nach Fertigstellung wanderte die Filmrolle ins Archiv des Filmstudios Lustermann Erfurt, wo sie im „kleinsten Kino der DDR“ in der Gartenstraße (später Grafengasse) zu besonderen Anlässen gezeigt wurde. Zwischen knatterndem Projektor und flackernder Nitrolampe stand stets ein Eimer Wasser bereit. Einmal mehr wurde so das Risiko greifbar, das jede Projektion barg: Ein Funke genügte, und die leicht entflammbaren Zelluloidstreifen entzündeten sich. Besucher aber nahmen davon kaum Notiz – sie lauschten den live vorgetragenen Kommentaren des Regisseurs und genossen den Kurztrip ins Blaue.

Vom Verschwinden und Wiederauffinden
Nach der Auflösung des Studios geriet der Film in Vergessenheit, bis er 2015 seinen Weg ins Stadtarchiv Erfurt fand. Archivleiterin Dr. Marianne Köhler beschreibt die Wiederentdeckung als Glücksfall: „Wir rechneten nicht damit, originalen Filmmaterial aus den 1930er Jahren zu erhalten – schon gar nicht aus regionaler Produktion. Die Bildqualität ist überraschend gut, und jede Sequenz erzählt eine Geschichte.“

Offene Fragen und Forschungsbedarf
Trotz intensiver Recherchen bleiben zentrale Fragen unbeantwortet: Wer war der ursprüngliche Auftraggeber? Diente der Film primär der betrieblichen Schulung im Luftverkehr oder hatte er propagandistische Ziele? Auch Dr. Thosts Manuskript ist bislang nicht aufgetaucht. Historiker und Luftfahrtexperten sehen in der Filmrolle daher nicht nur ein technikgeschichtliches Dokument, sondern auch einen Anstoß, die Entwicklung der Flugsicherung und die Rolle regionaler Unternehmen im Dritten Reich neu zu beleuchten.

Ein Schatz für die Zukunft
Das Stadtarchiv plant, den Film zu digitalisieren und im Rahmen einer Sonderausstellung zu präsentieren. Ergänzt durch zeitgenössische Fotografien, technische Zeichnungen der Junkers F 13 und Augenzeugenberichte könnte „Flug ins Blaue nach Kassel“ bald einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. So erhält das Vermächtnis der Lustermänner – Erich, Walter und ihr Studioteam – eine verdiente Würdigung: als Brücke zwischen Pionierzeit und Moderne, zwischen regionaler Erinnerung und überregionaler Luftfahrtgeschichte.



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